Innungen

[852] Innungen (ursprünglich »Einungen«), allgemeine Bezeichnung für Gilden und Zünfte, dann für die im 19. Jahrh. nach Einführung der Gewerbefreiheit fortbestehenden oder neugebildeten freien Korporationen von Angehörigen gleicher (Fach-I.) oder verwandter (gemischte I.) Gewerbe zur Förderung gemeinsamer gewerblicher Interessen. In Preußen ließ die Gesetzgebung von 1810 und 1811, welche die Gewerbefreiheit einführte, die Zünfte als freie I. bestehen. Nach der Gewerbeordnung von 1845 mußten die Statuten derselben revidiert und den Vorschriften der § 101–117 angepaßt werden. Das Gesetz regelte näher die Organisation und Rechte neuer I. und unterschied hierbei solche, die den Befähigungsnachweis für ihre Mitglieder zu fordern hatten, und I., für deren Mitglieder dieser Nachweis nicht obligatorisch war. Jene I. erlangten durch die Bestätigung ihrer Statuten die Rechte einer Korporation. Sie sollten die gemeinsamen gewerblichen Interessen fördern, insbes. die Aufnahme, Ausbildung und das Betragen der Lehrlinge, Gesellen oder Gehilfen der Innungsgenossen beaufsichtigen, die Verwaltung der Kranken-, Sterbe-, Hilfs- und Sparkassen der Innungsgenossen leiten und für die Witwen und Waisen derselben Fürsorge treffen. Ein Beitrittszwang bestand nicht, aber in einer großen Zahl von Gewerben wurde die Befugnis, Lehrlinge zu halten, davon abhängig gemacht, daß die Gewerbtreibenden entweder in eine Innung nach vorgängigem Beweis der Befähigung zum Betrieb des Gewerbes aufgenommen waren, oder diese Befähigung besonders nachgewiesen hatten. Die Verordnung vom 9. Febr. 1849 (s. Gewerbegesetzgebung, S. 787), die formell bis 1868 in Kraft blieb, machte den selbständigen handwerksmäßigen Gewerbebetrieb bei einer sehr großen Zahl von Gewerben (§ 23) abhängig von der Mitgliedschaft einer Innung nach vorgängigem Befähigungsnachweis oder von dem Nachweis der Befähigung vor einer Prüfungskommission. Die I. wurden noch dadurch bevorzugt, daß durch Ortsstatuten Aufnahme und Entlassung aller Lehrlinge, sobald für das Gewerbe am Ort eine Innung bestand, vor diese gewiesen und derselben eine Mitwirkung bei der Aussicht über die Ausbildung und das Betragen selbst derjenigen Lehrlinge, deren Lehrherren nicht zur Innung gehörten, eingeräumt werden konnte. In andern deutschen Staaten wurden bei Einführung der Gewerbefreiheit die alten Zünfte aufgehoben, die etwaige Neubildung gewerblicher Vereinigungen aber wurde ganz der freien Assoziation überlassen und dem gewöhnlichen Vereinsrecht unterstellt, so in Württemberg und Baden 1862, ferner in Bayern 1848, nachdem man hier 1825 und 1862 mit geringem Erfolg staatlich organisierte Zwangsverbände an die Stelle der alten Zünfte gesetzt hatte (doch wurden diese durch Gesetz vom 30. Jan. 1868 als aufgehoben erklärt). In einer Reihe von norddeutschen Staaten (z. B. in Oldenburg, Bremen, Hamburg, Lübeck) wurde den Zünften die Wahl gelassen, sich aufzulösen und ihr Vermögen zu teilen oder als freie I. fortzubestehen, die Neubildung aber der freien Assoziation überlassen. In einigen andern (Sachsen, Braunschweig, einzelnen thüringischen Staaten) wurden die alten Korporationen als öffentliche I. mit bestimmten gewerblichen Befugnissen erhalten, die Neubildung ähnlicher unter staatliche Oberaufsicht gestellt.

Die deutsche Gewerbeordnung von 1869 ließ alle gesetzlich bestehenden Korporationen von Gewerbtreibenden (I., Zünfte) als freie I. fortbestehen, ließ auch ihre Statuten, soweit sie nicht der Gewerbeordnung widersprachen, in Kraft, regelte aber in freiheitlicher Weise den Ein- und Austritt der Mitglieder und begünstigte die Auflösung. Sie regelte ferner die Bildung neuer I., gewährte diesen aber nur die Eigenschaft privatrechtlicher Vereine. Da die Bestimmungen sich als völlig ungenügend erwiesen und die I., die noch aus früherer Zeit zahlreich sich erhalten hatten (in Preußen z. B. über 6000), zur Förderung des Gewerbewesens wenig leisteten, suchte das Innungsgesetz vom 18. Juli 1881 durch eine neue Regelung der I., durch eine Umgestaltung ihres Charakters und Erweiterung ihrer Rechte und Befugnisse, insbes. auch durch Bestimmungen, die eine Art indirekten Beitrittszwanges bezweckten, einen bessern Zustand des Innungswesens herbeizuführen. Wesentliche Änderungen brachte die Novelle vom 26. Juli 1897. Nach heutigem Rechte (Gewerbeordnung in der Fassung vom 26. Juli 1900, § 81 ff.) sind die I. öffentlich-rechtliche Korporationen von selbständigen Gewerbtreibenden zur Förderung der gemeinsamen gewerblichen Interessen. Das Gesetz gestattet die Mitgliedschaft auch Personen, die in einem Gewerbe, für das die Innung errichtet ist, angehörenden Großbetriebe als Werkmeister oder in ähnlicher Stellung beschäftigt sind oder beschäftigt waren, diese Tätigkeit aber aufgegeben haben und eine andre gewerbliche Tätigkeit nicht ausüben, unter derselben Voraussetzung früherer selbständiger Gewerbtreibenden, ferner den landwirtschaftlichen oder gewerblichen Betrieben gegen Entgelt beschäftigten Handwerkern sowie die Ehrenmitgliedschaft andrer Personen. Aufgabe der I. ist: 1) Pflege des Gemeingeistes sowie die Aufrechterhaltung und Stärkung der Standesehre unter den Innungsmitgliedern; 2) die Förderung eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen Meistern und Gesellen sowie die Fürsorge für das Herbergswesen und den Arbeitsnachweis; 3) die nähere Regelung[852] des Lehrlingswesens und der Fürsorge für die technische, gewerbliche und sittliche Ausbildung der Lehrlinge; 4) Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Innungsmitgliedern und ihren Lehrlingen. Doch sind die I. auch befugt, ihre Wirksamkeit noch auf andre, den Innungsmitgliedern gemeinsame gewerbliche Interessen auszudehnen, wie Errichtung von Fachschulen für Lehrlinge, Förderung der gewerblichen Ausbildung der Meister und Gesellen, Veranstaltung von Gesellen- und Meisterprüfungen, Ausstellung von Prüfungszeugnissen, Einrichtung gemeinschaftlicher Geschäftsbetriebe (also, da für alle Verbindlichkeiten der Innung nur das Innungsvermögen haftet, ohne gewöhnliche Haftung der Mitglieder), Errichtung von Hilfskassen für Meister und Gesellen, Lehrlinge und Arbeiter, Errichtung von Schiedsgerichten zur Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Innungsmitgliedern und ihren Gesellen und Arbeitern an Stelle der sonst zuständigen Behörden. Die I. stehen unter Aussicht der Gemeindebehörde, ihre Statuten bedürfen der Genehmigung durch die höhere Verwaltungsbehörde. Sie genießen die Rechte einer juristischen Person, die von ihnen statutarisch angelegten Beiträge und verhängten Ordnungsstrafen können wie Gemeindeabgaben zwangsweise eingezogen werden. Ihre Entscheidungen über Streitigkeiten der Mitglieder mit ihren Gesellen und Lehrlingen sind vorläufig vollstreckbar. Sie sind öffentlichrechtliche, nicht privatrechtliche Korporationen. Gewerbtreibende, die den gesetzlichen oder statutarischen Anforderungen entsprechen, müssen aufgenommen werden (Prinzip der Expansion). Dagegen sind eine Reihe von Privilegien, die ihnen das bisherige Recht eingeräumt hatte (z. B. die Befugnis der höhern Verwaltungsbehörde, Nichtmitgliedern das Halten von Lehrlingen zu verbieten, Nichtmitglieder zu den Kosten der Innungseinrichtungen heranzuziehen, die Gerichtsbarkeit der Innungsschiedsgerichte auf Nichtmitglieder auszudehnen), durch die Novelle vom 26. Juli 1897 gefallen. Dieser indirekte Beitrittszwang war überlebt, seitdem die Möglichkeit der Zwangsinnungen geschaffen war. Hervorzuheben ist jedoch der Einfluß, der den I. auf den Abschluß des Lehrlingsvertrags eingeräumt ist. (Vgl. Gewerbeordnung, § 129 b, 130 a ff.) Die von den Innungsmitgliedern beschäftigten Gesellen nehmen in beschränktem Maß an der Erfüllung der Aufgaben der I. und ihrer Verwaltung teil, soweit dies durch Gesetz oder Statut bestimmt ist. Sie wählen zu diesem Zweck einen Gesellenausschuß. Kraft Gesetzes ist dessen Beteiligung vorgeschrieben bei der Regelung des Lehrlingswesens und bei der Gesellenprüfung sowie bei Begründung und Verwaltung aller Einrichtungen, für welche die Gesellen Beiträge leisten, oder die zu ihrer Unterstützung bestimmt sind.

Die wichtigste Neuerung der Novelle vom 26. Juli war die Einführung der fakultativen Zwangsinnung. Die großen Hoffnungen, die man auf die Neubelebung des Innungswesens durch die Novelle von 1881 gesetzt hatte, hatten sich nicht erfüllt; man glaubte das Heilmittel für die Gebrechen des Handwerks in einer noch festern Organisation des Handwerks zu finden; die Novelle vom 26. Juli 1897 erfüllt zwar den vielfach vertretenen Wunsch nach Wiedereinführung des mittelalterlichen Zunftzwanges nicht, sah auch von einer direkten Einführung der Zwangsinnungen durch das Gesetz ab, stellte diese vielmehr in das Ermessen der Interessenten. Auf Antrag Beteiligter kann die höhere Verwaltungsbehörde, falls die Mehrheit der beteiligten Gewerbtreibenden zustimmt, verfügen, daß sämtliche Gewerbtreibende desselben oder verwandter Handwerke in einem bestimmten Bezirk einer neu zu bildenden Innung anzugehören haben (fakultative Zwangsinnung). Ist eine solche gebildet, so hört die für dasselbe Gewerbe bestehende Innung auf, ihr Vermögen geht kraft Gesetzes auf die Zwangsinnung über.

Höhere Verbände auf dem Gebiete des Innungswesens bestehen in Gestalt des Innungsausschusses (eines gewählten Organs zur Vertretung der gemeinsamen Interessen mehrerer derselben Aufsichtsbehörde unterstellten I., dem die Landeszentralbehörde juristische Persönlichkeit verleihen kann), und des Innungsverbandes, d. h. einer öffentlichen Korporation, die aus den I. verschiedener Aufsichtsbezirke gebildet wird. Dieser größere Verband ist schon durch seine reichern Mittel besser in der Lage, gemeinsame Einrichtungen, wie z. B. Fachschulen, zu organisieren, als die einzelnen I. und besitzt auch die größere Autorität, um einer geplanten einheitlichen Regelung, z. B. des Lehrlingswesens oder des Arbeitsnachweises, Anerkennung zu verschaffen.

Ob diese Neuregelung des Innungswesens im Bunde mit andern durch die Novelle von 1897 getroffenen gesetzgeberischen Maßnahmen für das Handwerk, z. B. Einführung von Handwerkerkammern, Regelung des Lehrlingswesens, Einschränkung der Berechtigung zur Führung des Meistertitels, den erwünschten Aufschwung des Handwerks herbeiführen werden, ist recht zweifelhaft. In Handwerkerkreisen hegt man schon jetzt weitergehende Wünsche: obligatorische Innungsverbände, Innungskammern, Reichsinnungsamt, Befähigungsnachweis etc. Über deren Wert sind die Meinungen selbst in Interessentenkreisen nicht ungeteilt.

In Österreich hat die Gewerbeordnung von 1859 einen Versuch gemacht, unter dem Namen »Genossenschaften« (Gewerbegenossenschaften) Zwangsinnungen durchzuführen als örtliche Vereinigung gleicher oder verwandter Gewerbe, denen jeder, der in dem Bezirk eines solchen Verbandes das betreffende Gewerbe betrieb, als Mitglied angehörte. Die Novelle vom 15. März 1883 traf unter Beibehaltung des Beitrittszwanges eine neue Regelung, indem sie den Genossenschaften einerseits eine größere Ausdehnung gab, anderseits sie auf Gewerbsunternehmungen, die nicht fabrikmäßig betrieben werden, beschränkte. Vereinigungen verschiedener Gewerbe auch eines größern Bezirks sind zugelassen. Der Wirkungskreis der I. ist erweitert (Sorge für ein geordnetes Lehrlingswesen, Gründung von Fachlehranstalten, Bildung von schiedsgerichtlichen Ausschüssen zur Austragung der Streitigkeiten zwischen den Genossenschaftsmitgliedern und ihren Hilfsarbeitern), die Organisation geändert (neben der Genossenschaftsversammlung und der Genossenschaftsvorstehung besteht auch eine Gehilfenversammlung), das Krankenkassenwesen der I. neu geregelt etc. Vor 1883 bestanden 2876 Genossenschaften, davon viele als Überreste alter I., 1891 deren 5113, darunter 722 Fachgenossenschaften (für einzelne Gewerbe), 2252 für Gruppen verwandter Gewerbe, 2139 Kollektivgenossenschaften (Territorial- oder Reihengenossenschaften). 2857 Genossenschaften hatten Gehilfenversammlungen, 2657 schiedsgerichtliche Ausschüsse. Gegenwärtig hoffen die Gewerbtreibenden das Genossenschaftswesen durch Gründung der gesetzlich erlaubten Genossenschaftsverbände zu beleben. England hat keine besondere Gesetzgebung[853] für I., auch keine Korporationen dieser Art. In Frankreich waren von 1791–1884 (Gesetz vom 2. bis 17. März 1791) I. wie gewerbliche Assoziationen überhaupt verboten; die tatsächlich geduldeten Unternehmerverbände (syndicats professionnels) hatten weder den Charakter der deutschen I. noch den der deutschen Gewerbevereine.

Vgl. Jacobi, Die Innungsbewegung in Deutschland (in Schmollers »Jahrbuch für Gesetzgebung«, Bd. 7, 1883); Schönberg, Artikel »Gewerbe« im »Handbuch der politischen Ökonomie«, Bd. 2 (4. Aufl., Tübing. 1896); Wilh. Stieda, Literatur über die Innungsfrage in »Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik« (neue Folge, Bd. 2, S. 273–282; 3. Folge, Bd. 12, S. 1 ff.) und im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften« (2. Aufl., Jena 1900); v. Rohrscheidt, Das Innungs- und Handwerkergesetz für den praktischen Gebrauch erläutert (2. Aufl., Leipz. 1898) und Normalstatuten für freie und Zwangsinnungen (das. 1898); Fleischmann,. Innungsleitfaden (Berl. 1901); Grunenberg, Die Wirkung des Gesetzes vom 26. Juli 1897 auf das Handwerk (Krefeld 1902); Neuhaus, I., und Innungsausschüsse (Leipz. 1902). – Für Österreich: »Die gewerblichen Genossenschaften in Österreich« (Wien 1895, 2 Bde.) und »Arbeitsvermittelung in Österreich« (das. 1898), beide Werke herausgegeben vom statistischen Departement im Handelsministerium; Mataja, Gewerberecht und Arbeiterversicherung (Leipz. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 852-854.
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