[537] Eisenbahnsystem, 1) in geographischem Sinn die räumliche Anordnung des in Haupt-, Neben- und Klein- (oder Lokal-) Bahnen gegliederten Eisenbahnnetzes in einem Land oder Landesteil; 2) in volkswirtschaftlichem und politischem Sinne die Art des Eigentums und der Verwaltung der Eisenbahnen; 3) in technischem Sinn Inbegriff der charakteristischen Eigenschaften einer Bahn nach Art ihrer technischen Gestaltung und der auf ihr stattfindenden Fortbewegung der Fahrzeuge. In diesem Sinne haben sich neben der gewöhnlichen Lokomotiveisenbahn mit ebenen Schienen (Reibungs- oder Adhäsionsbahn), bei der die Fortbewegung wie bei tierischen Kräften nur durch den Druck des Motors auf die Unterlage und die hierdurch erzeugte Reibung zwischen beiden, also zwischen Triebrad und Schiene, zustande kommt, im Laufe der Zeit eine große Zahl anderer Systeme entwickelt, die z. T. besondere Zwecke verfolgen, wie die Überwindung sehr steiler Neigungen. Zwecks guter Übersicht unterscheidet man am besten zunächst nach Bewegungsarten und dann nach der Bahngestalt (obwohl in manchen Fällen beides voneinander abhängt), nämlich folgendermaßen:
A. Die Bewegung erfolgt durch eine den Zug begleitende Kraftquelle, und zwar:
I. Tierische Kräfte: Pferdebahnen, Bergwerksgleise u. dgl.
II. Mechanische Kräfte: Lokomotivbahnen, und zwar wird die Lokomotive getrieben namentlich durch Dampf (gewöhnliche »Eisenbahn«), Preßluft (wie z. B. beim Bau des großen Gotthardtunnels und bei dem System Mekarsky für Straßenbahnen) oder durch elektrische Akkumulatoren. Dabei erfolgt die Bildung der Zugkraft:
a) durch die Reibung zwischen Schiene und Triebrad: Reibungs- oder Adhäsionssystem (gewöhnliche »Eisenbahn«),
b) durch besondere Mittel zur Erhöhung oder zum Ersatz der Reibung, nämlich:
1) Klemmräder und Klemmschiene neben der gewöhnlichen Reibung der Triebräder: Vorschlag von Vignoles und Ericson 1829. Ausführung: System Fell, angewendet bei der provisorischen Bahn über den Mont Cenis 186871, später in Brasilien 1872 und in Neuseeland 1883: Lokomotive mit 4 gewöhnlichen Trieb- und 4 wagerechten Klemmrädern zu beiden Seiten einer Mittelschiene.
2) Seilrad mit Schlepptau oder Kette, welche ruhend zwischen oder neben den Schienen liegt. Versuch von Chapman 1812, später ausgebildet bei der Schiffahrt als »Tauerei« oder Kettenschleppschiffahrt.
3) Zahnrad mit Zahnstange. Versuch von Blenkinsop 1811. Später für Bergbahnen (s.d.) ausgebildet.
B. Die Bewegung des Zuges erfolgt ohne begleitende Kraftquelle, entweder durch die Schwerkraft allein oder in Verbindung mit einer Kraftübertragung von festen Punkten aus. Arten der Kraftübertragung für beide Fälle:
I. Mittels Rohrleitung und zwar:
a) Luftverdünnung (also Ansaugen): Atmosphärische Eisenbahn mit Kolben im Rohr, das oben aufgeschlitzt war, um den Greifer durchzulassen, der den Zug faßte und mitnahm. Ausgeführt von Clegg und Samuda und in Betrieb gewesen auf vier kurzen Strecken in England und Frankreich zwischen 1844 und 1848, nach einer ältern Idee von Taylor (1805). Heute nur von geschichtlicher Bedeutung.
b) Luftverdichtung oder Preßluft: Pneumatische Bahnen, Druckluftbahnen. Fahrzeug in geschlossenem Rohr durch Luftdruck bewegt. Ausgeführt bisher nur für Pakete (London) oder Briefe (Berliner Rohrpost) in kleinen Abmessungen. Vorgeschlagen für Bergbahnen, z. B. von Locher zur Jungfraubahn in der Schweiz, jedoch nicht ausgeführt (s. Bergbahnen).
c) Wasserdruck, bisher nur als Vorschlag.
d) Ausströmende Wasserstrahlen (s. unten: E.).
II. Mittels Treibseil: Bahnen mit direktem oder indirektem Seilbetrieb, Seilebenen.
a) Direkter Seilbetrieb.
1) Einfacher Aufzug. Seil nur an einem Ende durch den Zug belastet.[537]
2) Seil oben über eine Rolle geleitet, beide Enden belastet.
α) Nur Schwerkraft als Antrieb, wenn die Nutzlast nur zu Tal geht und die Hebung der leeren Fahrzeuge mit bewirkt (unter andern bei Steinbrüchen, Erzbergen u. dgl.), oder wenn die Schwerkraft durch Ballast, meist Wasser, erzeugt werden kann, um die Nutzlast zu heben (so für kleinere Lasten, z. B. für Bergwerkszwecke und zur Personenbeförderung für Bergbahnen, s.d.).
β) Zugleich eine feste Kraftquelle, z. B. Dampf- oder elektrische Maschine zur Bewegung des Seiles. So namentlich für Bergbahnen, wenn Wasser am obern Ende nicht verfügbar ist.
γ) Erzeugung (oder Verstärkung) der Schwerkraft an dem einen Seilende durch eine vorgespannte Lokomotive, zusammenwirkend mit deren eigner Zugkraft. So auf der »schiefen Ebene« zwischen Erkrath und Hochdahl 1841 (auf der Bahn Düsseldorf-Elberfeld) mit Hilfe eines Besondern dritten Gleises, noch in Anwendung für die zu Berg gehenden Güterzüge.
3) Seil ohne Ende, beiderseits über Rollen geleitet, in Spannung gehalten und umlaufend. Ankuppelung der Zuglast an beliebiger Stelle; unter Umständen mittels Greifervorrichtung vom Zuge (oder Wagen) aus, so daß der Zug unabhängig von der entfernten Kraftquelle anhalten kann.
α) System Maus (Belgier), angewendet für die 18431848 in Betrieb gewesene Seilebene Aachen-Ronheide der Bahn Aachen-Lüttich, mit Steigung von 260/00, jetzt mit gewöhnlichen Lokomotiven betrieben; desgleichen für Güterzüge noch in Benutzung bei Lüttich, Steigungen bis 300/00, Hebung 111 m, obwohl an ändern Stellen gleiche (Arlbergbahn) und größere (Schweiz bis 500/00) Neigungen jetzt mit einfachem Reibungsbetrieb anstandslos überwunden werden.
β) Straßenbahnen mit unterirdischem Seil ohne Ende und mit Greifer am Wagen, auch »Kabelbahnen« genannt, vorwiegend in Nordamerika, vereinzelt auch in London und Edinburg angewendet, insbes. zur Überwindung steiler Neigungen (bis 1860/00 in San Francisco), s. Straßenbahnen.
b) Indirekter Seilbetrieb: Agudios System, s. Bergbahnen.
III. Gewichtlose Kraftübertragung von fester Kraftquelle (z. B. Turbine oder Dampfmaschine) aus mittels elektrischen Stromes; Fortleitung durch besondere Leitungskörper, die entweder (für große Kraft) als Stab oder Drahtseil neben den Schienen angebracht oder (besonders für schwächere Kräfte, z. B. Straßenbahnen) als Drähte oder Drahtschnüre über der Bahn ausgespannt werden. Dabei erfolgt die Bildung der Zugkraft, wie oben unter A. II., durch Antrieb aller oder eines Teils der Wagenachsen (Motorwagen) oder durch Antrieb eines dem Zuge als »elektrische Lokomotive« vorgespannten Motors (s. Elektrische Eisenbahn).
Nach der Gestaltung der Bahn ergibt sich folgende Einteilung:
I. Reibungs- oder Adhäsionsbahn, zwei Schienen, ohne weitere Hilfsmittel: Gewöhnliche Eisenbahnen und Straßenbahnen, auch wohl mit besonderer Spurschiene.
II. Besondere Mittel zur Vermehrung der Reibung.
1) Mittelschiene für Klemmräder. System Fell (s. oben).
2) Ruhendes Schleppseil oder Kette, Vorschlag von Chapman (s. oben).
3) Zahnstange zwischen den Schienen, ganz durchlaufend (reiner Zahnradbetrieb) oder nur auf besonders steile Strecken beschränkt (gemischter Betrieb), s. Bergbahnen.
Die Bewegung zu 13) kann mit Lokomotive oder mit Kraftübertragung durch indirekten Seilbetrieb, auch durch elektrische Übertragung erfolgen (s. oben).
B. Das Fahrzeug umgreift die Bahn oben und beiderseits (also rittlings) mit Hilfe von untern wagerechten oder schräggestellten Führungsrollen (Reitwagenbahn):
I. Zwei Schienen sehr nahe zusammen, z. B. nur 25 cm entfernt im Lager von Aldershot 1870, von Fell ausgeführt.
II. Einschienenbahn, 1869 von Larmanjat in Frankreich, dann von Roy-Stone 1876 in Philadelphia aufgestellt und später von Lartigue in Algerien und Irland mehrfach ausgeführt für Waren- und für Personenbeförderung. Auch die alte, 1880 erbaute Vesuvseilbahn gehörte hierher, ist aber 1903 durch eine zweischienige Bahn ersetzt.
Bei diesen Anlagen zu I und II liegen die Räder entweder an beiden Enden des Fahrzeugs außerhalb desselben (so auch bei der Vesuvbahn), oder der Wagenkasten ist der Länge nach geteilt, und die Räder liegen in dem schmalen mittlern Zwischenraum (Lartigue), während die Führungsrollen unter dem Wagenkasten angebracht sind. Die Bewegung kann durch kleine, ebenso gebaute Lokomotiven oder durch ein Zugseil erfolgen, auch durch Pferde oder Menschen, bei der Vesuvbahn durch ein umlaufendes Seil ohne Ende.
C. Fahrzeug unter der Bahn, an derselben hängend: Schwebebahnen, auch Hängebahnen oder Luftbahnen genannt:
I. Zweischienige Hängebahn. Die beiden Schienen (z. B. in Form von Winkeleisen oder als unterer, nach außen gekehrter Rand von E-Eisen) sind an Gerüstböcken so befestigt, daß die Räder, an denen die Fahrzeuge hängen, die Schienen von außen oder innen umfassen und frei darauf entlang rollen können, ausgeführt für Erze, Erden u. dgl. (vgl. Rziha, Eisenbahn-Unter- und Oberbau, S. 284, Wien 1876).
II. Einschienige Hängeban:
a) Weitgespanntes, ruhendes Drahtseil an Gerüstböcken so befestigt, daß die Räder (meist zwei hintereinander) ungehindert über die Befestigungsstellen hinwegrollen. An diesen Rädern sind die Transportgefäße einseitig aufgehängt. Die Bewegung erfolgt entweder durch die Schwerkraft (»Seilriesen« für Forstzwecke u. dgl.) oder durch ein besonderes Zugseil, oder endlich bei bessern Ausführungen (Bleichert, Otto u.a.) durch ein Seil ohne Ende, das genau unter dem Tragseil umläuft und an jeder Stelle die An- oder Loskuppelung des Fördergefäßes mit Leichtigkeit ermöglicht. Dies System ist namentlich für Stein-, Erz-, Kohlen-, Erd- und dergleichen Förderungen als sehr leistungsfähig bewährt und bis zu Entfernungen von 40, ja 50 km vielfach ausgeführt.
b) Ein endloses Tragseil läuft selbst um und nimmt die Fördergefäße mit. System Hodgson, namentlich in England ausgeführt, steht dem vorigen an Einfachheit und Sicherheit der Leistung erheblich nach.
c) Schwebebahn mit fester Schiene und seitlich frei schwingendem Fahrzeug. Ist mit elektrischem Antrieb für Personenverkehr in Loschwitz bei Dresden und als Stadtbahn in Barmen-Elberfeld 1901 ausgeführt; s. Hängebahn.
Diese Anlagen zu II. a) u. b) werden auch wohl schlechthin »Seilbahnen« genannt, was jedoch zu Verwechselungen mit dem oben besprochenen Seilbetrieb auf festen Schienen führt. Deshalb ist die Bezeichnung als Hängebahnen, Schwebe- oder Luftbahnen vorzuziehen.
D. Fahrzeug in geschlossenem Rohr gleitend oder geführt und mit Preßluft bewegt. Rohrpost, Paketbeförderung (s. oben B. I. b).
E. Hydraulische Gleitbahn. An Stelle der Räder sind Schuhe gebildet, die auf breiten Schienen entlang gleiten, indem zwischen beiden die Reibung mittels starken Wasserdrucks nahezu aufgehoben wird. Idee von Girard 1852, Ausführung als Schaustück der Pariser Ausstellung 1889 von Barre; ohne praktischen Wert, weil das Mitschleppen großer Wassermassen unter starkem Druck viel zu teuer kommen und die kleinste Zufälligkeit die Bewegung stören würde. Die Bewegung könnte durch Zugseil kaum schnell genug erfolgen, diejenige durch Wasserstrahlen aus einer Rohrleitung (wie in Paris 1889) ist für praktische Zwecke auf größere Strecken nicht ausführbar. Das ganze System ist nur eine interessante Spielerei.
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