[838] Giftfestigkeit, die Erscheinung, daß gewisse Tiere ohne dauernden Schaden oder direkte Lebensgefahr die Einverleibung von Substanzen ertragen, die, in gleichen oder selbst kleinern Mengen den Vertretern naheverwandter Arten oder Rassen beigebracht, sicher töten oder doch schwer schädigen. Die bekanntesten dieser Ausnahmefälle sind die G. der Kaninchen und andrer Nagetiere gegenüber dem Atropin und der das Gift liefernden Pflanze, der Tollkirsche, die der Hunde gegen Morphium, des Igels und des Huhns gegen Kantharidin, dem giftigen Prinzipe der spanischen Fliege, des Ichneumons gegen das Gift der Brillenschlange, des Igels gegen das der Kreuzotter etc. Alle derartigen Erscheinungen heißt man natürliche Immunität. Was bei höhern Tieren (etwa Säugetieren) Ausnahme ist, zeigt sich an Vertretern weit abstehender Ordnungen der Tierreihe etwa an niedern, wirbellosen Tieren fast als Regel. So sind alle Tiere von den einzelligen Lebewesen bis exklusive zu den niedersten Wirbeltieren, den Neunaugen und Haifischen, widerstandsfähig gegen Curarin, von dem z. B. 1 mg 3 kg Kaninchen tötet. Würmer, Schnecken, Tintenfische, Quallen etc. leben in Strychninlösungen von solcher Konzentration, daß wenige Kubikzentimeter einen Menschen töten würden. Die bei allen Wirbeltieren und besonders beim Menschen als Herzgifte erprobten Digitalis-Präparate lassen alle niedern Tiere gänzlich intakt etc. Zu den Fällen von G., die als ausnahmsweise Wirkungslosigkeit des Giftes am Vertreter einer naheverwandten Klasse, etwa unter Warmblütern, auftritt, handelt es sich nur um eine »relative« G., d. h. dem Tiere müssen zur Erzielung der gleichen tödlichen Wirkung nur größere Mengen beigebracht werden als andern, empfindlichen. So tötet 1 g Kantharidin 20,000 kg Mensch, aber nur 7 kg Igel, der Igel ist also etwa 3000mal so kantharidinfest als der Mensch. Ebenso verhält es sich mit der G. des Igels gegen Kreuzottergift oder des Ichneumons gegen Cobragift. Ein Igel kann sehr wohl mit Kreuzottergift getötet werden, nur bedarf es dazu so großer Mengen, die von einer Kreuzotter nicht geliefert werden können. Absolute G. scheint nur bei den niedersten Tieren der Tierreihe gegenüber Giften der höhern Tiere vorhanden zu sein. Außerdem sind alle giftproduzierenden Tiere absolut giftfest gegen ihr eignes Gift, z. B. Giftspinnen, Giftschlangen gegen ihr Drüsensekret, Aale gegen ihr Blut, von dem sonst einige Kubikzentimeter einen Hund bei Einbringung in das Blutgefäßsystem töten. Die G. der Kaninchen gegen Atropin ist eher eine scheinbare. Atropin tötet höhere Säugetiere durch Lähmung lebenswichtiger Funktionen des Gehirns. Auf dem gewöhnlichen Wege der Giftaufnahme durch den Magen kommt zuwenig der Substanz ins Gehirn. Bringt man indes Atropin direkt ins Gehirn, so tötet es auch diese sonst atropinsesten Tiere in kürzester Zeit und in geringster Menge. Auch die Arsenikfestigkeit der Arsenikesser in Steiermark ist mehr durch äußere Besonderheiten vorgetäuscht. Die Arsenikesser nehmen das Gift in Pulverform; bei der minimalen Löslichkeit des Arseniks in Wasser und Körpersäften wird bei solcher Art der Einverleibung nur ein recht geringer Bruchteil der eingenommenen Menge tatsächlich in die Körpersäfte aufgenommen. Würde die gleiche Menge Arsen in Form eines leicht löslichen, arsenigsauren Salzes einverleibt, so müßte sie sicher die größten Schädigungen verursachen. Während die erwähnten Formen der natürlichen G. wesentlich wissenschaftliches Interesse haben, ist die künstlich erzeugte G. von allergrößter, praktischer Bedeutung. Es war lange bekannt, daß Gifte, die bei der ersten Einverleibung starke Wirkung am Menschen äußern, bei fortgesetztem Gebrauch allmählich versagen, so daß, um die vielleicht gewünschte Wirkung dauernd zu erzielen, zu immer größern Mengen gegriffen werden mußte. Hierher gehört das Verhalten des menschlichen Organismus gegenüber dem Alkohol, Morphium, Nikotin. Die Versuche, das Wesen dieser G., auch Gewöhnung genannt, zu erklären, sind noch zu keinem klaren Resultat gediehen. Hingegen kann man Tiere gegen eine Gruppe von Giften resistent machen, wenn man ihnen analog den obenerwähnten Vorgängen bei der Gewöhnung lange Zeit, von den kleinsten, an sich wirkungslosen Mengen ausgehend, täglich steigende Mengen einverleibt. Man kommt dabei schließlich zu Mengen, die das 100- bis 1000fache derjenigen Menge betragen, die ein nicht vorbereitetes Tier sicher töten würden (künstliche Immunisierung). Die Gifte, die dazu zumeist geeignet sind, sind Eiweißkörper oder wenigstens solchen sehr nahe stehende, in ihrer feinern chemischen Zusammensetzung noch unbekannte Körper, wie das Rizin der Rizinussamen und das Abrin der Jequiritysamen. Man nimmt an, daß die fortgesetzte Einverleibung derartiger Gifte im Blute der behandelten Tiere Stoffe (wiederum Eiweißkörper) erzeugt, welche die Wirkung der giftigen Substanz aufhebt. Die praktische Bedeutung[838] der Sache liegt darin, daß diese entgiftenden Stoffe an sich nicht nur nicht giftig sind, sondern auch ein nicht vorbehandeltes Tier bei gleichzeitiger Einverleibung mit dem zugehörigen Gift für dieses giftfest (immun) machen. Die bekanntesten Substanzen, gegen die auf solche Weise Tiere giftfest gemacht werden können, sind außer den erwähnten die Schlangengifte und die giftigen Eiweißkörper vieler Infektionskrankheiten erregender Bakterien, wie Diphtherie, Tetanus, Pest etc. (Serumtherapie, Schutzimpfung). Auch diese G. ist indes keine absolute. Vgl. Immunität. Die natürliche G. des Igels und des Ichneumons gegen Schlangengift ist höchstwahrscheinlich auch eine erworbene, denn die aus ihrer indischen Heimat zum Rattenvertilgen nach dem kobrafreien Barbados gebrachten Ichneumone hatten schon nach wenigen Generationen ihre G. gegen Kobragift verloren. Im Gegensatze zur natürlichen G. ist die künstliche nur von vorübergehender Dauer und verliert sich nach dem Aussetzen der künstlichen Immunisierung. Dabei herrschen allerdings die größten Verschiedenheiten. Auch eine gewisse Erblichkeit der künstlichen G. ist beobachtet, so sind z. B. die von einer abrin- und rizinfesten Mutter geworfenen Jungen eine Zeitlang giftfest.