Tisza [2]

[574] Tisza (spr. tíßa), 1) Koloman T. von Borosjenö, ungar. Staatsmann, geb. 16. Dez. 1830 zu Geszt im Biharer Komitat aus einer reichbegüterten adligen calvinistischen Familie, gest. 23. März 1902, studierte die Rechte und trat 1848 ins Unterrichtsministerium. An der Revolution nahm er keinen Teil und bereiste hierauf das Ausland. 1855 wurde er zum Hilfskurator des Szalontaer helvetischen Kirchendistrikts gewählt. Er trat bei der durch das Protestantenpatent des Grafen Thun vom 1. Sept. 1859 hervorgerufenen Bewegung zuerst als öffentlicher Redner auf, ward 1861 für Debreczin Mitglied des Reichstags, der ihn zum Vizepräsidenten wählte, schloß sich der Beschlußpartei an und übernahm 1865 mit Ghyczy die Führung des linken Zentrums, hing jedoch (wie ihm seine Gegner bis zu seinem Ende vorwarfen) Anfang 1875, als die Deákpartei infolge persönlicher Zerwürfnisse und der finanziellen Verwirrung zerfiel, seine Prinzipien (die Biharer Punktationen) an den Nagel und bildete aus dem größten Teil der Deákpartei und dem linken Zentrum eine neue, die »liberale Partei«, die, da sie die Majorität besaß, die Regierung übernahm und fortan bis 1905 Ungarn beherrschte. Zunächst trat T. 5. März in das neue Ministerium Wenkheim als Minister des Innern ein, übernahm aber schon 21. Okt. 1875 nach dem glänzenden Sieg der neuen Partei bei den Wahlen auch den Vorsitz im Kabinett, das er mit staatsmännischem Geschick leitete. Er verstand es, mit großer Klugheit Ungarn für den neuen wirtschaftlichen Ausgleich mit Österreich und für die Neuorganisierung der Österreichisch-Ungarischen Bank günstig zu stimmen, die Besorgnisse über die Orientpolitik Andrássys zu beschwichtigen, die Abneigung gegen die Okkupation Bosniens, allerdings nur durch das Anerbieten seiner Demission (1878), zu vermindern und die ihm blind ergebene Mehrheit des Reichstags durch starke Beeinflussung der Wähler immer wieder um sich zu scharen. Bleibendes Verdienst erwarb er sich im Bunde mit Wekerle (s. d.) durch Herstellung des finanziellen Gleichgewichts. Hierdurch erlangte er auf die Politik der Gesamtmonarchie großen Einfluß und freie Hand für die rücksichtslosen Maßregeln zur Magyarisierung Ungarns, die zu vielen Ungerechtigkeiten gegen die Nationalitäten, so gegen die siebenbürgischen Sachsen, führten. Im Februar 1887 vertauschte er nach dem Rücktritt Szapárys das Innere mit dem Finanzportefeuille, behielt aber von 1889 ab nur die Ministerpräsidentschaft. Gegen das Ende seiner 15jährigen Regierung wurden die Angriffe der an Zahl zwar geringen Opposition immer erbitterter, wie es sich namentlich bei der Verhandlung der neuen Militärvorlage zeigte (s. Ungarn, S. 912). Die Opposition schob ihm namentlich das Umsichgreifen der Korruption in die Schuhe. Der Hof hielt ihn aber für unentbehrlich. Gelegentlich der Verhandlungen des die Person L. Kossuths berührenden Heimatsgesetzes gab T. 13. März 1890 seine Demission, verblieb aber als »Gemeiner« in der liberalen Partei. Doch erlebte er noch den beginnenden Zerfall seiner Partei, machte sich durch die 1898 eingebrachte Lex Tisza noch unbeliebter und errang erst bei einer Ersatzwahl 1902 wieder ein Mandat. Vgl. Visi, Koloman T. (Budapest 1886).

2) Ludwig, Graf T. de Szeged, Bruder des vorigen, geb. 12. Sept. 1832 in Geszt, gest. 26. Jan. 1898 in Budapest, ward 1861 Mitglied des Reichstags, 1867 Obergespan des Biharer Komitats, 1871 bis 1873 Kommunikationsminister, nach der Katastrophe von Szegedin (1879) zum königlichen Kommissar für dessen Wiederaufbau ernannt und nach der Vollendung desselben 1883 in den Grafenstand erhoben. Im Ministerium Wekerle war er vom November 1892 bis Juni 1894 Minister am königlichen Hoflager. 1904 wurde ihm in Szegedin ein Denkmal errichtet.

3) Stephan, Graf, ungar. Politiker, Sohn von T. 1), geb. 22. April 1861 in Budapest, war zuerst im ungarischen Ministerium des Innern angestellt und veröffentlichte Arbeiten über agrarische Fragen und die Getreideproduktion Ungarns. Seit 1886 Mitglied des ungarischen Reichstags, gehört er zu den entschiedensten Verteidigern des Ausgleiches und der wirtschaftlichen Gemeinschaft mit Österreich sowie zu den schärfsten Gegnern der Opposition, die seine Wahl zum Präsidenten des Abgeordnetenhauses hintertrieb. Um die Obstruktion gegen das Kabinett Bánffy zu brechen, reichte er 1898 mit seinem Vater die Lex Tisza ein und wurde nach dem Rücktritte des Kabinetts Széll (17. Juni 1903) zum Ministerpräsidenten ernannt, fand aber weder eine Majorität, noch vermochte er ein Kabinett zusammenzustellen. Nach der zweiten Abdankung Khuen-Hédervárys wurde er (3. Nov. 1903) abermals Ministerpräsident und übernahm zugleich das Innere und das Portefeuille des Ministers am Hoflager. Nachdem der am 18. Nov. 1905 unternommene Versuch zur Verschärfung der Hausordnung gescheitert war, gab T. nach den Neuwahlen 1. Febr. seine Demission, mußte aber sein Amt noch bis 18. Juni fortführen. Er blieb auch Führer der liberalen Partei, deren Auflösung er indes nicht zu verhindern vermochte. Seit 1906 ist er nicht mehr Mitglied des Abgeordnetenhauses. Von seinen Reden erschien 1904 in Budapest eine Auswahl. Er veröffentlichte (in ungarischer Sprache) noch: »Ungarische Agrarpolitik«; ferner »Über unsere Valutaregulierung« (Budapest 1890).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 574.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika