[254] Kaltwasserheilkunde (Hydrotherapie, Hydropathie), Inbegriff des technischen Verfahrens, durch den ausschließlichen Gebrauch des gemeinen kalten Wassers Krankheiten des Menschen zu heilen. Die Anwendung des Wassers als diätetisches u. Heilmittel findet sich zwar schon im Alterthume, allem zu einer eigentlichen Heilmethode ist sie erst im 18 Jahrh. durch den englischen Arzt Floyer erhoben[254] worden. Einige Zeit später wurde dessen Verfahren von einem schlesischen Arzte, Hahn (vgl. Unterricht von Kraft u. Wirkung des frischen Wassers), noch weiter ausgebildet, doch später gerieth sie fast ganz wieder in Vergessenheit. Erst 1804 machte der Gymnasialprofessor Örtel in Ansbach auf den Werth einer allgemeinen u. ausgedehntern Anwendung des kalten Wassers aufmerksam. Fast zugleich mit Örtel, aber seine eigene Bahn brechend u. verfolgend, erfaßte das Heilmittel ein Landmann, Vincenz Prießnitz (s.d.) in Gräfenberg, der 1826 zu Gräfenberg in Österreichisch Schlesien die erste Kaltwasserheilanstalt gründete. Die verschiedenen Mittel der Kaltwasserkur sind: Schwitzen durch Einwickelung in dicht um den nackten Körper geschlagene wollene Decken (Kotzen) in kühlen Zimmern, womöglich mit offenen Fenstern. Bei der nassen Einwickelung wird der Körper zuerst in ein nasses leinenes Tuch geschlagen, sodann darüber wollene Kotzen gewickelt, nach Ausbruch des Schweißes trinkt der Kranke frisches Wasser; der schwitzende Körper wird dann in eine Wanne mit kaltem Wasser getaucht, od. damit begossen od. gewaschen od. mit nassen Lappen abgerieben; Bäder von ganz kaltem od. bis auf 14 bis 16° abgeschrecktem Wasser als Ganzbäder u. örtliche Sitzbäder, Halbbäder, Arm- u. Beinbäder, Hand- u. Ellenbogenbäder, Fußbäder u. Sohlenbäder, Kopfbäder, Augen- u. Nasenbäder etc.; Waschungen u. Übergießungen des ganzen Körpers od. einzelner Theile; Douchen von 1224 Fuß Höhe u. 24 Zoll Stärke; Einspritzungen u. Kaltwasserklystiere; Wasserumschläge, u. zwar ganz u. andauernd kalte, gegen Entzündungen, od. mäßig ausgerungene u. mit Tüchern überdeckte, zur Beruhigung, od. stark ausgerungene, welche dicht um den Theil gewickelt u. mit trockenen Tüchern fest überdeckt so lange liegen bleiben, bis sie ganz trocken werden (reizende, erregende Umschläge); Wassertrinken, 410 Kannen täglich, in Zwischenräumen u. unter gehöriger Bewegung; Diät einfach, ländlich; gewürzte Speisen, künstliche, bes. warme u. spirituöse Getränke sind ausgeschlossen, dafür Milch, Butter, Käse, Brod zu Frühstück u. Abendessen, Mittags eine sehr einfache aber reichliche Nahrung aus gewöhnlichster Hausmannskost, Fleisch u. Zugemüse, Kartoffeln etc.; außerdem fleißige Bewegung in freier Luft, wohl auch Turnen bei möglich leichtester Bekleidung, Frühaufstehen u. früh zu Bett gehen, Schlafen in kühlen Zimmern u. andere Abhärtungsmittel. Am meisten hat sich die Kaltwasserkur bewährt gegen chronische u. Arzneisiechthümer (bes. nach Quecksilber- u. Jodkuren), Hypochondrie, Hysterie u. Nervenreizbarkeit überhaupt, zumal durch Verweichlichung, entstanden; chronische Rheumatismen u. Gichtkrankheiten, Lähmungen, chronische Hautkrankheiten (Flechten, Geschwüre); Stuhlverstopfung u. Hämorrhoidalbeschwerden, Weißen Fluß, Impotenz u. Samenfluß. Auch bei Typhus, Blattern, Scharlach u. Masern kann die Kaltwasserkur angewendet werden, jedoch nicht ohne Gefahr. Gegen äußere Entzündungen ist die Anwendung des kalten Wassers althergebracht. Zweifelhaft ist der Erfolg bei Bleichsucht, Skropheln, beginnender Tuberkulose, secundärer Syphilis, Geisteskrankheiten etc. Bedenklich ist die Kaltwasserkur bei allen weit vorgeschrittenen Entartungen, z.B. Krebs, Tuberkulose, bei organischen Herzfehlern u. Neigung zu Schlagfluß, bei Lungenemphysem, bei voranschrittener Blutverwässerung u. Entkräftung. Außer in Gräfenberg gibt es sich Kaltwasserheilanstalten zu Freiwaldau in der Nähe von Gräfenberg, Marienberg bei Boppard a. Rhein, zu Laab bei Wien, Alexanderbad bei Wunsiedel, Elgersburg in Sachsen-Gotha, Ilmenau in Sachsen-Weimar, Kreischa u. Schweizermühle im Königreich Sachsen, Berlin, Gleisweiler in der Pfalz, Teinach, Herrenkalb, Eßlingen in Württemberg, Albisbrunnen bei Zürich, Niederutzwyl in St. Gallen, Innsbruck u. andere. Auch in Großbritannien, Frankreich u. anderen Ländern wurden ähnliche Anstalten gegründet, viele davon sind aber auch schon wieder eingegangen. Vgl. Illawatschek, Die Wasserheilkunde, Karlsb. 1837; Hirschel, Vom vernünftigen Gebrauche des kalten Wassers, Lpz. 1841; Krause, Hydrotherapie, Dresd. 1842; Schreber, Die Kaltwasserheilmethode, Lpz. 1842; Munde, Die Gräfenberger Kaltwasserheilanstalt, 6. Aufl. Lpz. 1848; Munde, Hydrotherapie, 2. Aufl. Lpz. 1846; Erfurth, Theorie des Wasserheilverfahrens od. electrische Strömungen als Ursache der belebenden Wirkung des kalten Wassers, Hamb. 1851; Gully, Wasserheilkunde bei chronischen Krankheiten, aus dem Englischen von Lehmann, Köln 1852; Fleury, Über die Wasserheilkunde, übersetzt von Scharlau, Stettin 1853; Hahn, Die heutige Natur- u. Wasserheilkunde gegenüber der alten von Prießnitz begründeten Heilmethode, Magdeb. 1853; Richter, Die Wasserkuren, Berl. 1855.