Turnen

[70] Turnen (nach Ein. vom althochd. turnjan, welches man aber freilich blos in der Bedeutung kennt: die Pferde im Laufe anhalten u. wenden; nach And. vom franz. tourner, wenden, drehen), bezeichnet im Allgemeinen geregelte Bewegungen, welche aus dem Bewegungsvermögen des menschlichen Organismus hervorgehen u. diesem zu seiner Vervollkommnung, wie zur Erhaltung seiner Kraft, Gesundheit u. Gewandtheit Bedürfniß bleiben. L. Jahn gab der Sache zuerst diesen Namen u. damit eine besondere Zweckbestimmung in Beziehung auf pädagogische u. deutschthümliche Bestrebungen. In der weitesten Bedeutung zur Bezeichnung aller planmäßigen Übungen bei den verschiedenen Völkern u. in den verschiedensten Zeiten dient der Ausdruck Leibesübungen, während die Benennungen gymnastische Übungen od. Gymnastik an die Bedeutung des Begriffes jener Bewegungen nach der Auffassung der alten Griechen erinnern. I. Die Griechen waren die Ersten, welche eine systematische Gymnastik in umfänglichster Weise einführten; in der Verbindung mit der Musik od. den Musenkünsten sollten die gymnastischen Übungen einen Haupttheil der Bildung ausmachen, damit durch harmonische Entwickelung von Geist u. Körper vollkommene Menschen erzogen würden. Die altgriechische Gymnastik bildete sich zu einem besonderen Systeme aus, welches in dem Pentathlon seinen Mittelpunkt fand. Das Pentathlon war eine Zusammenstellung von fünf Übungen: Lauf, Sprung, Ringen, Diskus- u. Speerwerfen (s.u. Gymnastik 1) u. Kampfspiele). Wer diese fünf Übungen bewältigte, hatte das hinreichende Maß einer harmonischen Körperbildung erlangt. Dieses bildende u. ästhetische Element der Gymnastik, wie es sich jeder gebildete Grieche zu Nutze machte, fehlte in dem Pankration der Athleten, welche den hier zur Anwendung kommenden Ring- u. Faustkampf als Gewerbe trieben u. sich damit öffentlich sehen ließen. Zu solchen öffentlichen Darstellungen u. gymnastischen Wettkämpfen boten die Nationalfeste reiche Gelegenheit, deren Hauptbestandtheil die zur Volkssitte gewordene Gymnastik bildete. Die berühmten Kampfspiele in Olympia u. Delphi, in Nemea u. auf dem Isthmus gaben Zeugniß von der gymnastischen Fertigkeit der griechischen Jünglings- u. Männerwelt, welche sich hier Siegespreise in den landesüblichen Kampfarten errang (vgl. Krause, Gymnastik u. Agonistik der Hellenen, Lpz. 1841; O. Jäger, Die Gymnastik der Hellenen, Eßlingen 1850). Bei den Römern findet sich zwar Nachahmung der griechischen Einrichtungen für Gymnastik, ohne daß dieselbe bei ihnen zu einem Bestandtheile der öffentlichen Erziehung geworden wäre. Die Circensischen Spiele waren glänzende Schauspiele mit Wagenrennen, Reiter- u. Thiergefechten; die Gladiatoren (s.d.), welche meist Sklaven waren, führten im Auftrag u. gezwungen öffentliche Fechterspiele auf, wobei es auf Leben u. Tod ging. Während bei den Römern die Gymnastik keineswegs so wie bei den Griechen zur[70] Volkssitte geworden war, so findet sich bei ihnen doch eine ziemlich ausgebildete kriegerische Gymnastik, da die römischen Soldaten alle für den Kriegsdienst wichtigen Leibesübungen, wie Gehen, Laufen, Springen, Voltigiren, Lasttragen, Fechten u. Speerwerfen mit Sorgfalt zu treiben hatten. Bei den Deutschen tritt im Mittelalter zuerst ein planmäßiger Betrieb der Leibesübungen auf zur Zeit des Ritterwesens u. der Turniere (s.d.), indem die Ritterjugend zeitig lernen mußte den Vorkommnissen des Turniers od. des Ernstkampfes zu begegnen. Hier galt es, sattelfest das Roß zu tummeln, sich im eisernen Panzer wie im leichten Gewand zu bewegen u. dabei die Waffen sicher u. leicht zu führen. Die dazu nöthige Kraft, Gewandtheit u. Ausdauer mußten die Edelknaben u. Knappen sich in strenger Weise erwerben, zu welchem Zwecke das Speerwerfen, das Schirmen mit dem Schild gegen Lanzen u. Geschoß, das Voltigiren, Klimmübungen an der schrägen Leiter, Laufübungen, Spiele mit Lanzen u. Armbrüsten, sowie eigene Kriegsspiele u. Turngefechte im Gebrauche waren. Nach dem Verfall der Turniere fielen jene ritterlichen Turnübungen weg u. nur sogenannte adelige Exercitien, etwas Fechten u. Voltigiren, erhielten sich; bes. zunftmäßig eingerichtete Fechterschulen in Augsburg, Nürnberg u. Frankfurt waren die einzigen Pflegeanstalten der Leibesübungen. Die Gymnastik der neueren Zeit wurde vorbereitet durch Luther, Camerarius, Rousseau, Montaigne, Locke u.a., welche deren Notwendigkeit nachwiesen u. auch vereinzelte Anfänge zu deren Einführung machten. Die Philanthropen, namentlich Basedow u. Salzmann, führten geregelte Leibesübungen für erzieherische Zwecke förmlich ein. Unter Salzmann arbeitete (seit 1785) J. Fr. Gutsmuths (s.d.), der erste Turnlehrer Deutschlands, welcher das System einer deutschen, vielleicht europäischen Gymnastik begründete, nach allen seinen Einzelheiten ausarbeitete u. praktisch durchführte bes. durch Gymnastik für die Jugend, 1795, 1804, 1847; Turnbuch für Söhne des Vaterlandes, Frankf. 1817; Spiele zur Übung des Körpers, 1845). Nicht unwichtig war für das pädagogische T. Pestalozzi, welcher 1807 eine Elementargymnastik schrieb. Geschichtlich faßte alle Vorkommnisse in Bezug auf Leibesübungen zusammen Wirth in der Encyklopädie der Leibesübungen, Lpz. 1818. Fr. L. Jahn (s.d.) brach den Leibesübungen neue Bahn, indem er sie als deutsch-nationales Erziehungsmittel zur Durchführung brachte, wie er das schon in seinem Werke: Deutsches Volksthum, Lübeck 1810, im Plane entworfen hatte. In der Hasenhaide bei Berlin wurde 1811 durch ihn der erste Turnplatz eröffnet, wie man alsdann durch fast ganz Deutschland diesem Beispiele folgte. Jahn wußte seinen Turnern Vaterlandsliebe einzuflößen u. sie für den Gedanken zu begeistern sich wehrtüchtig zu machen, so daß auch 1813 alle wehrhaften Turner u. Jahn selbst ins Feld zogen. Nach dem Kriege wurde Jahn von der preußischen Regierung als öffentlicher Turnlehrer angestellt; mit seinem Gehülfen E. Eiselen gab er heraus: Die deutsche Turnkunst zur Einrichtung der Turnplätze (Berl. 1816), welches Werk die Norm für Leitung der Turnplätze bildete. Als Alles im besten Gange war, in Preußen z.B. ein großartiger Plan zur allgemeinen Einführung des T-s von Staatswegen durchgeführt werden sollte, brach ein heftiger Streit los, angeregt durch bedenkliche Stimmen, welche auf das Gefährliche der Turnübungen in gesundheitlicher Beziehung hinwiesen u. namentlich eine Anmaßung u. Verwilderung der Turnjugend bemerkt haben wollten. Diese Turnstreitigkeiten wurden in den Jahren 1817 u. 1818 geführt u. riefen viele Schriften für u. wider hervor. In hygienischer Beziehung wurde das T. vertheidigt durch Könen (Leben u. T., T. u. Leben, Berl 1817) u. Fr. Passow (Turnziel, Turnfreunden u. Turnfeinden gewidmet, Breslau 1818); dagegen schrieb H. Steffens (Turnziel, ebd. 1818), doch fand das T. mehr Vertheidiger als Ankläger; zu den Ersteren zählten noch K. von Raumer (Das T. u. der Staat) u. E. M. Arndt (Das Turnwesen); W. Harnisch (Das T. in seinen allseitigen Verhältnissen, Bresl. 1819) legte die pädagogische Bedeutung des T-s dar, während von Schmeling (Die Landwehr, gegründet auf die Turnkunst, Berl. 1819) dessen Verhältniß zum Wehrwesen erörterte. Vorkommnisse beim Wartburgsfeste (s.d.) in Eisenach u. die Ermordung Kotzebues durch Sand wurden 1819 die äußere Veranlassung zur Schließung der Turnplätze durch fast ganz Deutschland, weil man dieselben als die Stätten der politischen u. demagogischen Umtriebe ansah. Jahn selbst erhielt Festungsarrest u. wurde erst 1825 freigesprochen; viele seiner Schüler hatten ein ähnliches Geschick. Nach dieser allgemeinen Turnsperre wurden einzelne Turnanstalten wieder eröffnet, wie die in Berlin durch Jahns Mitlehrer E. Eiselen, die in München durch Maßmann, in Stuttgart durch Klumpp, in Magdeburg durch Koch (welcher über die Gymnastik aus dem Gesichtspunkte der Diätetik u. Psychologie, Magdeb. 1830, schrieb), in Frankfurt durch Ravenstein. Um dieselbe Zeit entwickelte in Dresden, später von 1839 ab in Dessau J. A. L. Werner eine rührige Thätigkeit für die Gymnastik auch nach ihrer orthopädischen Verwendung (vgl. Das Ganze der Gymnastik, Meißen 1834; Die weibliche Gymnastik, ebd. 1834). In der Zeit der Vernachlässigung der Gymnastik war Werners Auftreten ein ersprießliches, wenn er auch den Turnplatz zu sehr als Schaubühne theatralischer Productionen benutzte. Der Lorinsersche Schulstreit (s.u. Lorinser) i. J. 1836, hatte zur Folge, daß in vielen deutschen Staaten die gymnastischen Übungen bei den Schulen wieder eingeführt wurden, bis am 6. Juni 1842 der König von Preußen durch Cabinetsordre die Einführung des T-s als nothwendigen Bestandtheil der männlichen Jugenderziehung befahl u. Maßmann aus München zum Oberleiter des preußischen Turnwesens nach Berlin berief. Die meisten deutschen Staaten folgten dem Beispiele Preußens. Bezeichnend für diese Periode waren die Schriften Klumpps (Das T., ein deutsch-nationales Entwickelungsmoment, Stuttg. 1842) u. Maßmanns (Altes u. Neues vom T., Berl. 1849, u. Lings Schriften über Leibesübung, Magdeb. 1847). Die pädagogisch-technische Umgestaltung des deutschen T-s, namentlich im Interesse der Schulen, erfolgte durch A. Spieß (s.d.), welcher dafür zuerst in der Schweiz, dann in Darmstadt eine umfängliche praktische Wirksamkeit entwickelte. Anknüpfend an Gutsmuths u. Jahns Arbeiten brachte Spieß mehr System in die Behandlung der einzelnen Turnarten u. wußte namentlich das ästhetische Element, der Turnübungen zur Geltung zu bringen. Zu diesem Zwecke bearbeitete er als ganz neue Turnart[71] die Freiübungen (s. unten), welche ohne alle Geräthe eine allseitige turnerische Durchbildung des Körpers in den gewöhnlichen Zuständen des Stehens u. Gehens bewirken. Diese Turnart führte ihn weiter zur Behandlung der Ordnungsübungen, mit deren Hülfe sich eine größere Anzahl von Turnern nach bestimmter u. mannigfach wechselnder Ordnung u. Gliederung bewegt u. gemeinsam turnt. Die Turnübungen an Gerüsten ordnete Spieß nach der Leibesgliederung u. den Bewegungsmöglichkeiten u. war dabei auch auf eine zweckmäßigere Ausbildung der Turngeräthe bedacht. Als wissenschaftliches System legte Spieß seine Reformarbeiten nieder in dem Werke: Die Lehre der Turnkunst, Basel 1840–47, 4 Bde. Für die unterrichtliche Behandlung seines Systems gab Spieß einen praktischen Wegweiser in dem Turnbuch für Schulen als Anleitung für den Turnunterricht durch die Lehrer der Schulen (Basel 1847 u. 1851, 2 Thle.). Das Spießsche T. fand in der Schweiz u. in Deutschland die meiste Verbreitung. 1853 wurden viele Turnvereine in Nordbaiern aufgelöst, weil sie sich statt mit T. vielmehr mit Politik in der oppositionellen Richtung beschäftigt haben sollten. Im Jahr 1850 errichteten die preußische u. sächsische Regierung eigene Turnlehrerbildungsanstalten in Berlin unter Rothstein u. in Dresden unter Kloß, worin 1860 auch die württembergische durch Errichtung einer solchen Anstalt in Stuttgart unter Jäger nachfolgte. Von jetzt ab schieden sich das T. der Schulen u. das Vereinsturnen Erwachsener nach Umfang u. Organisation mehr von einander. Seine gesetzliche Ordnung erhielt das T. als Unterrichtsgegenstand in Preußen nach einem Leitfaden für den Turnunterricht in den preußischen Volksschulen, Berl. 1852, in Sachsen nach einer Anleitung zur Ertheilung des Turnunterrichtes für die Elementarvolksschulen des Königreichs Sachsen von Kloß, Dresd. 1863, in Sachsen-Weimar nach einem Leitfaden für das T. in der Volksschule, von Hausmann, Weimar 1862. Für das T. der Schulen u. die wissenschaftliche Fortbildung des T-s als Erziehungs- u. Gesundheitsmittel erscheint seit 1855 ein eigenes Journal: Neue Jahrbücher für die Turnkunst, herausgegeben von Kloß, Dresden, welches Organ der deutschen Turnlehrerschaft geworden ist; die Turnlehrer Deutschlands hielten Versammlungen in Berlin, Gera u. 1863 in Dresden ab. Die deutschen Turnvereine, welche sich 1863 bis zu einer Anzahl von 1500 mit 180,000 Mitgliedern vermehrt hatten, sind in 15 Kreise vertheilt, ordnen ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten durch einen Fünfzehnerausschuß u. haben ein eigenes Organ: Deutsche Turnzeitung, Leipzig; seit 1863 erscheint auch in Leipzig ein Statistisches Jahrbuch der Turnvereine Deutschlands. Allgemeine deutsche Turnfeste wurden gefeiert 16.–19. Juni 1860 in Koburg, 10.–12. August 1861 in Berlin u. 2.–5. August 1863 in Leipzig. Beim Leipziger Turnfeste waren 23,000 Turner erschienen. Das allgemeine Schauturnen, wie das T. einzelner Vereine zeigte einen bedeutenden Fortschritt in der turnerischen Ausbildung, wie überhaupt das Turnwesen zur Zeit des Leipziger Turnfestes einen bedeutenden Umfang gewonnen hatte. Während man sich früher nur mit Turnplätzen begnügte, haben jetzt die meisten Städte geräumige Turnhallen erbaut, in denen das T. zu jeder Zeit des Jahres unausgesetzt betrieben werden kann.

II. Die gebräuchlichsten Leibesübungen zerfallen in folgende Hauptarten: A) Die Freiübungen (früher Gelenkübungen genannt) ergeben sich als die natürlichsten Bewegungen aus der Gliederung des Körpers u. dessen Bewegungsmöglichkeiten. Sie sollen die Geschmeidigkeit der Gliedmaßen fördern u. dem Turner zur Gewandtheit u. vollen Herrschaft über seinen Körper verhelfen. Dazu werden die verschiedenen Gliederübungen im Stehen, Gehen, Hüpfen, Springen, Laufen u. Drehen beim T. am häufigsten im Takte, selbst unter Gesang- u. Musikbegleitung ausgeführt. Die möglichen deren Verbindungen sind zahllos. Doch wählt man nur die turnschickigen Freiübungen aus, welche körperübend u. schön sind. In Verbindung mit den Ordnungsübungen entstehen durch kunstvolle Combinationen der Freiübungen die Turnreigen, geordnete Bewegungen einer größeren Turnerschaar mit allerlei Schreitungen, wechselnden Aufstellungen u. Verschlingungen der Einzelnen od. einzelner Reihenkörper nach bestimmten rhythmischen Verhältnissen. Vgl. A. Maul, Die Freiübungen u. ihre Anwendung im Turnunterricht, Darmst. 1862; J. C. Lion, Leitfaden für den Betrieb einfacher Ordnungs- u. Freiübungen, Lpz. 1863; H. Rothstein, Anleitung zu Freiübungen, Berl. 1861. B) Bei den Geräthübungen kommen die Freiübungen vielfach zur Anwendung, indem man sich zu ihrer Verstärkung u. Ausführung leicht zu handhabender Turngeräthe bedient, wie Stäbe, Hanteln (engl. Dumbbeles), Stelzen, Kugeln, Keulen, Schwingseile, Wurf- u. Springstäbe; vgl. Hantelbüchlein für Zimmerturner, Lpz. 1860; A. Münchenberg, Das System der Stabübungen, Königsb. 1863; O. Jäger, Ordnungs- u. Freiübungen mit dem kurzen Eisenstabe, Lpz. 1863; H. Rothstein, Die Geräthübungen u. Spiele, Verl. 1862. C) Die Gerüstübungen als die schwersten u. kräftigsten Turnübungen werden an feststehenden Vorrichtungen vorgenommen, wobei der Turner seinen natürlichen Standpunkt auf ebenem Boden aufgibt, um in einer schwierigeren Stellung od. Lage einen noch entschiedeneren Kampf mit der Schwäche od. dem Ungeschick seines Leibes aufzunehmen. Die Hang-, Stemm- u. Sprungkraft werden durch die Gerüstübungen vornehmlich geübt. Dazu dienen als Hauptgerüste der Barren u. das Reck, erstere sind zwei wagerecht parallel laufende Hölzer, je auf zwei vertikal stehenden Hölzern ruhend, ungefähr acht Fuß lang, von verschiedener Höhe, meist aber annähernd in der Brusthöhe des Turnenden; letzteres ist nur ein dergleichen auf zwei Stämmen wagerecht befestigtes Holz, aber bei weitem höher als die Barren, meist um weniges höher, als daß der betreffende Turnende mit hoch ausgestreckter Hand hinauf reichen könnte, um beim Turnen den Erdboden nicht zu berühren; für Schwebe od. Balancirübungen: der Schwebebaum, die Schwebestangen u. Schwebekanten, die Gangschaukel; für Springübungen: der Springgraben mit Springständern u. Springleinen, der Tiefspringel, der Sturmlauf; für Kletter- u. Steigübungen: das Stangengerüst mit einer Zusammenstellung senkrechter u. schräger Kletterstangen, Strickleiter, senkrechte, schräge u. wagerechte Leiter, Knoten- u. Sprossentau, Kletter- u. Steigemaste. Der Rundlauf, die Schweberinge, die Hang- u. Stemmschaukel dienen für Entwickelung der Hang- u. Stemmkraft; zum Voltigiren: Springbock,[72] Springtisch u. Voltigirpferd. Vgl. Kloß, Katechismus der Turnkunst, Lpz. 1861; Rothstein, Anleitung zum Voltigirbock, Berl. 1854; Derselbe, Die gymnastischen Rüstübungen, ebd. 1860; Töppe u. Robolsky, Abbildungen von Turnübungen, ebd. 1845; Dubois-Reymond, Über das Barrenturnen, ebd. 1862. D) Bei den Turnübungen mit Widerstand od. mit gegenseitiger Unterstützung treten mehre Turner in Wechselbeziehung zu einander, theils um ihre Kräfte abzuwägen u. zu stärken, wie beim Ringen, theils um sich gegenseitig bei Ausführung von Leibesübungen zu unterstützen. E) Das Turn- od. Bewegungsspiel hat von jeher als wesentlicher Theil des T-s gegolten. Vgl. Gutsmuths, Spiels zur Übung u. Erholung des Körpers, Stuttg. 1845; Kloß, Das T. im Spiel, Dresd. 1861.

Das in neuerer Zeit allgemeiner gefühlte Bedürfniß des T-s ist wesentlich aus der Erkenntniß hervorgegangen, daß die körperliche Organisation durch geregelte Leibesübungen zu einem Grade der Vervollkommnung gebracht werden könne, wie sie für alle Menschen unter den heutigen Culturzuständen als nothwendig erscheint. Die Wissenschaft, wie die Erfahrung legten es als unzweifelhaft dar, daß der Körper durch geregeltes T. in allen Gliedern mächtig erstarkt, daß ferner die Organe des Blutlaufs, des Athemholens u. der Verdauung, von deren ungestörtem Zusammenwirken die Gesundheit wesentlich abhängt, an Energie zunehmen, daß ein Gefühl von Kraft alle Nerven durchströmt u. sie gegen zahllose Schädlichkeiten abhärtet, denen der Schwache sonst unterliegt. Bes. hob es die neuere Physiologische Schule der Mediciner hervor, wie eine gehörige Leibesbewegung das geeignetste Mittel sei die kommenden Geschlechter mit Kraft, Ausdauer u. freudigem Muthe zu erfüllen. Schreber in Leipzig war ein hervorragender Vorkämpfer dieser Ansicht (vgl. dessen Schriften: Das T. vom ärztlichen Standpunkte zugleich als Staatsangelegenheit, Lpz. 1843; Kinesiatrik od. die gymnastische Heilmethode, ebd. 1852; System der ärztlichen Zimmergymnastik, ebd. 1855; Kallipädie od. die Erziehung zur Schönheit durch naturgemäße Körperbildung, ebd. 1858); Ideler in Berlin baute das System der Diätetik auf die Gymnastik (Handbuch der Diätetik, Berl. 1855). Nicht minder waren Bock in Leipzig, Berend in Berlin, Richter in Dresden u. Andere in ihren Schriften u. Berufsstellungen für Verbreitung des T-s thätig. Diese ärztlichen Stimmen fanden bei Erziehungsbehörden u. Schulmännern Beachtung. Die Pädagogik nahm das T. als Bestandtheil des öffentlichen Unterrichtswesens auf, wegen des heilsamen Einflusses, welchen ein wohlgeordneter Turnunterricht neben seinen körperbildenden Eigenschaften auch auf die Erziehung der Jugend zur Sittlichkeit ausüben kann, indem die Turnanstalt eine Schule der Entschlossenheit u. Geistesgegenwart, der Mäßigung u. Besonnenheit, der Ordnung u. des Gehorsams sein soll. Vgl. Diesterweg, Alaaf Preußen! Zur Begrüßung der neuen Epoche des deutschen Erziehungswesens, Berl. 1842; Trendelenburg, Das T. u. die deutsche Volkserziehung, Frankf. 1843; Breier, Das T. an den öffentlichen Schulen, Oldenb. 1849; Kruhl, Über den sittlichen Werth der gymnastischen Übungen, Leobschütz 1846.

III. Die allgemeine Aufnahme des T-s war von Einfluß auf die Vervollkommnung desselben an sich. Die ursprünglichen empirischen Turnübungen wurden nun nach bestimmten Principien angeordnet, entwickelt, vervollständigt u. zu einem harmonischen Ganzen von innerer u. äußerer Zweckmäßigkeit verarbeitet, wobei Einsicht in die Natur der Bewegung wie in die Beschaffenheit des menschlichen Organismus maßgebend waren. Es entwickelte sich so ein rationelles T. als das System einer naturgemäßen, anatomisch-physiologisch begründeten Lehre u. Kunst der Leibesübungen. Nach ihrer verschiedenen Anwendung erhielten die Leibesübungen außer ihrer pädagogisch-diätetischen Richtung noch ihre besondere Gestaltung: A) Als Wehrturnen, welches die besonderen Turnübungen behandelt, welche zur Erhöhung der Wehrtüchtigkeit des Einzelnen nach den Forderungen der heutigen Kriegsführung dienen. Vgl. A. Werner, Militärgymnastik, Lpz. 1844; C. von Olberg, Anleitung zur Militärgymnastik, Berl. 1845; Rothstein Wehrgymnastik, ebd. 1851; Die Gymnastik in der Armee, ebd. 1858; Keil, Wehrturnbuch, Potsdam 1850; Kloß, Die Turnschule des Soldaten, Lpz. 1860; Instruction pour l'enseignement de la gymnastique dans les corps de troupes et les établissements militaires, Par. 1847. B) Das Heilturnen od. die Heilgymnastik, wodurch gelehrt wird, wie durch wohlberechnete Leibesübungen Krankheiten beseitigt werden. Alle Krankheiten, deren Entstehung von mangelnder Bewegung herzuleiten ist, sind auch durch Heilgymnastik heilbar, zu welchem Zwecke besondere Bewegungsformen erfunden worden sind, die man duplicirte Bewegungen od. Widerstandsbewegungen nennt. Namentlich bei Brust- u. Unterleibskrankheiten, bei Blutstockungen u. fehlerhafter Blutmischung leistet die Heilgymnastik gute Dienste. Wo es gilt Verbildungen des Körpers in Folge von Muskelschwäche od. Knochenverbildung herzustellen, hat man eine eigene Kunst als Orthopädie (s.d.) unterschieden. In Folge der Vernachlässigung der Leibesübungen bekamen die Orthopädischen Institute aller Orten viel zu thun, um die Verkrümmungen u. Mißbildungen des Körpers zur natürlichen Wohlgestalt zurückzubilden. Das Heilturnen ist schon lange in Gebrauch gewesen; Asklepiades, Celsus u. Mercurialis trieben dasselbe schon im Alterthum; mit Sydenham, Fuller u. Tissot ist es auf die Neuzeit gekommen. Vgl. Tissot, Medicinische u. chirurgische Gymnastik, 1782; A. C. Neumann, Die Heilgymnastik, Berl. 1852; H. Rothstein, Die Heilgymnastik, ebd. 1847; Eulenburg, Die Heilung der chronischen Unterleibsbeschwerden durch Heilgymnastik, ebd. 1856; R. Ritzsche, Heilgymnastische Hausbücher, Dresd. 1861. C) Eine weibliche Turnkunst hat man bes. unterschieden, insofern die Rücksichtnahme auf die weibliche Organisation u. weibliches Wesen überhaupt eine eigene Auswahl der Turnübungen nöthig machten. Mit der kunstgemäßen Ausbildung des T-s hat auch das Mädchen turnen mehr Eingang u. Verbreitung in der Privaterziehung, wie bei den öffentlichen Schulen gefunden. Dem weiblichen T. sind nach Art u. Umfang der Übungen die Grenzen viel enger gesteckt; bei ihm tritt bes. der ästhetische Charakter des T-s hervor. Vgl. Klias, Kallisthenie od. Übung zur Schönheit u. Kraft für Mädchen, Bern 1829; Werner, Gymnastik für die weibliche Jugend, Meißen 1834; Richter, Über weibliche Schönheit vom turnärztlichen Standpunkte, Dresd. 1849;[73] Kloß, Die weibliche Turnkunst, Lpz. 1855; Weibliche Hausgymnastik, ebd. 1860; Das T. in den Spielen der Mädchen, Dresd. 1862. D) Unter der Schwedischen Gymnastik ist das gymnastische System zu verstehen, welches den Schweden P. H. Ling (s.d.) zum Urheber hat. Durch die Gutsmuthschen Schriften angeregt, richtete er sein Augenmerk auf die Wirkungen der Bewegungen u. gründete die Gymnastik auf die Gesetze der Anatomie u. Physiologie. Mit Hülfe der Naturwissenschaften u. der Bewegungslehre des menschlichen Körpers entwickelte er die Sache immer mehr als Bildungsmittel für Gesunde, wie als Heilmittel für Kranke, so daß die schwedische Negierung Veranlassung fand, 1814 auf Staatskosten eine Centralturnanstalt in Stockholm zu errichten. Hier bildete nun Ling seine Ideen aus zu einem anatomisch-physiologisch begründeten, organisch gegliederten u. methodisch vorschreitenden Systeme der Körperausbildung durch schulgerechte Kraftübungen. Außer den Bewegungsformen der Turnschule erfand Ling noch eine neue Art der Übungen in den sogenannten Stöd- od. Stützübungen, auch duplicirte u. Widerstandsbewegungen genannt, wobei zwei od. mehr Turner in Wechselbeziehung zu einander treten, um durch Widerstand od. Unterstützung die Wirkungen der Muskelübung u. erhöhen; der Eine hält z.B. die Arme gebeugt zum Hochstrecken fertig, während der Andere von hinten hinzutritt, die Handgelenke des Ersten erfaßt u. nun dem Hochstrecken einen angemessenen Widerstand entgegensetzt, so daß von beiden Seiten ein Aufwand von Kraft erforderlich wird. Dieses Princip der Muskelübung durch den zu überwindenden Widerstand der Muskelkraft eines anderen Organismus bildete Ling bis ins Einzelne aus u. erfand eine große Anzahl solcher Bewegungen (vgl. R. Nitzsche, Die duplicirten Widerstandsbewegungen, Dresd. 1861). In Verbindung mit diesen Bewegungen wandte Ling noch andere Manipulationen an, um die Wirkungen der Leibesübung zu erhöhen; z.B. Klatschungen, Klopfungen, Erschütterungen, Wallungen, Reibungen des Körpers od. einzelner Glieder. Diese Eigenthümlichkeit der Schwedischen Gymnastik machte dieselbe vorwiegend für Heilzwecke brauchbar, hatte aber auch auf eine rationelle Gestaltung des Gesundenturnens Einfluß. Man erfuhr von derselben zuerst durch die Schrift: Die schwedische nationale u. medicinische Gymnastik, von Richter, Dresd. 1845. Die preußische Regierung nahm officiell davon Notiz, indem sie zwei Offiziere in Stockholm zu Turnlehrern ausbilden ließ, von denen der eine, H. Rothstein, 1849 Dirigent der neuerrichteten Centralturnanstalt in Berlin wurde. Rothstein arbeitete das System Lings durch (Die Gymnastik nach dem Systeme des schwedischen Gymnasiarchen Ling, Berl. 1847–1852) u. suchte es in Preußen einzuführen, wobei er aber viel Widerspruch fand. Namentlich für das T. der Schulen wie der Erwachsenen hielt man das Schwedische T. für zu langweilig, da hier die Turnkunst als fröhliche Brauchkunst des Lebens in eine abstracte Muskellogik umgewandelt sei. Rothstein gründete auch 1853 ein eigenes Journal für die Schwedische Gymnastik: Athenäum für rationelle Gymnastik, Berl., welches aber 1856 wieder einging. Der wissenschaftliche Streit über die Grundsätze des schwedischen u. deutschen T-s wurde in zahlreichen Broschüren u. Schriften fortgeführt, wobei man zu dem Resultate gelangte, daß das inzwischen auch vervollkommnete deutsche T. für die Jugend u. die Erwachsenen brauchbarer sei, als die Schwedische Gymnastik, welcher man jedoch das Verdienst ließ nachdrücklichst die Wichtigkeit der Gymnastik für Therapie hervorgehoben u. allseitigere Übung derselben angeregt zu haben. Schriften gegen die Schwedische Gymnastik: Die deutsche Turnkunst u. die Ling-Rothstein'sche Gymnastik, Berl. 1861; Meyer, Die neuere Gymnastik u. deren therapeutische Bedeutung, Zür. 1857; Kloß, Die Barrenübungen der deutschen Turnschule vor dem Richterstuhle der Kritik, Dresd. 1861; Dubois-Reymond, Über das Barrenturnen u. die sogenannte rationelle Gymnastik, Berl. 1862; Derselbe, Rothstein u. der Barren, ebd. 1862; Friedrich, Die Heilgymnastik in Schweden u. Norwegen, Dresd. 1855; v. Angerstein, Die Schwedische Gymnastik im preußischen Staate, Köln 1861; für die Schwedische Gymnastik schrieben: Eulenburg, Über Wesen u. Ziel der pädagogischen Gymnastik u. deren Verhälniß zur Schwedischen Heilgymnastik, Berl. 1857; H. Steudel, Praktik der Heilgymnastik, Stuttg. 1860; G. Kaiser, Das Rothstein'sche System der Gymnastik in seinem Verhältnisse zur deutschen Turnkunst, Berl. 1861; H. Rochstein, Die Barrenübungen, ebd. 1862. In neuerer Zeit hat man auch bei den verschiedenen deutschen Armeen das T. fast allgemein eingeführt, namentlich seitdem Rothstein als Director der Berliner Centralturnanstalt die Anregung dazu gab. Das Militärturnen weicht in mehren wesentlichen Punkten von dem gewöhnlichen T. ab u. nähert sich im Allgemeinen mehr dem Schwedischen als dem Deutschen.

IV. Deutschland ist das Stammland des neueren T-s für alle Völker geworden, bei denen sich Männer fanden, welche die Gutsmuth'schen u. Jahn'schen Ideen u. Schriften nach ihrer landesüblichen Weise verarbeiteten. In Dänemark wurde das T. zeitig durch Nachtegall eingeführt. Für die Schweiz wurde H. Klias der erste Vertreter des T-s; vgl. dessen Anfangsgründe der Gymnastik od. Turnkunst, Bern. 1816; Traité élémentaire de gymnastique rationelle, Genf 1853. Neuerdings ist das T. in den Schulen wie in Vereinen in der Schweiz allgemeiner geworden u. J. Niggeler gibt in Zürich eine Schweizerische Turnzeitung heraus. In Frankreich tritt die Gymnastik gleichzeitig mit Jahn auf. Das erste französische Turnwerk von F. Amoros, Manuel d'éducation physique, gymnastique et morale, bildet die Grundlage für spätere französische Turnschriften, von denen noch hervorzuheben ist: Laisné, Gymnastique practique, Par., 1850. Das Militärturnen ist in Frankreich sehr ausgebildet u. die oben angeführte Instruction gilt im Auszuge auch für die Schulen. Großartige Turnanstalten bestehen in Paris; M. Triat ist ein hervorragender Turnlehrer. In England sind an Stelle des T-s mancherlei Turnspiele gebräuchlich, unter denen das Cricket hervorragt. In London bestehen mehre Turnanstalten, namentlich die von Chiosso, welcher durch die Schrift: Gymnastics, an essential branche of National-education etc., Lond. 1854, bekannt geworden. In Familien u. Pensionen sind eine Art von Freiübungen im Gebrauche, mit deren Hülfe allerlei Stellungen u. Bewegungen durchgenommen werden; vgl. Laspée, Calisthenics; or the elements of bodily culture, Lond. 1856. Neuerdings ist[74] in London ein deutscher Turnverein entstanden, welcher eine Deutsche Turnzeitung herausgibt. In Amerika ist das T. durch deutsche Auswanderer eingebürgert worden; zahllose Turnvereine sind, ganz den deutschen nachgebildet, dort entstanden u. fast bei allen Culturvölkern findet gegenwärtig das T. Aufnahme.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 70-75.
Lizenz:
Faksimiles:
70 | 71 | 72 | 73 | 74 | 75
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Anselm von Canterbury

Warum Gott Mensch geworden

Warum Gott Mensch geworden

Anselm vertritt die Satisfaktionslehre, nach der der Tod Jesu ein nötiges Opfer war, um Gottes Ehrverletzung durch den Sündenfall des Menschen zu sühnen. Nur Gott selbst war groß genug, das Opfer den menschlichen Sündenfall überwiegen zu lassen, daher musste Gott Mensch werden und sündenlos sterben.

86 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon