Waisen [1]

[759] Waisen, sind Kinder od. junge Leute, welchen vor ihrem Mündigwerden beide Eltern gestorben sind. Mit Wittwen u. W. wurde es im Alterthum in verschiedenen Staaten verschieden gehalten; z.B. in Sicilien beanspruchte unter der Regierung des Dionysius die Zinsen ihres Vermögens der König so lange, bis sie mündig wurden; in Korinth wurden die Pferde für die Reiterei von den eigens dazu umgelegten Steuern von Wittwen u. W. erhalten, ein Gebrauch, welchen auch Servius Tullius in der römischen Verfassung einführte, welchen aber P. Val. Publicola aufhob. Dagegen war Schutz u. Erziehung der W. schon in Athen ein Gegenstand der öffentlichen Sorge, u. Vormünder (Epitropoi Orphanon) zu bestellen war die Sache des ersten Archon; besondere Orphanophylakes (Waisenhüter) sorgten für den Unterhalt der W. der im Kriege Gebliebeyen auf öffentliche Kosten. Unrichtig werden von Einigen die bei den Römern seit Nerva vorkommenden Alimentationen, d.h. Stiftungen von Capitalien zur Erziehung unbemittelter freigeborener Kinder, auf die W. bezogen, wenigstens waren diese Stiftungen weder für W. bestimmt, noch auf dieselben beschränkt, sondern dadurch sollte, bei der immermehr wahrgenommenen Abnahme der römischen Bürgerschaft, der Abschluß legitimer Ehen begünstigt u. kinderreiche Familien belohnt u. bevorzugt werden. Erst durch das Christenthum wurde nach dem apostolischen Grundsatze, daß ein wahrer Gottesdienst sei über Wittwen u. W. in ihrer Noch Obsorge zu tragen, eine specielle Sorge zugleich mit den Armen, Kranken, Wittwen u. Verlassenen auf die W. verwendet u. besondere Waisenpfleger (Orphanotrophoi) angestellt u. Waisenhäuser (Orphanotropheia) errichtet. Nach der Regel des St. Basilius im 4. Jahrh. sollten verwaiste Kinder in den Klöstern freiwillig aufgenommen u. mit den andern, von deren Eltern dahin gebrachten Kindern erzogen werden. Auch soll von St. Basilius ein eignes Waisenhaus zu Cäsarea in Kappadocien gegründet u. vom Kaiser Valens u. reichen Privaten beschenkt worden sein, wie überhaupt später von den byzantinischen Kaisern, namentlich von Anastasius II. u. Leo III. auch gesetzlich für solche Kinder u. solche Anstalten gesorgt u. von Alexios 1090 ein Waisenhaus in Constantinopel gebaut wurde. Besonders erwarben sich in Europa im Mittelalter die durch Handel u. Gewerbe blühenden Städte um Waisenhäuser große Verdienste. In Deutschland kamen die ersten Waisenhäuser in den Reichsstädten vom 16. Jahrh. auf, namentlich wurde 1572 eins in Augsburg errichtet. In der Zeit des Spenerschen Pietismus wurden nach dem Muster des von A. H. Francke (s.d.) in Halle 1698 eingerichteten Waisenhauses mehre Waisenhäuser gestiftet. Die Waisenhäuser müssen, zur besseren Verpflegung u. Beschäftigung der Kinder, an einem gesunden, freien Orte liegen u. einen Hof u. Garten enthalten. Im Inneren müssen sich befinden: ein Schulsaal (zugleich., Betsaal), ein Speisesaal (zugleich zu körperlichen Übungen der Kinder), wenigstens zwei Schlafsäle, je einer für Knaben u. für Mädchen, außerdem die amtlichen Wohnungen. In neuerer Zeit sind die Waisenhäuser da, wo nicht besondere Stiftungen vorlagen, in Folge der veränderten Gesetzgebung über das Armenwesen zuweilen oft an die Communen übergegangen, indem denselben die Sorge für die W. obliegt. Man hat neuerlich gegen die Waisenhäuser mehrfache Bedenken erhoben u. es als schwierig bezeichnet einer so großen Zahl von Kindern die rechte leibliche u. geistige Pflege zu gewähren. Auch sei es bedenklich die Kinder aus ihrem gewöhnlichen Lebenskreise herauszuführen. Deshalb sucht man sie lieber in christlichen Familien unterzubringen. Im Königreich Sachsen werden W. seit 1830 bes. bei Familien auf dem Lande, u. zwar mehre bei verschiedenen Familien desselben Dorfes, untergebracht u. zur Landwirthschaft erzogen; solche gewissermaßen Waisencolonien gibt es bes. in Maxen, Dohna, Kötschenbroda, Burckartswalde. Man hat auch Militärwaisenhäuser, wo die Knaben für den Soldatenstand erzogen u. frühzeitig zum Militärleben gewöhnt werden. Ein solches ist in Potsdam, ein anderes (sonst königlich sächsisch) in Annaburg. Auch gibt es in den Fliednerschen Anstalten ein Waisenstift für evangelische verwaiste Töchter von Pfarrern, Lehrern u. gebildeten Familien, welche in einer eigenen Waisenschule eine Erziehung erhalten, wie sie für den Mittelstand Paßt. Über die mit den Waisenhäusern oft verbundenen Findelhäuser s.d. Vgl. Über die Erziehung der W. in gewöhnlichen Waisenhäusern od. durch einzelne Beköstigung, Hamb. 1780 (Preisschrift); Goldbeck, Über die Erziehung der Waisenkinder, ebd. 1781; Rulf, Wie sind Waisenhäuser anzulegen? Gött. 1783; Riecke, Soll man Waisenhäuser beibehalten? Stuttg. 1806; Pflaum, Über Einrichtung der Waisenhäuser, ebd. 1815; Kröger, Archiv für Waisen- u. Armenerziehung, Hamb. 1826–28, 2 Bde.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 18. Altenburg 1864, S. 759.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika