Geometrie

[389] Geometrie, die Lehre von den räumlichen Gebilden.

Uebersicht.

Man unterscheidet zunächst nach der Dimension: Geometrie der geraden Linie (Longimetrie), der Ebene (Planimetrie, vgl. Flächenberechnung), des Raumes (Stereometrie, s.d.) und der höheren Räume (s. Geometrie, nichteuklidische). Eine zweite Einteilung bezieht sich auf die Eigenschaften der geometrischen Gebilde: die Geometrie der Lage (neuere, projektivische, organische Geometrie) behandelt die durch Projektion unzerstörbaren, die Geometrie des Maßes die übrigen Eigenschaften der Raumgrößen. Hierzu kommen noch zwei besondere Lehrfächer: die abzählende Geometrie, die nur nach der Zahl der Lösungen fragt, die gewisse geometrische Aufgaben besitzen (z.B. die Zahl der Geraden, die zwei Kegelschnitte berühren), und die Topologie (Analysis situs), die vom Zusammenhang der räumlichen Gebilde, insbesondere der Flächen handelt. – Nach der Methode unterscheidet man ferner:

Die synthetische Geometrie, die sich auf die reine Anschauung stützt und sich der Konstruktion, nicht aber der Rechnung bedient. Als Hilfsmittel für die räumliche Konstruktion dient ihr die darstellende (deskriptive) Geometrie (Perspektive, Axonometrie), bei der die eigentlich im Raum auszuführende Konstruktion an ebenen Projektionen der Raumgebilde vorgenommen wird.

Die algebraische Geometrie, die ebenfalls von einer Figur ausgeht, aber die Strecken, Winkel u.s.w. derselben durch Gleichungen miteinander in Verbindung setzt und die unbekannten Stücke aus diesen berechnet. Zu derselben gehört die Trigonometrie (s.d.) und die Polygonometrie (s.d.), die es mit Winkelgrößen zu tun haben; ferner der geometrische Kalkül (s.d.) (Ausdehnungslehre, Streckenrechnung, Quaternionentheorie), der die Strecken u.s.w. nicht nur ihrer Größe nach, sondern auch ihrer Lage nach in die Rechnung einführt.

Die analytische Geometrie, welche die geometrischen Elemente (Punkt, Gerade, Ebene) durch gewisse Bestimmungsstücke (Koordinaten) festlegt, die geometrischen Gebilde durch Gleichungen zwischen diesen Koordinaten bestimmt und alsdann lediglich mit diesen Gleichungen weiter operiert.

In pädagogischer Beziehung wird die Geometrie des Punktes, der geraden Linie, der Ebene, des Kreises, der Kugel, des Kreiszylinders und des Kreiskegels als elementare Geometrie der höheren Geometrie gegenübergestellt. Endlich tritt der theoretischen (reinen) Geometrie eine angewandte Geometrie zur Seite; zu derselben gehören die praktische Geometrie (Feldmeßkunst), die sich mit der Messung der Figuren auf der Erdoberfläche befaßt (bei der höheren Geodäsie wird auch auf die Krümmung der Erde Rücksicht genommen), ferner die Kinematik (Phoronomie), welche die Geometrie der in. Bewegung befindlichen räumlichen Gebilde behandelt (im Gegensatz zur Mechanik wird hierbei von den Ursachen dieser Bewegung, den Kräften, abgesehen); endlich die Kristallographie (s.d.) als Anwendung der Geometrie auf die Gestalt der Mineralien.


Literatur: Von den angeführten Werken behandeln [1]–[8] die elementare Geometrie ([7] und [8] sind für Vorgerücktere bestimmt), [9], [30]–[32] die Geometrie der Lage, [10] diejenige des Maßes, [11] die abzählende Geometrie, [12], [34] die Topologie, [13]–[15] die synthetische, [16]–[20] die darstellende Geometrie, [21]–[23] den geometrischen Kalkül ([23] dient zur Einführung), [24]–[29], [35]–[40] die analytische Geometrie ([27]–[29], [35], [36] sind mehr elementar gehalten). – [1] Heis u. Eschweiler, Lehrbuch der Geometrie, 1. Teil (Planimetrie), 7. Aufl., Köln 1881, 2. Teil (Stereometrie), 7. Aufl., Köln 1881. – [2] Holzmüller, G., Methodisches Lehrbuch der Elementarmathematik, 1. Teil, 2. Aufl., Leipzig 1895; 2. Teil, Leipzig 1894; 3. Teil, Leipzig 1895. – [3] Reidt, Elemente der Mathematik, 2. Teil (Planimetrie), 11. Aufl., Berlin 1890, 3. Teil (Stereometrie), 6. Aufl., Berlin 1891. – [4] Kambly, Die Elementarmathematik für den Schulunterricht bearbeitet, II (Planimetrie), IV (Stereometrie), Breslau 1900. – [5] Spieker, T., Lehrbuch der ebenen Geometrie, 24. Aufl., Potsdam 1899. – [6] Kommerell-Hauck, Lehrbuch der Stereometrie, 18. Aufl., Tübingen 1900. – [7] Baltzer, Elemente der Mathematik, Bd. 2, 6. Aufl., Leipzig 1883. – [8] Rausenberger, Die Elementargeometrie des Punktes, der Geraden und der Ebene, Leipzig 1887. – [9] v. Staudt, Geometrie der Lage, Nürnberg 1847; Beiträge zur Geometrie der Lage, 3 Hefte, Nürnberg 1856–60. – [10] Schlömilch, O., Grundzüge einer wissenschaftlichen Darstellung einer Geometrie des Maßes, 1. Teil, 1. Heft (Planimetrie), 7. Aufl., Leipzig 1888, 2. Heft (ebene Trigonometrie), 6. Aufl., Leipzig 1883, 2. Teil (Geometrie des Raumes), 3. Aufl., Leipzig 1874. – [11] Schubert, H., Kalkül der abzählenden Geometrie, Leipzig 1879. – [12] Dingeldey, Topologische Studien über die aus ringförmigen, geschlossenen Bändern durch gewisse Schnitte erzeugbaren Gebilde, Leipzig 1890. – [13] Seeger, Die Fundamentaltheorien der neueren Geometrie, Braunschweig 1880. – [14] Reye, Geometrie der Lage, Bd. 1–3, 3. Aufl., Leipzig 1886–92. – [15] Steiner, Vorlesungen über synthetische Geometrie, 1. Teil, Die Theorie der Kegelschnitte in elementarer Darstellung, bearbeitet von C. s. Geifer, 3. Aufl., Leipzig 1887; 2. Teil, Die Theorie der Kegelschnitte, gestützt auf projektivische Eigenschaften, bearbeitet von H. Schröter, 13. Aufl., Leipzig 1898. – [16] Gugler, B., Lehrbuch der deskriptiven Geometrie, Stuttgart 1874. – [17] Fiedler, W., Die darstellende Geometrie in organischer Verbindung mit der Geometrie der Lage, Bd. 1–3, 3. Aufl., Leipzig 1883–88. – [18] Peschka, G.A., Darstellende u. projektive Geometrie, Bd. 1–4, Wien 1882–85. – [19] Sturm, R., [389] Elemente der darstellenden Geometrie, Leipzig 1874. – [20] Wiener, Chr., Lehrbuch der darstellenden Geometrie, Bd. 1 u. 2, Leipzig 1884–87. – [21] Graßmann, H., Lineale Ausdehnungslehre, 2. Aufl., Leipzig 1878. – [22] Unverzagt, Theorie der goniometrischen und longimetrischen Quaternionen, Wiesbaden 1876. – [23] Kraft, Abriß des geometrischen Kalküls, Leipzig 1893. – [24] Clebsch, A., Vorlesungen über Geometrie, herausgegeben von Lindemann, Bd. 1, Leipzig 1876, Bd. 2, 1. Teil, Leipzig 1891. – [25] Salmon, G., Analytische Geometrie der Kegelschnitte, bearbeitet von Fiedler, 5. Aufl., Bd. 1 u. 2, Leipzig 1887–88; Analytische Geometrie der höheren ebenen Kurven, deutsch von Fiedler, 2. Aufl., Leipzig 1882; Analytische Geometrie des Raumes, deutsch von Fiedler, 4. Aufl., Bd. 1 u. 2, Leipzig 1880–98. – [26] Hesse, O., Vorlesungen aus der analytischen Geometrie der geraden Linie, des Punktes und des Kreises in der Ebene, 3. Aufl., Leipzig 1881; Sieben Vorlesungen aus der analytischen Geometrie der Kegelschnitte, Leipzig 1874; Vorlesungen über analytische Geometrie des Raumes, 3. Aufl., Leipzig 1876. – [27] Fort, O., u. Schlömilch, O., Lehrbuch der analytischen Geometrie, 1. Teil, 6. Aufl., Leipzig 1893; 2. Teil, 6. Aufl., Leipzig 1898. – [28] Ganter, H., u. Rudio, F., Die Elemente der analytischen Geometrie der Ebene, 5. Aufl., Leipzig 1903. – [29] Rudio, F., Die Elemente der analytischen Geometrie des Raumes, 3. Aufl., Leipzig 1900. – [30] Cremona, L., Elemente der projektivischen Geometrie, deutsch von Trautvetter, Stuttgart 1882. – [31] Enriques, F., Vorlesungen über projektivische Geometrie, deutsch von Fleischer, Leipzig 1903. – [32] Sachs, J., Lehrbuch der projektivischen Geometrie, Bd. 1–3, Stuttgart 1900–06. – [33] Pasch, M., Vorlesungen über neuere Geometrie, Leipzig 1882. – [34] Poincaré, H., Analysis situs, Paris 1896. – [35] Cranz, H., Lehrbuch der analytischen Geometrie der Ebene, Bd. 1 u. 2, Stuttgart 1892–94. – [36] Dziobek, O., Lehrbuch der analytischen Geometrie, Bd. 1 u. 2, Braunschweig 1900–02. – [37] Hochheim, A., Aufgaben aus der analytischen Geometrie der Ebene, Bd. 1–3, 2. Aufl., Leipzig 1886–98. – [38] Killing, W., Lehrbuch der analytischen Geometrie in homogenen Koordinaten, Bd. 1 u. 2, Paderborn 1900–01. – [39] Klein, F., Vorlesungen über höhere Geometrie, Bd. 1 u. 2, Leipzig 1892–93. – [40] Schur, F., Lehrbuch der analytischen Geometrie, Leipzig 1898. – [41] Thomae, J., Grundriß einer analytischen Geometrie der Ebene, Leipzig 1906. – [42] Staude, O., Analytische Geometrie des Punktes, der geraden Linie und der Ebene, Leipzig 1905.

Wölffing.

Geometrie, analytische. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, aus der Gleichung (bezw. den Gleichungen) eines geometrischen Gebildes, z.B. einer Kurve in rechtwinkligen Koordinaten, die Eigenschaften desselben auf dem Wege der Rechnung abzuleiten. Dabei geht man gewöhnlich vom allgemeinen Fall, z.B. der Gleichung zweiten Grades in x und y mit beliebigen Koeffizienten, aus und gewinnt die verschiedenen Sonderfälle durch systematische Auswahl oder Einschränkung der Konstanten der Gleichung.

Finsterwalder.

Geometrie, darstellende, einerseits die Wissenschaft, welche Mittel und Wege angibt zur Durchführung raumgeometrischer Konstruktionen, anderseits die konstruktive Erforschung der geometrischen Eigenschaften der Raumgebilde und deren Beziehungen zueinander zum Ziele hat.

Sie zerfällt in zwei Hauptteile, nämlich in die Lehre von den Methoden der graphischen Darstellung der Raumgebilde und in die eigentliche Raumgeometrie. Das Mittel zur graphischen Darstellung eines räumlichen Objektes bietet dessen Projektion auf eine oder mehrere Ebenen. Man unterscheidet eine Reihe von Projektionsmethoden, von welchen die folgenden die wichtigsten sind: 1. Die Zentralprojektion; ein Punkt im Räume, das Projektionszentrum, wird mit sämtlichen Punkten des räumlichen Gegenstandes durch gerade Linien, Projektionsstrahlen, verbunden und deren Schnittpunkte mit der Zeichnungsebene (Projektionsebene) bestimmt. Die Gesamtheit aller dieser Schnittpunkte bildet die Zentralprojektion des räumlichen Objektes. 2. Die Parallelprojektion; die Projektionsstrahlen sind sämtlich zueinander parallel und stehen entweder rechtwinklig oder schiefwinklig zur Projektionsebene; im ersten Falle hat man die rechtwinklige, im zweiten die schiefwinklige Parallelprojektion; s.a. Projektion und Projektionslehre.


Literatur: [1] Monge, Leçons de géométrie descriptive, Paris 1795 (erstes wissenschaftliches Werk über darstellende Geometrie, als deren Begründer Monge, Professor an der Polytechnischen Schule zu Paris, gilt). – [2] Leroy, Traité de géométrie descriptive, deutsch von Kauffmann. – [3] De la Gournerie, Traité de géométrie descriptive, Paris 1885. – [4] Mannheim, Cours de géométrie descriptive, Paris 1860. – [5] Schreiber, G., Lehrbuch der darstellenden Geometrie (nach Monge, Geometrie descriptive), Karlsruhe 1829. – [6] Gugler, Lehrbuch der beschreibenden Geometrie, Stuttgart 1880. – [7] Klingenfeld bezw. Marx, Lehrbuch der darstellenden Geometrie, Nürnberg 1874 u. 1885. – [8] Pohlke, Darstellende Geometrie, Berlin 1860–76. – [9] Fiedler, Die Methode der darstellenden Geometrie und die Elemente der projektiven Geometrie, Leipzig 1884. – [10] Peschka, Darstellende und projektive Geometrie, Wien 1883. – [11] Vonderlinn, Lehrbuch des Projektionszeichnens, Stuttgart 1888–1904. – [12] Rohn und Papperitz, Darstellende Geometrie, 1893–96.

Vonderlinn.

Geometrie, nichteuklidische. Neben der gewöhnlichen sogenannten euklidischen Geometrie, in der die gerade Linie einen einzigen unendlich fernen Punkt besitzt, existieren noch zwei weitere Möglichkeiten, ein einwandfreies System der Geometrie zu begründen. Bei der elliptischen Geometrie Riemanns hat die Gerade gar keinen unendlich fernen Punkt, zwei gerade Linien schließen eine endliche Fläche ein und die Winkelsumme im Dreieck ist größer als zwei Rechte. Die hyperbolische Geometrie Lobatschewskys dagegen schreibt der Geraden zwei unendlich ferne Punkte zu, die Winkelsumme im Dreieck ist kleiner als zwei Rechte und das sogenannte Parallelenaxiom Euklids, wonach zwei Gerade in einer Ebene, die von einer dritten so geschnitten werden, daß die auf einer Seite liegenden inneren Winkel zusammen kleiner als zwei rechte sind, sich schneiden müssen, verliert seine Gültigkeit Beide geometrischen Systeme, die vollkommen widerspruchsfrei durchgeführt werden konnten, heißen zusammen nichteuklidische Geometrie im engeren Sinne. Sie lassen sich allerdings nicht[390] In der Ebene verwirklichen, wohl aber die elliptische auf der Kugelfläche, die hyperbolische auf der sogenannten Pseudosphäre mit konstantem negativen Krümmungsmaß, d.h. auf der Umdrehungsfläche der Traktrix um ihre Achse. Hierbei treten an Stelle der Geraden geodätische Linien.

Zur nichteuklidischen Geometrie im weiteren Sinn gelangt man durch Uebertragung dieser Betrachtungen in den dreidimensionalen Raum. Man wird hierbei zur Annahme von »gekrümmten« Räumen geführt, die unserm gewöhnlichen sogenannten »ebenen« Raum gegenüberstehen. Diese setzen selbst einen »vierdimensionalen« Raum oder besser eine vierdimensionale Mannigfaltigkeit voraus, in der alle diese Räume enthalten sind. In einer solchen Mannigfaltigkeit ist ein Punkt durch vier unabhängige Koordinaten bestimmt, an Stelle der Polyeder treten Vielzelle oder Polytope, die von gewöhnlichen Polyedern begrenzt sind. Ebenso werden fünf- und allgemein n-dimensionale Mannigfaltigkeiten hinsichtlich ihrer geometrischen Eigenschaften studiert.

Die nichteuklidische Geometrie dient zunächst dem Mathematiker, um allgemeine Sätze der Analysis in geometrischer Einkleidung auszusprechen und begrifflich zu deuten. Ob aber die nichteuklidische Geometrie in der Natur verwirklicht sein und ob insbesondere eine vierte Dimension existieren kann, das sind Fragen, deren Beantwortung nach dem gegenwärtigen Stand unsrer Kenntnisse man in [9]–[11] behandelt findet.


Literatur: [1] Clebsch, A., Vorles. über Geometrie, Leipzig 1891, Bd. 2, 1. Hälfte, 3. Abt. – [2] Frischauf, Elemente der absoluten Geometrie, Leipzig 1876. – [3] Killing, Die nichteuklidischen Raumformen in analytischer Behandlung, Leipzig 1885. – [4] Karagiannides, Die nichteuklidische Geometrie vom Altertum bis zur Gegenwart, Berlin 1893. – [5] Veronese, Grundzüge der Geometrie von mehreren Dimensionen, deutsch von Schepp, Leipzig 1894. – [6] Killing, Einführung in die Grundlagen der Geometrie, I, Paderborn 1893. – [7] Brückner, Die Elemente der vierdimensionalen Geometrie mit besonderer Berücksichtigung der Polytope, Zwickau 1894. – [8] Schlegel, V., Ueber den sogenannten vierdimensionalen Raum, Allg.-verst. nat. Abb., 1. Heft, 1888. – [9] Simon, Zu den Grundlagen der nichteuklidischen Geometrie, Straßburg 1891. – [10] Cranz, Gemeinverständliches über die sogenannte vierte Dimension, Samml. gemeinv. wiss. Vorträge von Virchow und Holtzendorf, Heft 112–113, 1891. – [11] Wölffing, Die vierte Dimension, »Die Umschau« 1897, Nr. 18. – [12] Klein, F., Vorlesungen über nichteuklidische Geometrie, I–II, Leipzig 1889/90. – [13] Großmann, M., Die fundamentalen Konstruktionen der nichteuklidischen Geometrie, Frauenfeld 1904. – [14] Liebmann, H., Nichteuklidische Geometrie, Leipzig 1905. – [15] Schoute, P.H., Mehrdimensionale Geometrie, I–II, Leipzig 1902–05.

Wölffing.

Geometrie, synthetische. Der Aufbau der synthetischen Geometrie beginnt mit der Festlegung der einfachsten Grundbegriffe sowie der Gesetze ihrer Verknüpfung. Er schreitet auf Grund derselben zu verwickelteren Gebilden vor, deren Eigenschaften aus der Art ihrer Zusammensetzung erschlossen werden. In diesem Sinne ist auch die euklidische Geometrie der Alten hauptsächlich synthetische Geometrie. Gegenwärtig verlieht man aber unter synthetischer Geometrie zumeist die von Poncelet, J. Steiner, Chasles und v. Staudt im Laufe des 19. Jahrhunderts begründete neuere synthetische Geometrie. Für sie sind besonders die beiden Gesichtspunkte der Projektivität und des Dualismus bezeichnend. Dadurch, daß z.B. die Geometrie der Ebene ausschließlich auf die Operationen des geradlinigen Verbindens von Punkten und des Schneidens von Geraden aufgebaut wird, sind ihre Sätze unabhängig von der besonderen Lage der Grundgebilde und gelten insbesondere für jede aus einer Figur durch Zentralprojektion entstandene neue (Projektivität). Anderseits kann jeder in der angegebenen Weise aus Punkten und Geraden aufgebauten Figur eine zweite an die Seite gestellt werden, bei der an Stelle der Punkte Gerade und an Stelle der Geraden Punkte treten und deren Eigenschaften ohne weiteres aus jenen der Ausgangsfigur folgen (Dualismus). Die neuere synthetische Geometrie vermeidet die Rechnung möglichst. Nach der Art ihres Aufbaues schließt sie zunächst den Begriff des Maßes (Strecke, Winkel) aus und gewinnt ihn erst auf Umwegen durch Einführung uneigentlicher Gebilde wie der unendlich fernen Geraden einer Ebene und der darauf gelegenen imaginären Punkte eines Kreises. Die Lagenbeziehungen der Figuren zu jenen uneigentlichen Elementen erscheinen dann als Maßbeziehungen im gewöhnlichen Sinne. Für die theoretische Mechanik wird analytische und synthetische Geometrie grundsätzlich von gleicher Bedeutung, wenn auch im Laufe der Entwicklung erst die eine, später die andre größeren Einfluß erlangt hat. Zurzeit scheint sich die Geometrie der Vektoren oder gerichteten Größen als Grundlage der Mechanik mehr und mehr festzusetzen.


Literatur: [1] Poncelet, Traité des propriétés projectives des figures, 2. Aufl., Paris 1865/66. – [2] Steiner, Systematische Entwicklung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten voneinander, Berlin 1831. – [3] Ders., Die geometrischen Konstruktionen, ausgeführt mit Hilfe der geraden Linie und eines festen Kreises, Berlin 1833. – [4] Ders., Gesammelte Werke, herausgegeben von Weinfraß, 2 Bde., Berlin 1881. – [5] Seydewitz, Das Wesen der involutorischen Gebilde in der Ebene, Heiligenstadt 1846, und zahlreiche Abhandlungen in Grunerts Archiv der Mathematik und Physik. – [6] Möbius, Der barymetrische Kalkül, Leipzig 1828. – [7] Ders., Gesammelte Werke, 4 Bde., Leipzig 1889. – [8] Chasles, Aperçu historique sur l'origine et le développement des méthodes en géométrie, Brüssel 1837, und zahlreiche Arbeiten in den Comptes rendus de l'Académie des sciences de Paris, und Liouville, Journal de mathématiques pures et appliquées, sowie Traité de géométrie supérieure, Paris 1852 und 1880. – [9] v. Staudt, Geometrie der Lage, Nürnberg 1847, und Beiträge zur Geometrie der Lage, 3 Hefte, 1856–60. – [10] Pfaff, Neuere Geometrie, 2 Teile, Erlangen 1867. – [11] Reye, Die Geometrie der Lage, 3. Aufl., Leipzig 1893. – [12] Hilbert, D., Grundlagen der Geometrie, Leipzig 1904.

Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 4 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 389-391.
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