[181] Hera (Here), in der griech. Mythologie die älteste Tochter des Kronos und der Rhea, Schwester und Gemahlin des Zeus, von ihm Mutter des Hephästos, Ares, der Hebe und der Eileithya. Die Mehrzahl der Sagen bezieht sich auf ihr Verhältnis zu Zeus, mit dem sie sich, in der Pflege des Okeanos und der Thetys oder von Nymphen aufgewachsen, nach Homer zuerst heimlich vermählte. Der Kultus feierte diese Vereinigung der beiden großen Himmelsmächte, von denen alle Fruchtbarkeit der Erde abhängt, im Frühling als heilige Hochzeit. Bei Homer teilt sie mit ihrem Gemahl Ehre und Macht; gleich ihm gebietet sie über die Himmelserscheinungen: sie sendet Nebel und Sturm, Blitz und Donner; ihre Dienerinnen sind die Horen (s. d.), ihre Sendbotin Iris (s. d.). Zwar erweist ihr Zeus alle Rücksicht und teilt ihr seine geheimen Ratschlüsse mit, aber fügt sich keineswegs immer ihren Wünschen; daher häufig zwischen den Gatten heftiger Zwist entbrennt, der sogar zu Tätlichkeiten führt. So soll Zeus sie im Zorn gepeitscht und den der Mutter zu Hilfe eilenden Hephästos vom Olymp zur Erde geschleudert oder sie, die Arme mit goldenen Fesseln gebunden und die Füße mit zwei Ambossen beschwert, im Äther und in den Wolken schwebend, aufgehängt, sie selbst im Bunde mit Poseidon und Athene Zeus zu fesseln geplant haben, aus welcher Gefahr ihn Thetis durch Herbeirufen des hundertarmigen Briareos rettete. Der herrische, streitsüchtige Zug ihres Wesens bei Homer ist bei den spätern Dichtern noch gesteigert,[181] bei denen insbes. die Eifersucht auf ihre Schönheit und ihre Rechte als Gattin des Zeus in den Vordergrund tritt. Schonungslos verfolgt sie diejenigen, die ihr den Vorzug der Schönheit streitig machen, vornehmlich aber die Geliebten des Zeus und deren Kinder, wie namentlich Herakles.
Dagegen erscheint sie im Kultus als eine gnädige, huldreiche Göttin, die besonders dem weiblichen Geschlecht in allen Lebensverhältnissen eine treue, mütterliche Schützerin ist, Ehen stiftet (Teleia) und über ihre Heilighaltung wacht, Kindersegen verleiht und den Gebärenden beisteht, daher sie nicht bloß Mutter der Eileithyia (s. d.) ist, sondern selbst als Geburtsgöttin verehrt wird.
Bei Homer werden als ihre Lieblingsstädte Argos, Mykene und Sparta genannt; Hauptplatz ihrer Verehrung war später Argos mit dem berühmten Heräon (s. d.) in der Nähe, wo ihr die fünfjährigen Heräen gefeiert wurden; in Argos wurden die Jahre nach ihren Priesterinnen gezählt. Andre bedeutende Kultstätten waren Elis, Korinth, Böotien, Euböa, Samos mit seinem von Polykrates erbauten Tempel. Geheiligt war ihr der Kuckuck als Frühlingsvogel, der Granatapfel als Symbol der ehelichen Liebe und Fruchtbarkeit, die Krähe, der Pfau. Wie im Kultus des Zeus waren in dem ihrigen Hekatomben üblich. Der Neumond ist die Zeit ihrer Opfer wie der italischen Juno (s. d.), die mit ihr identifiziert wurde.
Die plastischen Darstellungen der H. halten sich vornehmlich an die Homerische Schilderung: große, runde, offene Augen, strenger, majestätischer Gesichtsausdruck, Körperformen einer blühenden Matrone; dazu züchtige Bekleidung: aufgeschürzter Chiton, der nur Hals und Arme bloß läßt, mit weitem, die ganze Gestalt verhüllendem Obergewand, die königliche Kopfbinde (Stephane). Berühmt vor allen andern Bildern war die kolossale Goldelfenbeinstatue des Polyklet im Tempel bei Argos. H. erschien hier auf reichgeschmücktem Thron sitzend, um die Stirn ein Diadem, mit Chariten und Horen im Relief, in der einen Hand einen Granatapfel, in der andern das Zepter mit dem Kuckuck darauf. Die Strenge dieser ältern Auffassung ist noch bewahrt in dem Farnesischen Herakopf in Neapel (Fig. 1). Das Anmut und Würde vereinende Ideal vollendeter Frauenschönheit zeigt der von einer Kolossalstatue stammende Kopf der H. Ludovisi in Rom (Fig. 2). Zwischen beiden Köpfen steht der von Girgenti im Britischen Museum. Unter den statuarischen Darstellungen sind die bedeutendsten: die Barberinische Juno im Vatikan zu Rom (Fig. 3) und ein Marmortorso von Ephesos in Wien.
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