Ich

[730] Ich, der Ausdruck, mit dem das Subjekt sich als solches bezeichnet und von der Gesamtheit der Objekte, dem Nicht-Ich, unterscheidet. Dem Gebrauch desselben muß daher immer die Entwickelung des Selbstbewußtseins (s. d.) vorausgehen, doch kann umgekehrt aus dem Nichtgebrauche des Wortes Ich noch nicht das Fehlen des letztern geschlossen werden. Wenn z. B. Kinder oft längere Zeit sich selbst mit ihrem Namen (in dritter Person) bezeichnen, so folgt daraus nicht, daß sie noch kein Bewußtsein von sich selbst haben, sondern nur, daß ihnen das Wort Ich und seine sprachliche Anwendung noch nicht geläufig ist. Je nach dem Begriff von dem Wesen des eignen Selbst ist natürlich auch die Bedeutung des Ich-Begriffes verschieden. Auf der niedrigsten Stufe ist die Unterscheidung des Ich vom Nicht-Ich identisch mit der des eignen Körpers von den umgebenden Außendingen. Auf einer höhern Stufe wird unter dem Ich die einheitliche geistige Persönlichkeit, der zusammenhängende Komplex der Gefühle, Triebe und Vorstellungen verstanden und der eigne Körper zum Nicht-Ich gerechnet. Noch weiter geht die philosophische Reflexion, die auch in den Vorstellungen und Gefühlen, kurz in der Gesamtheit der innern Erlebnisse ein Objektives sieht, dem das Ich als das Vorstellende, Fühlende, überhaupt Erlebende gegenübersteht. Im Unterschiede vom empirischen Ich (der leiblich-geistigen Persönlichkeit) hat man dies das reine I. genannt; während jenes dem Wechsel und der Veränderung unterworfen ist, ist dies seinem Begriffe nach unveränderlich, freilich aber auch durch keine konkrete Eigenschaft bestimmbar. Trotzdem hat der Begriff des reinen Ich in der Philosophie eine große Rolle gespielt. So glaubte Descartes (s. d.) in dem Bewußtsein des Ich als des Denkenden eine untrügliche Erkenntnis von der Existenz und der Beschaffenheit der in uns wirksamen geistigen Substanz zu finden (cogito, ergo sum = ich denke, also bin ich). Kant verwarf zwar diesen Schluß, sah aber im reinen Ich-Bewußtsein den Ausdruck der aller Erfahrung zugrunde liegenden synthetischen Funktion des transzendentalen Subjekts. Im Anschluß an ihn machte Fichte das Ich zum metaphysischen Prinzip, dessen eigenes »Sein« mit seinem »Sichsetzen« zusammenfällt, und das zugleich die ganze Welt als Nicht-Ich sich gegenüberstellt. Herbart übte an dem Begriffe des reinen Ich mit Recht scharfe Kritik: das vorstellende Subjekt könne unmöglich sich selbst als Vorstellungsobjekt erfassen, auch gehe die Ich-Vorstellung keineswegs allen andern voran, sondern sie entwickele sich wie diese erst im Zusammenhange des Seelenlebens und habe selbst immer einen bestimmten Inhalt, es gebe also kein reines Ich, sondern immer nur ein so oder so bestimmtes (empirisches) Ich. Diese Ansicht ist in der neuern Psychologie allgemein anerkannt; sie wird bestätigt durch jene merkwürdigen pathologischen Fälle, wo das Selbstbewußtsein so tiefgreifende Änderungen erfährt, daß das Individuum bisweilen in periodischem Wechsel sich als eine ganz andre Persönlichkeit fühlt. Vgl. Drews, Das Ich als Grundproblem der Metaphysik (Freibr. i. Br. 1897); Dessoir, Das Doppel-Ich (2. Aufl., Leipz. 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 730.
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