Latīner

[226] Latīner, eins der ältesten und das merkwürdigste unter den altitalischen Völkern, nach Angabe der Alten durch Mischung aus zwei Urvölkern, den ursprünglich in der Gegend um Reate seßhaften Aboriginern und den in dem spätern Latium wohnenden Sikelern, unter Hinzutritt der unter Führung des Äneas eingewanderten Trojaner entstanden, in Wahrheit aber, wie die neuere Sprachforschung bewiesen hat, ebenso wie die übrigen Völker Italiens (etwa die Etrusker ausgenommen) und wie die Griechen, die Germanen, die Kelten, ein Zweig des indogermanischen Volksstammes und demnach aus dem Ursitz desselben eingewandert. In den ältesten Zeiten sollen sie auf ein enges Gebiet von etwa 1500 qkm um das Albanergebirge herum eingeschränkt gewesen sein und einen Bund von 30 Städten (jede mit einem König, später einem Diktator an der Spitze, einem Senat und einer Volksversammlung) unter der Vorstandschaft von Albalonga gebildet haben; die religiösen Feiern in dem Haine der Ferentina und auf dem Mons Albanus (jetzt Monte Cavo), dem höchsten Gipfel des Gebirges (954 m), die Latinae feriae (s. d.), sind Reste der ehemaligen politischen Vereinigungen. Die übrigen Teile des spätern Latiums waren von Sabinern, Äquern, Hernikern und Volskern besetzt, die nachdrängend wahrscheinlich die L. unterdrückt hätten, wäre nicht aus ihrer Mitte die Stadt Rom hervorgegangen. An der größten Wasserader des westlichen Italien und nahe seiner Mündung gelegen, nahm Rom schon zeitig (nach der Sage schon von seiner Gründung an) eine selbständige Stellung gegen die benachbarten Völker, auch gegen die L., ein und verwandelte das bestehende Bundesverhältnis nach mehrfachen Zwischenfällen, weil die L. Aufnahme in den römischen Staat und völlige Gleichberechtigung mit den Römern forderten, durch den letzten Latinischen Krieg (340–338) in Untertänigkeit, jedoch in der Weise, daß die L. im ganzen vor den übrigen unterworfenen Völkern bevorzugt wurden und ihre Städte als municipia das römische Bürgerrecht, jedoch ohne Stimmrecht und mit einer verschieden abgestuften Beschränkung ihrer Selbstregierung, erhielten; auch wurde sämtlichen Latinern das Recht zugesprochen, nach Rom überzusiedeln und hier in das volle römische Bürgerrecht einzutreten, wenn sie in ihrer Heimat ein jährliches Amt bekleidet hatten oder einen leiblichen Nachkommen daselbst zurückließen. Dagegen wurden die einzelnen Städte, um für die Folge eine Vereinigung zu gemeinsamem Widerstand gegen Rom zu verhindern, untereinander in ein verschiedenes Verhältnis zu der herrschenden Hauptstadt gesetzt und ihnen das commercium und connubium, d.h. der gegenseitige Handelsverkehr und das Recht, untereinander gültige Ehen abzuschließen, wenigstens auf die nächste Zeit entzogen. Diese Anordnungen hatten die Folge, daß die L von nun an den Römern eine unverbrüchliche Treue bewahrten, die selbst in den bedrängtesten Zeiten des römischen Staates, wie nach den großen Siegen Hannibals im zweiten Punischen Krieg, nicht wankend gemacht werden konnte, so daß die Römer sogar durch Anlegung latinischer Kolonien in neu unterworfenen oder sonst unzuverlässigen Gebieten ihre Herrschaft sichern konnten. In diesem [226] Verhältnis blieben die L., socii nominis latini oder nomen latinum genannt, bis durch die lex Julia und die lex Plautia Papiria 90 und 89 die sämtlichen freien Bewohner Mittel- und Unteritaliens und dann 49 durch Julius Cäsar auch die Bewohner Oberitaliens das volle römische Bürgerrecht erhielten. Nachdem auf diese Art das latinische Recht (jus Latii) für Italien gegenstandslos geworden, wurde es unter den Kaisern allmählich auf zahlreiche Städte in den Provinzen übertragen. Allein auch dies hörte auf, als 212 n. Chr. durch Verfügung des Kaisers Caracalla das römische Bürgerrecht allen freien Bewohnern des römischen Reiches verliehen wurde. Nach dieser Zeit gab es nur noch einzelne L., die sogen. Latini Juniani (seit der lex Junia unter Tiberius), frühere Sklaven, bei deren Freilassung nicht alle vorgeschriebenen Bedingungen beobachtet wurden, und die daher nicht alle Rechte von römischen Bürgern besaßen. Erst durch den Kaiser Konstantin wurden alle Standesunterschiede unter den freien Bewohnern des römischen Reiches aufgehoben.

Der Name für die Wohnsitze der L., Latium (»Plattland«), wurde von dem obenerwähnten engern Gebiet aus allmählich durch die Eroberungen der Römer erst bis nach Circeji (Kap Circello), dann bis zum Liris (Garigliano) ausgedehnt und umfaßte daher die ganze im N. und O. durch den Tiber und die Zweige und Ausläufer des Apennin, im S. und W. durch das Tyrrhenische Meer und den Garigliano begrenzte Landschaft. Dieselbe hat, wie die Beschaffenheit des Gesteins und die noch mehrfach zu verfolgenden Lavaströme beweisen, zum großen Teil einen vulkanischen Ursprung und Charakter; sie ist daher als ursprünglich von dem bis zum Fuße des Apennin reichenden Meer überflutet zu denken, aus dem nur das jetzt etwa in der Mitte der Landschaft liegende Volskergebirge mit seinen das Meer bei Terracina und Gaeta erreichenden Ausläufern und das Vorgebirge von Circeji als Inseln hervorragten. Ebendeshalb ist sie auch meist eben (mit einer mittlern Erhebung von 50–60 m), nur mit Ausnahme der ebengenannten Höhen und außerdem des vulkanischen Albanergebirges. Die Seen sind hier und im übrigen Latium eingestürzte und mit Wasser ausgefüllte Krater, so der Larus Albanus (jetzt Lago di Castello) und der Larus Nemorensis (jetzt Lago di Nemi). Von Flüssen sind außer den beiden Grenzflüssen Tiber und Garigliano zu nennen: der Anio (Teverone), der, aus dem Apenn in kommend, sich unmittelbar oberhalb Roms in den Tiber ergießt, der Trerus (Sacco), der die Niederung zwischen dem Albaner- und Volskergerbirge einerseits und dem Apennin anderseits durchfließt und sich in den Garigliano ergießt, und eine Anzahl kleinerer Flüsse und Bäche, die, von dem Albaner- und Volskergebirge kommend, teils dem Anio und Tiber, teils dem Meer zufließen, darunter der Ufens (Uffente) und der Amasenus (Amaseno), die, weil sie aus Mangel an Gefälle nicht völlig ins Meer abfließen können, den Pontinischen Sümpfen zwischen Antium und Circeji den Ursprung gegeben haben. Die bemerkenswertesten Ortschaften lagen vorzugsweise an den äußern Abhängen des Albaner- und Volskergebirges, in der Niederung zwischen diesen Gebirgen und dem Apennin, am Anio und Tiber und an der Meeresküste oder in der Nähe derselben. Zu nennen sind am Albanergebirge im N. Tusculum (oberhalb des heutigen Frascati), Labicum (Colonna), im SO. Veliträ (Velletri), im S. Lanuvium (Civita Lavinia), Aricia, im Innern Albalonga auf dem Rande des Albanersees; um das Volskergebirge herum Signia (Segm), Cora (Cori), Norba (Norma), Setia (Sezza) und Privernum (Piperno); am Rande des äquisch-marsischen Gebirges Tibur (Tivoli), wo der Anio in die Ebene herabstürzt, und das feste, in fünf Terrassen sich erhebende Präneste (Palestrina), im Tal des Trerus Anagnia (Anagni), Ferentinum (Ferentino), Frusinum (Frosinone) und oberhalb des Ausflusses des Trerus am Liris Fregellä (Ceprano); ferner in der Ebene in dem Winkel zwischen Tiber und Anio Crustumerium (Monterotondo), Corniculum (Monticelli), Nomentum (Mentana), Ficulea, Fidenä, auf dem linken Ufer des Anio Antemnä und Gabii, an der Meeresküste die Hafenstadt Roms, Ostia, und von da nach SO. Laurentum, Lavinium, Ardea, Antium und oberhalb desselben Satricum; hierauf folgen die unbewohnbaren Pontinischen Sümpfe, wo jedoch in der ältesten Zeit 24 Städte gestanden haben sollen, dann Circeji, Terracina (von den Volskern Anxur genannt) und in dem sogen. Latium adjectum Fundi, Cajeta (Gaeta), Formiä und Minturnä. Unter den zahlreichen Straßen, von denen ganz Latium durchzogen war, sind bemerkenswert die 312 v. Chr. von dem Zensor Appius Claudius angelegte Via Appia, die in gerader Linie von Rom nach Terracina, und die Via Latina, die durch das Gebirge nach Kampanien führte. S. Karte bei Art. »Italia«. Vgl. Westphal, Die römische Kampagne (Berl. 1829); W. Abeken, Mittelitalien vor den Zeiten römischer Herrschaft (Stuttg. 1843); Zöller, Latium und Rom. Forschungen über ihre gemeinsame Geschichte bis zum Jahr 338 v. Chr. (Leipz. 1878).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 226-227.
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