[345] Lehrgedicht (didaktische Poesie) heißt diejenige Dichtung, in der das belehrende oder reflektierende Element im Vordergrunde steht und die Herrschaft über die andern Elemente der Poesie behauptet. Da der abstrakte Gedanke, die Reflexion nur mit schwachen Gefühlen und Affekten vereinigt ist und daher den Grundforderungen der Kunst (s. Ästhetik) nicht entspricht, so ist das reine L. ästhetisch wertlos; sobald sich aber das reflektierende Element dem erzählenden, dem beschreibenden, dem lyrischen oder dem dramatischen Element gesellt, kann es willkommen sein, vor allem, wenn sein Inhalt der Norm der Bedeutsamkeit entspricht. Am besten ist es aber, wenn sich die Reflexion nur indirekt durch jene andern Elemente kundgibt; eine derartige Dichtung kann aber nicht mehr L. genannt werden. Mit dem erzählenden Elemente vermischt ist die Reflexion z. B. in der Fabel (s. d.), mit dem beschreibenden in der Satire (s. d.), mit dem lyrischen in der Gedankenlyrik und im Epigramm. Breit vorwaltende Reflexion und damit das eigentliche L. ist besonders auf derjenigen Entwickelungsstufe der Völker zu beobachten, auf der das selbständige Wesen der Wissenschaft noch nicht entfaltet und darum ihre selbständige Form noch nicht gefunden ist (die Sutras des Kapila bei den Indern, die philosophischen Lehrgedichte des Xenophanes, Parmenides, Empedokles u.a., die »Theogonie«, die »Werke und Tage« des Hesiod). Die Fortdauer oder Wiederkehr dieser Lehrdichtung neben der selbständig auftretenden Wissenschaft kündigt den Verfall oder Mangel der Poesie an, den auch die prunkvollste Rhetorik nicht zu verhüllen vermag. Dies zeigen in der Geschichte der römischen Poesie des Lukrez übrigens höchst geistvolle poetische Darstellung des Epikureischen Systems in dem Gedicht »De rerum natura«, die »Georgica« des Vergil, die fast allen spätern didaktischen Dichtern zum Muster gedient haben, Ovids »Ars amandi« und des Horaz »Ars poetica«. Unter den neuern Völkern ward das L. besonders bei den Franzosen gepflegt von Raeine, Boileau, Dorat, Lacombe, Delille. Die namhaftesten englischen hierher gehörigen Dichter sind: Davies, Dyer, Akenside, Dryden, Pope, Young, Erasmus Darwin. Auch in Deutschland fand die didaktische Poesie schon früh in der sogen. Spruchdichtung eine rege Entwickelung. Hierher gehören die unter Spervogels Namen verbreiteten Gedichte, ferner[345] »Winsbeke« und »Winsbekin«, vor allem Freidanks »Bescheidenheit« und der »Renner« des Hugo von Trimberg. Vollends um die Wende des 15. und zu Anfang des 16. Jahrh. entfaltete sich die vorwiegend satirische Lehrdichtung (Seb. Brant, Geiler, Murner u.a.), um sich lange Zeit hindurch, namentlich auch zur Verfechtung der Tendenzen der Reformation, zu behaupten. In den Zeiten der schlesischen Schulen bildeten das L. und die didaktische Poesie überhaupt Opitz, Brockes u.a. nach antiken und französischen Mustern, späterhin Haller, Dusch, Gleim, Zachariä, Bodmer, Cronegk, Giseke, Lichtwer u.a. aus. Die bedeutendste Richtung erhielt die didaktische Poesie jedoch durch Lessing, Wieland, Tiedge, dessen »Urania« lange Zeit beim Publikum in hoher Gunst gestanden hat, Neubeck, dessen »Gesundbrunnen« A. W. Schlegel empfahl, und Schelling, der im L. die vollendete Ineinsbildung von Poesie und Philosophie und in seiner Naturphilosophie das wahre »Naturepos« sah. Bei den Klassikern und namentlich in der romantischen Schule nahm das Interesse an der didaktischen Dichtung wieder ab, doch einige Jahrzehnte später gelang es Leopold Schefer mit seinem »Laienbrevier«, Fr. v. Sallet mit seinem »Laienevangelium« und besonders Rückert mit seiner »Weisheit des Brahmanen« die allgemeine Aufmerksamkeit wieder zu fesseln.