Litauen

[611] Litauen (Lithauen, russ. u. poln. Litwa), vormals zum polnischen Reich gehöriges Großfürstentum, bestand vor der Teilung Polens aus dem eigentlichen L., das die Woiwodschaften Wilna und Troki in sich begriff, aus dem Herzogtum Samogitien oder Szamaiten und aus dem litauischen Rußland, d.h. den Woiwodschaften, die von den Litauern früher den Russen abgenommen worden waren, nämlich dem alten Polesien, Schwarzrußland oder Nowogrodek und Weißrußland oder Minsk, Mscislaw, Witebsk, Smolensk, Polock und Polnisch-Livland. Bei der Teilung Polens ward diese über 275,000qkm (5000 QM.) umfassende Ländermasse zwischen Rußland und Preußen geteilt; doch fielen die preußischen Erwerbungen später ebenfalls an Rußland (s. unten, Geschichte). Über das Wappen s. die Textbeilage zur Tafel »Wappen«.

Die Litauer (poln. Litwini, russ. Litowzi), die ihrerseits in die eigentlichen Litauer und die Samogitier oder Shmuden zerfallen, bilden mit den Letten und den alten Preußen einen besondern Zweig des slawo-litauischen Astes des indogermanischen Völker- und Sprachstammes, den litauischen. Sämtliche litauische Stämme zählen über 3,200,000 Seelen (davon in Rußland 1897: 3,094,469), darunter 1,435,937 Letten und Kuren (die von den finnischen Kuren [s. d.] zu unterscheiden sind) in den Gouvernements Kurland, Livland und Witebsk, in kleinen Zahlen verstreut in Kowno, St. Petersburg und Pskow, 1,210,510 eigentliche Litauer, sehr verbreitet in Kowno und Wilna, weniger zahlreich in Suwalki, in geringer Zahl in Grodno, 448,022 Samogitier in Kowno und Suwalki. Die Litauer, die sich sehr stark mit den Nachbarvölkern vermischt haben, sind blond, von festem Körperbau, religiös, in hohem Grad abergläubisch und hängen mit großer Zähigkeit an den althergebrachten heidnischen Gebräuchen. Die Wohnungen sind ärmlich und unsauber, die Wände immer mit einer Menge von Heiligenbildern geschmückt. Die Litauer bekennen sich größtenteils zur römisch-katholischen Kirche; doch wächst die Zahl der zur griechisch-katholischen Kirche Gehörenden beständig, seit Kaiser Nikolaus I. die unierte Kirche in L. aufgehoben und mit der griechisch-katholischen verbunden hat. Im nördlichen Ostpreußen, namentlich auf der nördlichen Seite der Memel, wo sie die Mehrzahl der Landbewohner bilden, dann auf der Südseite des Flusses bis zur Linie Labiau-Pillkallen und in einigen Resten noch bis Goldap, zählen sie (1900) 115,300 Seelen (davon zugleich 9200 mit deutscher Muttersprache). Sie nehmen seit 1864 merklich ab; der Religion nach sind sie Protestanten. S. Litauische Sprache und Literatur.

Geschichte. L. ist etwa seit 850 n. Chr. von dem Volk der Litauer bewohnt, das in mehrere Stämme[611] unter kleinen Fürsten (rigas, lett. kungas) zerfiel, Hauptbeschäftigung waren Ackerbau und Handel mit den Schweden und Slawen. Der Großfürst Ringold gehört der Sage an. Der Fürst Mindowg versuchte L. zu einigen, verfolgte seine Verwandten und verband sich gegen sie mit dem Deutschen Orden, erlangte auch durch Übertritt zum Christentum vom Papste 1251 die Anerkennung als König. Er fiel 1260 vom Christentum ab, besiegte die Ordensritter bei Durben und reizte die Preußen zum Aufstand. 1263 wurde er von andern Fürsten erschlagen. Nach einer Reihe innerer Kämpfe begründete Gedimin (1315–40) für die Dauer Einheit und Macht Litauens als Großfürstentum. Er eroberte einen Teil des südlichen Rußland samt Kiew, gründete die Städte Wilna und Troki, kämpfte im Bunde mit Wladislaw von Polen gegen den Orden und teilte vor seinem Tode das Reich unter seine sieben Söhne, unter denen Olgerd und Keistut die Herrschaft gewannen. Vorübergehend suchten sogar Groß-Nowgorod und Pskow ihren Schutz. Fast ununterbrochen dauerten die Kämpfe mit dem Orden fort, bis der Sieg des Ordens bei Rudau (1370) eine kurze Pause in diesen »Litauerreisen« herbeiführte. Olgerds Sohn Jagello (1377 bis 1434) ließ sich 1386 in Krakau taufen und nahm den Namen Wladislaw an. Durch seine Vermählung mit der Erbin Polens, Hedwig, erhielt er Polen, mußte jedoch 1392 den Litauern in Witowt, dem Sohn des von ihm getöteten Keistut, einen eignen Großfürsten geben. Obwohl dieser sich wiederholt mit dem Orden gegen Polen verband, focht er doch an der Seite Jagellos in der Schlacht bei Tannenberg (1410). Auf dem Tag zu Horodio am Bug (1413) ward festgesetzt, daß der katholische Adel Litauens mit dem polnischen zur Wahl der Könige und Großfürsten sowie zu wichtigen Beratungen einen gemeinschaftlichen Reichstag bilden sollte. Nach Witówts Tod (1430) ernannte Wladislaw seinen Bruder Sswitrigailo zum Großfürsten von L.; dieser ward aber vom Bruder Witowts, Siegmund, verdrängt. Nach des letztern Ermordung erhielt ein Bruder des polnischen Königs Wladislaw III., Kasimir, L., 1444 auch den polnischen Thron. Nach dem Tode Kasimirs IV. (1492) erwählten die Polen dessen zweiten Sohn, Johann I. Albrecht, zum König; die Litauer wählten seinen dritten Sohn, Alexander, zum Großfürsten, der 1501 König von Polen wurde. Seitdem blieben Polen und L. unter einem Oberhaupt vereinigt. Die völlige Vereinigung beider Länder in allen Staatsangelegenheiten kam endlich auf dem Reichstag zu Lublin (1569) zustande. Bei der dritten Teilung Polens 1795 kam der größere Teil Litauens an Rußland, das daraus die sechs Gouvernements Wilna, Kowno, Grodno, Mohilew, Witebsk und Minsk bildete; der kleinere, bis zur Memellinie Kowno-Grodno, fiel an Preußen, wurde aber 1807 mit dem Großherzogtum Warschau vereinigt und fiel 1814 als Teil Kongreßpolens ebenfalls an Rußland. L. beteiligte sich 1830 und 1863 an den Aufständen in Polen gegen Rußland (s. Polen). Vgl. die Geschichtskarte bei Artikel »Polen«; Zweck, L., Landes- und Volkskunde (Stuttg. 1898); Lelewel, Histoire de la Lithuanie (Par. 1861); Antonowitsch, Abriß der Geschichte Litauens bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts (russ., 2. Aufl., Kiew 1885); Schiemann, Rußland, Polen und Livland bis ins 17. Jahrhundert (Berl. 1886–87, 2 Bde.); Milkowicz im 5. Bande von Helmolts »Weltgeschichte« (Leipz. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 611-612.
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