[59] Schuldramen, eine Abart dramatischer Dichtungen, deren charakteristische Eigentümlichkeit es ist, daß sie entweder ausschließlich oder doch in erster Linie für die theatralische Darstellung in Schulen und durch Schüler bestimmt waren. Zu besonderer Bedeutung gelangten die S. in Deutschland, wo sie namentlich im Reformationsjahrhundert emporblühten und neben den Bürgerspielen, mit denen sie sich gelegentlich mischten, ganz entscheidend im reformatorischen Sinne wirkten. Nicht ausschließlich, aber meist an Universitäten und Schulen dargestellt, auf eine Hörerschaft berechnet, die nicht nur der lateinischen Sprache mächtig, sondern auch den geistigen Bestrebungen der Humanisten günstig war, beeinflußten diese Schulkomödien die Entwickelung der gesamten dramatischen Dichtung. Im 16. Jahrh. schrieben an vielen neuentstehenden Gymnasien und Lateinschulen die Schulordnungen die jährlich oder öfter wiederholte Ausführung eines Dramas vor, und eine Reihe der hervorragendsten Schulmänner versuchten sich in eigenen Schöpfungen dieser Art, in Neubearbeitung und Lokalisierung vorhandener S. Unter den Schuldramatikern ragten die Niederländer Guilielmus Gnaphäus mit »Acolastus« (der Komödie vom verlornen Sohn, hrsg. mit Einleitung von Bolte, Berl. 1890), Georg Macropedius mit dem »Hekastus«, ferner Johannes Sapidus in Schlettstadt mit dem »Lazarus« hervor, alle drei Vorbilder für lange Reihen von Nachahmungen gebend. Vom Anfang der Reformation an begannen sich Schuldrama und Volksdrama einander stark zu nähern. Um im reformatorischen Sinne wirken zu können, wurden einesteils zahlreiche S. deutsch geschrieben oder aus dem Lateinischen übersetzt, andernteils nahmen die dichtenden Geistlichen und Schulmeister für die Ausführung nicht mehr bloß Schüler und Studenten, sondern auch bürgerliche Kreise zu Hilfe. Luther begünstigte solche Aufführungen, und es herrschte allgemein die Ansicht, daß die Schüler dadurch an ein freies und ungezwungenes Auftreten gewöhnt werden könnten. Auch glaubte man sie durch die dargestellten Begebenheiten zur Tugend aufmuntern und vom Laster abschrecken zu können. Unter den lateinisch dichtenden Schuldramatikern[59] des 16. Jahrh. zeichnen sich Xystus Betulius (Sixt Birk) von Augsburg mit seiner »Susanna«, Thomas Naogeorgus (Kirchmair) mit »Pammachius«, »Mercator« und »Hamanus«, Christophorus Stymmelius mit seiner weitverbreiteten »Studentenkomödie« aus. Gegen den Ausgang des 16. Jahrh. beherrschten der Schwabe Nikodemus Frischlin und der Niederländer Kaspar Schonäus mit ihren lateinischen Komödien das Schuldrama. Daneben entstanden fortgesetzt deutsche S.; in Magdeburg z. B. war es Gesetz, daß die Schüler des Gymnasiums alljährlich ein lateinisches Drama vor den Schulherren, ein deutsches vor Rat und Bürgerschaft aufführten, und beinahe überall, wo ein Gymnasium gedieh, herrschte ein ähnlicher Brauch. Namhafte Dichter, wie Rollenhagen, Barthol. Krüger, Martin Rinkhardt u. a., betätigten sich als Verfasser deutscher S. Mit den theatralischen Darstellungen, die von der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. an die Jesuiten in den von ihnen geleiteten Schulen bewußt pflegten, nahm die neulateinische Dramendichtung einen neuen Aufschwung: zu den alten, überwiegend rhetorischen Elementen gesellten sich neue, die aus der italienischen Pastoral- und Opernpoesie stammten. Die Schuldramatiker der Gesellschaft Jesu steigerten, ihrer ganzen Richtung gemäß, auch den äußerlichen Prunk solcher Darstellungen. Die Rückwirkung davon auf das Schuldrama der Protestanten zeigte sich hauptsächlich in den an der Akademie zu Straßburg, die ein eignes Theater besaß, veranstalteten Aufführungen. Neben den ältern S. wurden klassische lateinische, ja griechische Dichtungen in Szene gesetzt, für die der klassischen Sprachen Unkundigen durch deutsche Inhaltsangaben und Übersetzungen gesorgt, auch eine bedeutende Zahl von Dramen hier zuerst ausgeführt. Namentlich die Dichtungen von Paul Crusius, Kaspar Brülovius, Heinr. Hirzwigius erregten in den beiden ersten Jahrzehnten des 17. Jahrh. große Teilnahme. Der Dreißigjährige Krieg wirkte, wie auf alle Kulturverhältnisse, so auch auf die Schulen und ihre Pflege des Dramas zerstörend ein; nach dem Dreißigjährigen Kriege dichteten nur wenige Dramatiker noch unmittelbar für die Schulaufführungen, denen ohnehin jetzt durch die Darstellungen der umherziehenden Berufsschauspieler eine bedenkliche Konkurrenz bereitet wurde. Gleichwohl versuchten die Schulen zunächst noch sich der neuern deutschen Dramen zu bemächtigen: von den Tragödien und Komödien des Andr. Gryphius, den Tragödien Lohensteins, Hallmanns sind Schüleraufführungen in Breslau, Liegnitz, Halle, Altenburg, Annaberg etc. nachgewiesen. Der letzte Schuldramatiker war um die Wende des 17. und 18. Jahrh. der Zittauer Rektor Christian Weise, dessen deutsche Bühnenstücke nach Goedekes Wort »weit und breit in Sachsen ausgeführt« wurden, und der Aufschwung, den er dem Schuldrama wiedergegeben, war bis tief ins 18. Jahrh. hinein zu spüren. Die theatralischen Darstellungen der Schüler richteten sich endlich, mangels eigner für ihre besondern Zwecke verfaßter Dramen, auf zufällige Darbietungen der theatralischen Tagesliteratur, traten also in Konkurrenz mit der eigentlichen Schaubühne, was ihren Untergang nicht aufhalten konnte. Daß auch in andern Ländern als Deutschland das Schuldrama zu einer gewissen Entwickelung gelangte, ist mehrfach nachgewiesen, namentlich für England; vgl. Herford, Studies in the literary relations of England and Germany in the XVI. century (Cambridge 1886). Bemerkenswert ist die lange Rivalität zwischen den Berufsschauspielern und den Choristen von St. Paul u. a. sowie die Versuche, lateinische und der Antike nachgebildete Dramen gegenüber dem Volksdrama der Shakespeareschen Zeit zu behaupten. Vgl. Heiland, Über die dramatischen Aufführungen im Gymnasium zu Weimar (Weim. 1858); O. Francke, Terenz und die lateinische Schulkomödie (das. 1877); E. Schmidt, Komödien vom Studentenleben (Leipz. 1880); Jundt, Die dramatischen Aufführungen im Gymnasium zu Straßburg (Straßb. 1881); Riedel, Schuldrama und Theater (Hamb. 1885); J. Zeidler, Studien und Beiträge zur Geschichte der Jesuitenkomödie und des Klosterdramas (das. 1891); Creizenach, Geschichte des neuern Dramas, Bd. 2 u. 3 (Halle 190103); O. F. M. Schmidt, Die Bühnenverhältnisse des deutschen Schuldramas im 16. Jahrhundert (Berl. 1903) sowie die Literatur über die einzelnen oben genannten Dichter.