[338] Senĕca, 1) Lucius Annäus, der Rhetor, aus Corduba in Spanien, um 54 v. Chr. bis 38 n. Chr., studierte in seiner Jugend in Rom, wo er mit den berühmtesten Rednern und Rhetoren verkehrte, und lebte dann in seiner Heimat. Als Greis verfaßte er für seine Söhne, allein auf sein wunderbares Gedächtnis gestützt, eine Blumenlese aus den Schulübungen der namhaftesten Rhetoren seiner Studienzeit mit einleitenden Charakteristiken u. d. T.: »Oratorum et rhetorum sententiae, divisiones, colores«, enthaltend 7 sogen. Suasoriae in einem Buch und 35 Controversiae in 10 Büchern, von denen wir jedoch nur noch 1,2,7,9 und 10 und einen Auszug des Ganzen besitzen. Ausgaben von Kießling (Leipz. 1872) und H. J. Müller (Prag 1887).
2) Lucius Annäus, der Philosoph, Sohn des vorigen, geb. um 4 v. Chr. zu Corduba in Spanien, gest. 65 n. Chr., widmete sich in Rom rhetorischen und philosophischen Studien, erhielt unter Caligula die Quästur und die Würde eines Senators, ward 41 von Claudius als angeblicher Teilnehmer an den Ausschweifungen der Julia Livilla nach Korsika verbannt, 49 zurückgerufen, zum Prätor ernannt und von Agrippina mit der Erziehung ihres Sohnes Nero betraut. Nach Neros Thronbesteigung (54) übte er einen heilsamen Einfluß auf den jungen Fürsten aus, der ihm außer andern Auszeichnungen das Konsulat (57) verlieh. Intrigen seiner Gegner zerstörten das Einvernehmen und bewogen S., sich vom Hof und der Öffentlichkeit ganz zurückzuziehen (62). Wegen angeblicher Teilnahme an der Verschwörung des Piso zum Tode verurteilt, nahm er sich (nach damaligem Brauch) selbst das Leben. S. ist nach Cicero der bedeutendste philosophische, überhaupt einer der geistreichsten und originellsten Schriftsteller der Römer. Von seinen zahlreichen prosaischen Schriften sind erhalten: 1) eine u. d. T. »Dialogi« überlieferte Sammlung, enthaltend die Abhandlungen: »De providentia«, »De constantia sapientis«, »De ira« (3 Bücher), »Ad Marciam de consolatione«, »De vita beata«, »De otio«, »De tranquillitate animi«, »De brevitate vitae«, »Ad Polybium de consolatione«, »Ad Helviam matrem de consolatione« (Ausg. von Koch-Vahlen, Berl. 1878; von Gertz, Kopenh. 1886); 2) »De clementia«, 2 Bücher (an Nero gerichtet bald nach seinem Regierungsantritt); 3) »De beneficiis«, 7 Bücher (mit »De clementia« hrsg. von Gertz, Berl. 1876); 4) »Epistulae morales ad Lucilium«, 124 Briefe über philosophische Gegenstände, seine bedeutendste Leistung (hrsg. von Hense, Leipz. 1898); 5) »Quaestiones naturales«, 7 Bücher über naturwissenschaftliche Gegenstände, das erste und einzige physikalische Lehrbuch der römischen Literatur, hauptsächlich aus stoischen Quellen geschöpft; 6) »Apocolocyntosis« (»Verkürbissung«, statt Apotheosis, »Vergötterung«), eine bittere Satire auf den verstorbenen Kaiser Claudius (hrsg. von Bücheler, Berl. 1882), nach Art der Menippeïschen Satire des Varro Prosa mit Versen untermischt. Neuere Gesamtausgaben der Prosaschriften von Fickert (Leipz. 184245, 3 Bde.), Haase (das. 185253, 3 Bde.; neue Ausg., das. 1898 ff.), Übersetzungen von Moser, Pauly und Haakh (Stuttg. 1828, 17 Bde.) und Forbiger (Auswahl, das. 1867, 4 Bde.). Senecas Schriften zeigen lebhafte Einbildungskraft, gebildetes Urteil, edles Gefühl, tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens. Die Darstellung ist eindringlich und beredt, der Ausdruck oft gesucht und immer antithetisch zugespitzt. Als Philosoph eklektischer Stoiker, verrät S. bisweilen Neigung, zwischen Stoizismus und Epikureismus zu vermitteln. Die Philosophie ist ihm als Streben nach Weisheit und sittlicher Vollkommenheit nur wertvoll in beständiger Beziehung auf das Leben. In dieser moralischen Tendenz liegt wohl der Grund der Tradition, die S. zum Christen macht und ihn in Verbindung mit dem Apostel Paulus setzt. Daß S. auch Dichter war, ist ausdrücklich bezeugt. Seinen Namen tragen zehn Tragödien: »Hercules furens«, »Thyestes«, »Phoenissae«, »Phaeira«, »Oedipus«, »Troades«, »Medea«, »Agamemno«, »Hercules Oetaeus« und die Prätexta »Octavia« (hrsg. von Peiper und Richter, Leipz. 1867, 2. Ausg. 1902; von Leo, Berl. 187879, 2 Bde.; übersetzt von Swoboda, Prag 182830, 3 Bde.), von denen die letzte S. sicher nicht angehört, die Echtheit der übrigen jedoch zu bezweifeln, wie vielfach geschehen, kein Grund vorliegt. Stoff und Form sind griechisch; in der Form gibt sich das Bestreben kund, die Griechen zu überbieten, daher oft Schwulst und Überladung, oft gesuchte Kürze und Dunkelheit, oft geradezu Unnatur. Wohl nur Buchdramen, haben sie doch in der neuern Literatur lange als Muster gegolten, namentlich der klassischen Tragödie der Franzosen. Vgl. Hochart, Études sur la vie de Senèque (Par. 1885); Holzherr, Der Philosoph S. (Rastatt 185859); Brotén, De philosophia Senecae (Upsala 1880); Rubin, Die Ethik Senecas in ihrem Verhältnis zur ältern und mittlern Stoa (Münch. 1901); Stachel, S. und das deutsche Renaissancedrama (Berl. 1907); Kreyher, S. und seine Beziehungen zum Urchristentum (das. 1887); W. Ribbeck, S. und sein Verhältnis zu Epikur, Plato und dem Christentum (Hannov. 1887); M. Baumgarten, S. und das Christentum (Rost. 1895).
Brockhaus-1809: Lucius Annäus Seneca
Brockhaus-1911: Seneca [2] · Seneca
DamenConvLex-1834: Seneca, Lucius Annäus
Eisler-1912: Seneca, Lucius Annäus
Heiligenlexikon-1858: Seneca, S.
Herder-1854: Seneca [2] · Seneca [1]
Meyers-1905: Senĕca [1] · Senĕca Falls
Pierer-1857: Senĕca [1] · Senĕca [2] · Seneca Indianer · Seneca · Seneca Falls