Mythologie

Mythologie. (Dichtkunst)

Jede Nation hat ihre Mythologie, oder fabelhafte Geschichte, worauf sich ihre Religion auch zum Theil die Nationalsittenlehre gründet, und darin die wahren oder falschen Nachrichten von ihrem Ursprung und den ältesten Begebenheiten der bürgerlichen Gesellschaft eingehüllt liegen. Aber gemeiniglich versteht man unter dieser Benennung das Fabelsystem der Griechen, oder der Römer. Da die alten Dichter einen sehr vielfältigen Gebrauch von ihrer Mythologie gemacht haben, so ist sie auch von den Neuern, seitdem sie in den verschiedenen Dichtungsarten sich die Griechen und Römer zu Mustern gewählt haben, in die Werke der Poesie aufgenommen worden. Einige neuere Dichter scheinen zu glauben, daß man noch gegenwärtig einen eben so uneingeschränkten Gebrauch davon machen könne, als ehedem in der griechischen und lateinischen Poesie; andre scheinen sie fast gänzlich zu verwerfen. Die Frage von dem Gebrauch und Mißbrauch der Mythologie hat der Verfasser der bekannten Fragmente in der dritten Sammlung mit guter Urtheilskraft und ausführlich untersucht, auch dadurch ihren Gebrauch und Mißbrauch wol bestimmt, so daß wenig Neues hierüber zu sagen ist. Wir begnügen uns demnach hier einige beyfällige Gedanken über diese Sache vorzutragen.

1. Mythologische Wesen, sie seyen Personen, oder Sachen, als Dinge betrachtet, die einen bestimmten Charakter haben, können als einzele allegorische, oder metaphorische Bilder so gut gebraucht [793] werden, als die Sachen, welche die Natur, oder die Künste hervorbringen. Nur müssen dabey, wie bey andern Bildern, die wesentlichen Regeln, daß sie bekannt und der Materie anständig seyen, in Acht genommen werden. Für gemeine Leser schiken sich unbekanntere mythologische Bilder nicht, und in einem geistlichen Gedichte können das Elysium und der Tartarus nicht erscheinen. Aber der Grund, warum sie da verworfen werden, giebt auch tausend andern aus der Natur oder Kunst hergenommenen Bildern, die Ausschließung aus solchen Gedichten.

2. Eben so frey kann man die Mythologie zum Stoff moralischer, oder blos lustiger Erzählungen brauchen. Es wird wol keinem Menschen einfallen Hagedorns Philemon und Baucis, oder Bodmers Pygmalion, oder Wielands Erzählung von dem Urtheil des Paris deswegen zu tadeln, daß die handelnden Personen aus der Mythologie genommen sind.

Ueberhaupt also, kann das ganze mythologische Fach, als eine Vorrathskammer angesehen werden, aus der Personen und Sachen als Bilder, oder als Beyspiele herzunehmen sind, und ihr Gebrauch ist nicht mehr eingeschränkt, als der Gebrauch irgend eines andern Faches.

3. Hingegen können mythologische Wesen nie, als würkliche, die außer dem Bildlichen, was darin liegt, eine wahrhafte Existenz haben, gebraucht werden. Horaz konnte, da er einer nahen Todesgefahr entgangen war, noch sagen: Wie nahe war es daran, daß ich das Reich der Proserpina und den richtenden Aeacus gesehen hätte, u.s.w. wenigstens hatten damals diese Wesen in der Meinung des Pöbels noch einige Wahrheit. Aber gegenwärtig würde durch eine solche unmittelbare Verbindung des fabelhaften mit dem wahren, einer ernsthaften Sache das Gepräg des Scherzes geben. Es scheinet überhaupt damit die Beschaffenheit zu haben, wie mit der Einmischung allegorischer Personen in historische Gemählde, davon wir anderswo gesprochen haben.1 Es hat etwas anstößiges, sie mit den in der Natur vorhandenen Wesen in eine Classe gestellt zu sehen. In der äsopischen Fabel sprechen die Thiere mit einander, wie vernünftige Wesen, aber wer gegenwärtig in der Epopöe einen Helden sich mit seinem Pferd unterreden ließe, würde nicht zu ertragen seyn. Eine ähnliche Beschaffenheit hat es mit der Mythologie in so fern sie historisch behandelt wird.

Seit kurzem haben einige, die das große Ansehen Klopfkoks für sich haben, angefangen, die Nationalmythologie der nordischen Völker zu brauchen. Meines Erachtens war der Einfall nicht glüklich. Was für ein erstaunlicher Unterschied zwischen der Mythologie der Griechen, die so voll Annehmlichkeit, so voll reizender Bilder ist, und der armen Mythologie der Celten? Wer wird das Elysium mit allen seinen Lieblichkeiten, gegen Valhalla, wo die Seeligen aus den Hirnschädeln ihrer Feinde Bier und Brantewein trinken, vertauschen können? Die angenehmen Früchte des griechischen Erdreichs stechen nicht mehr gegen die herbe Frucht des nordischen Schleedorns ab, als die reizenden Bilder der griechischen Fabel, gegen die rohen der Celtischen.

Aber wenn die mythologischen Personen nicht mehr in die Handlung unsers Heldengedichts, oder unsers Drama eingeführt werden können, so verliehren wir eine Quelle des Wunderbahren. Das ist wahr, und in diesem Stüke sind wir in dem Fall erwachsener Menschen, die man nicht mehr durch Kindermährchen in Schreken, oder Erstaunen sezen kann. Die reifere Vernunft erfodert ein anderes Wunderbare, als die noch kindische Phantasie. Dieses männliche Wunderbare haben große Dichter auch zu finden gewußt. Ist denn im verlohrnen Paradies, in der Meßiade, in der Noachide weniger Wunderbares, als in der Ilias, oder in der Odyssee? »Freylich nicht. Aber philosophische Köpfe haben Mühe sich an die biblische Mythologie zu gewöhnen.« Das kann seyn; auch ist die Dichtkunst überhaupt nicht für solche philosophische Köpfe bey denen die Einbildungskraft beständig von dem Verstand in Fesseln gehalten wird. »Also, Erdichtung für Erdichtung, hätte man ja beym Alten bleiben können.« Das hätte man gekonnt, wenn nicht jene Erdichtungen allen izt durchgehends erkannten Wahrheiten so gerad entgegen stühnden, und wenn nicht die Regel des Horaz in der Natur gegründet wäre: Ficta sint proxima veris.

1S. Allegorie in der Mahlerey.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 793-794.
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