[273] Erfahrung (Empirie) bedeutet im allgemeinsten Sinne des Wortes jedes Vorfinden, Erleben von Inhalten irgend welcher Art, jedes Aufnehmen eines Inhalts, jedes Percipieren einer Bestimmtheit von Objecten oder des Subjectes. Im engeren Sinne ist Erfahrung die Erwerbung eines Wissensinhaltes durch die äußere oder die innere Wahrnehmung (s. d.), durch Beobachtung, Experiment, Induction. So genommen, enthält die Erfahrung schon ein Denken. Erfahrungsinhalt ist das »Physische« (s. d.) und »Psychische« (s. d.), Form (s. d.) der Erfahrung die bestimmte, gesetzmäßige Tätigkeit des Intellects, durch welche »Erfahrungen« gemacht werden. Die Form der Erfahrung stammt natürlich nicht selbst aus der Erfahrung, wenn sie auch erst und nur mit dem Erfahrungsinhalt (in einer concreten Einheit, die erst die Reflexion zerlegt) besteht. »Äußere« und »innere« Erfahrung sind zwei verschiedene Aufmerksamkeitsrichtungen auf einen ursprünglich einheitlich gegebenen Inhalt: die äußere Erfahrung abstrahiert vom erlebenden Subject und geht dem objectiv-gesetzmäßigen Zusammenhange der Erfahrungsinhalte nach, die innere Erfahrung nimmt die Erlebnisse in ihrer unmittelbaren Beziehung aufs Subject, also als Erlebnisse oder Bewußtseinsvorgänge. – Das Wort »erfahren« weist auf die Annahme einer Wirklichkeit hin, von der wir Einwirkungen erhalten, die wir durch »varn« erreichen, erkunden (so schon bei NOTKER).
Der Empirismus (s. d.) wertet die Erfahrung als einzige Quelle der Erkenntnis, der Rationalismus (s. d.) schreibt dem Denken überempirische Erkenntniskraft zu, der Kriticismus (s. d.) betont in verschiedener Weise die Notwendigkeit des Zusammenwirkens von Erfahrung und Denken.
Bei den antiken Philosophen herrscht vielfach eine Bevorzugung des (speculativen) Denkens vor der Erfahrung. So bei den Eleaten, welche geradezu das Erfahrungswissen für ein Scheinwissen erklären; so auch bei HERAKLIT und[273] DEMOKRIT, auch bei PLATO, obgleich dieser die Erfahrung methodisch nicht verwirft. Noch mehr zur Geltung kommt die Empirie bei ARISTOTELES, der gleichwohl ebenso Rationalist ist wie seine Vorgänger. Die Erfahrung ist Erkenntnis des Einzelnen, Besonderen (hê men empeiria tôn kath' hekaston esti gnôsis, Met. I 1, 981 a 15). Nur das Was (hoti), nicht das Warum (dioti) lehrt uns die Erfahrung kennen (Met. I 1, 981 a 29). Doch ist die Erfahrung das Mittel zur Gewinnung allgemeiner Einsichten (ek... tês empeirias tên katholou lambanomen epistêmên, Phys. VII, 3). Aus der Ansammlung von Erinnerungen geht die Erfahrung hervor (gignetai d' ek tês mnêuês empeiria tois anthrôpois hai gar pollai mnêmai ton autou pragmatos mias empeirias dynamin apotelousin, Met. I 1, 980 b 28; Anal. post. II, 19). Ähnlich lehren die Stoiker (empeiria gar esti to tôn homoeidôn phantasiôn plêthos, Plac. IV, 11; Dox. 400). Von der gemeinen Erfahrung ist (nach POLYBIUS) die empeiria methodikê zu unterscheiden. Bei den Epikureern wird der Empirismus zum Sensualismus (s. d.).
Die Scholastiker vernachlässigen die Erfahrung gegenüber dem begrifflichen Denken. Erfahrung ist nach ALBERTUS MAGNUS »singularium cognitio« (Sum. th. II, 25, 2). THOMAS erklärt: »Experientia fit ex multis memoriis« (Sum. th. I, 54, 5 ob. 2; Contr. gentil. II, S3; vgl. Sum. th. I, 114, 2). Bei WILHELM VON OCCAM, noch mehr bei ROGER BACON kommt die Erfahrung mehr zur Geltung. Letzterer stellt das Erfahrungswissen dem »cognoscere per argumentum« gegenüber (Op. maj. VI, 1). »Sinne experimento nihil sufficienter sciri potest.« Es gibt eine äußere (»per sensus exteriores«) und eine innere, aufs Übersinnliche gehende Erfahrung (»scientia interior, illuminatio«) (l.c. p. 446). Nach J. BURIDAN heißt erfahren »ex multis memoriis consimilium prius sensatorum indicare de alio simili occurrente« (bei PRANTL, G. d. Log. IV, 35). SUAREZ bemerkt: »Relinquitur, experientiam solum requiriri ad scientiam, ut intellectus noster manuducatur per eam ad intelligendas exacte rationes terminorum simplicium, quibus intellectis ipse naturalis videt clare immediatam connexionem eorum inter se, quae est prima et unica ratio assentiendi illis« (Met. disp. 1, sct. 6). Bei den Mystikern gilt die innere Erfahrung als übersinnliche Erkenntnisquelle. »Innere Erfahrung« kommt schon bei V. WEIGEL vor. In der Renaissancephilosophie wird auf die Erfahrung schon Nachdruck gelegt, so auch bei L. DA VINCI, nach welchem alle Erkenntnis auf Erfahrung beruht, auch bei PARACELSUS (Paragran. p. 208).
Die rationalistische Philosophie der neueren Zeit verachtet zwar die Erfahrung durchaus nicht, erkennt aber noch eine andere Erkenntnisquelle an und leitet die Notwendigkeit der Erkenntnis aus der Vernunft (s. d.) ab. So DESCARTES, MALEBRANCHE, SPINOZA (s. Erkenntnis). Nach letzterem stammt ein Teil unserer Begriffe aus »vager Erfahrung«. »Apparet, nos multa percipere et notiones universales formare ex singularibus nobis per sensus mutilate, confuse et sine ordine ad intellectum repraesentatis: et ideo tales perceptiones cognitionem ab experientia vaga vocare consuevi« (Eth. II, prop. XL, schol. II).
Der neuere Empirismus beginnt bei F. BACON. Gegenüber dem abstracten Begriffsverfahren und Syllogismus (s. d.) betont er den Wert der methodischen Erfahrung und Induction (s. d.). Die gemeine Erfahrung ist aber wertlos. »Vaga enim experientia, et se tantum sequens... mera palpatio est, et homines potius stupefacit, quam informat« (Nov. Organ. I, 100). Die »experientia literata« ist zu verwenden (l.c. 103; vgl. 64). Nach HOBBES ist die[274] Erfahrung »phantasmatum copia orta ex multarum rerum sensionibus« (Elem. phil.c. 25, 2). »Memoria multarum rerum experientia dicitur« (Leviath. I, p. 9). Gegen die Lehre von den angeborenen (s. d.) Begriffen polemisiert LOCKE (Ess. I, ch. 2 ff.). Nach ihm stammt alles Wissen aus äußerer oder innerer Erfahrung. Die Seele ist eine »tabula rasa« (s. d.), ein »white paper«. Um zur Erkenntnis zu gelangen, muß sie die Objecte oder sich selbst beobachten (l.c. II, ch. I, § 2). Die Erfahrung ist teils »sensation« (Sinneswahrnehmung), teils »reflection« auf das seelische Sein (l.c. § 3, 4). Die Tätigkeit des Geistes wird nicht geleugnet, aber sie beschränkt sich auf Verbindung und Trennung der Vorstellungen, auf Abstraction und Generalisation. Der Stoff der Erkenntnis muß durch Erfahrung gegeben sein: »nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu« (l.c. II, ch. 1, § 5). Nach BERKELEY hat die innere Erfahrung einen Vorrang vor der äußeren. Nach TSCHIRNHAUSEN ist die Erfahrung (besonders die innere) die Quelle der Erkenntnis (Med. ment.).
LEIBNIZ erklärt, die Erfahrung enthalte schon den Intellect, das Denken (Nouv. Ess. II, ch. 1, § 2). »Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi intellectus ipse« (l.c. II, ch. 1, § 6). Empirisches Wissen haben wir, wenn wir etwas erfahren haben ohne Einsicht in die Verknüpfung der Dinge, ohne causale Kenntnis (l.c. IV, ch. 1, § 2). Unser eigenes Seelensein kennen wir durch innere Erfahrung. Die logische Notwendigkeit ist kein Erfahrungsinhalt, kein Product der Wahrnehmung oder Induction: Die Sinne gewähren nur »individuelle Wahrheiten«, und aus dem, was geschehen ist, folgt nicht, daß es immer ebenso geschehen muß (l.c. Préf.). CHR. WOLF will alles erfahrungsmäßig Constatierte rationell (durch »vernünftige Gedanken«) begründen. Erfahrung ist »die Erkenntnis, darzu wir gelangen, indem wir auf unsere Empfindungen und die Veränderungen der Seele acht haben« (Vern. Ged. I, § 325). Die »Erfahrungen« sind »nichts als Sätze von einzelnen Dingen« (Vern. Ged. von d. Kr. d. m. Verst.9, S. 110). »Experiri dicimus quicquid ad perceptiones nostras attenti cognoscimus Ipsa vero horum cognitio, quae sola attentione ad perceptiones nostras patet, experientia vocatur« (Phil. rat. § 664). »Experientia« ist »cognitio singularium« (l.c. § 665). LAMBERT versteht unter »erfahren« »eine Sache mit Bewußtsein empfinden – mit der Vorstellung, daß sie eine Empfindung sei« (N. Organ. § 552). »Gemeine Erfahrung« ist »die bloße Empfindung dessen, was ohne weiteres Zutun in die Sinne fällt« (l.c. § 557).
HUME fragt weniger, woraus die Erfahrung entsteht, als woraus sie besteht nach ihrem Gehalt (RIEHL, Zur Einf. in d. Philos. S. 87). Die Erfahrung beruht auf Gewohnheit, ihr Princip ist ein Glaube (s. d.). Erfahrung besteht in einer Folgerung auf Tatsachen. Apriorisch (s. d.) ist nur die Grundlage der Arithmetik (Treat. Einl. S. 5). Die Existenz von Dingen, die Verbindungen der Ereignisse sind nur durch Erfahrung zu erkennen (l.c. III, sct. ff). Was nicht auf Erfahrung zurückzuführen ist, gehört der Einbildungskraft an, hat nur subjective Gültigkeit, wie die Causalität (s. d.). Ein Begriff (idea, thought) hat nur dann Erkenntniswert, wenn er als die »Copie« (copie, image) einer sinnlichen Bewußtseinstatsache (einer »impression«) zu verificieren ist (l.c. I, sct. 1). Die schottische Schule nimmt Principien (s. d.) an, deren Gewißheit unabhängig von der Erfahrung feststeht. Erfahrung erzeugt keine logische Notwendigkeit. So REID: »Experience informs us only of what is, or has been, not of what must be« (Ess. on the pow. II, p. 281).[275]
So lehrt auch KANT. »Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und comparative Allgemeinheit (durch Induction), so daß es eigentlich heißen muß: soviel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme« (Kr. d. r. Vern. S. 648 f.). Erfahrung »lehrt mich zwar, was da sei und wie es sei, niemals aber, daß es notwendigerweise so und nicht anders sein müsse« (Prolegom. § 14). Kant fragt: wie ist Erfahrung möglich? Was ist die Grundlage der Erfahrungen, welches sind die Bedingungen zu einer Erfahrung, was lehrt uns die Erfahrung, wie weit reicht sie? Es zeigt sich, daß die Erfahrung ein a priori (s. d.) enthält, daß sie selbst eine Intellectualfunction sei, indem sie die synthetische Tätigkeit des einheitlichen Bewußtseins voraussetzt. Alle Erkenntnis beginnt mit der Erfahrung, aber das Erkennen selbst enthält Formen (s. d.), die erst die Erfahrung constituieren. Die Erfahrung bietet nur die Erkenntnis von Erscheinungen (s. d.), die ein Unerfahrbares, das Ding an sich (s. d.), voraussetzen. Erfahrung ist »das Erkenntnis der Gegenstände der Sinne als solcher, d. i. durch. empirische Vorstellungen, deren man sich bewußt ist (durch verbundene Wahrnehmungen)« (Üb. d. Fortschr. d. Met. S. 114). Erfahrung besteht »in der synthetischen Verknüpfung der Erscheinungen in einem Bewußtsein, sofern dieselbe notwendig ist«. Sie bedarf »reiner Verstandesbegriffe« zu ihrer Allgemeingültigkeit (Prolegom. § 22, 26). »Erfahrung ist ohne Zweifel das erste Product, welches unser Verstand hervorbringt, indem er den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet... Gleichwohl ist sie bei weitem nicht das einzige Feld, darin sich unser Verstand einschränken läßt. Sie sagt was zwar, was da sei, aber nicht, daß es notwendigerweise so und nicht anders sein müsse. Eben darum gibt sie uns auch keine wahre Allgemeinheit...« (Krit. d. r. Vern. S. 35). »Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt, welchen Zusatz wir von jenem Grundstoffe nicht eher unterscheiden, als bis lange Übung uns darauf aufmerksam und zur Absonderung desselben geschickt gemacht hat« (l.c. 2. A., S. 647). Alle Erfahrung enthält »außer der Anschauung der Sinne, wodurch etwas gegeben wird, noch einen Begriff von einem Gegenstande, der in der Anschauung gegeben wird oder erscheint: demnach werden Begriffe von Gegenständen überhaupt, als Bedingungen a priori, aller Erfahrungserkenntnis zum Grunde liegen« (l.c. S. 110). »Alle Erfahrung... besteht aus Anschauung eines Gegenstandes, d. i. einer unmittelbaren und einzelnen Vorstellung, durch die der Gegenstand, als zum Erkenntnis gegeben, und aus einem Begriff, d. i. einer mittelbaren Vorstellung durch ein Merkmal, was mehreren Gegenständen gemein ist, dadurch er also gedacht wird« (Üb. d. Fortschr. d. Met. S. 105). Die »Principien a priori«, nach denen allein Erfahrung möglich ist, sind die Formen der Objecte, Raum und Zeit, sowie die Kategorien (s. d.) (l.c. S. 115). Das »Synthetische der Erkenntnis« ist das Wesentliche der Erfahrung; der Empirismus ist unhaltbar (ib.). Erkenntnis gibt es nur »in dem Ganzen aller möglichen Erfahrung« (Kr. d. r. Vern. S. 148). Alle Erfahrungsobjecte müssen, um Erkenntnis zu gewähren, sich nach den Gesetzen des Verstandes richten (l.c. S. 18). Mehr als gesetzmäßige Verknüpfungen von Erfahrungen kann keine Erkenntnis material enthalten. Das Unbedingte[276] (s. d.), das uns über die Erfahrung hinaustreibt, kann doch nur »in praktischer Absicht« bestimmt werden (l.c. S. 20)). Innere Erfahrung ist nicht ohne äußere Erfahrung möglich (l.c. S. 211). Sie besteht im Bewußtsein des »Ich denke« und kann »nicht als empirische Erkenntnis, sondern muß als Erkenntnis des Empirischen überhaupt angesehen werden« (l.c. S. 294).
Einen »rationellen Empirismus« fordert GOETHE, die Verknüpfung der Tatsachen nach innerer Notwendigkeit (vgl. SIEBECK, Goethe als Denk. S. 23). G. E. SCHULZE betont: »Die Erfahrung liefert, für sich genommen, immer nur die Erkenntnis gegenwärtiger Gegenstände, und zwar lediglich in Ansehung dessen, was in ihnen vorhanden ist (nicht aber sein muß)« (Gr. d. allg. Log.3, S. 175). Nach HOFFBAUER heißt »erfahren« im weiteren Sinne »etwas sich durch den Sinn mit Bewußtsein vorstellen«, in der engeren Bedeutung »Gegenstände in dem Verhältnisse denken, in welchem sie in Rücksicht ihrer Einwirkung auf unsere Seele stehen« (Log. S. 4). Nach MAINE DE BIRAN ist die innere Erfahrung die Quelle der apriorischen (s. d.) Begriffe. Nach FRIES wird uns das Apriorische der Erkenntnis durch innere Erfahrung bewußt. Erfahrung ist »Erkenntnis, wiefern wir uns auch ihres notwendigen Zusammenhanges mit anderen durch ihre Unterordnung unter die apodiktischen Gesetze bewußt werden« (Syst. d. Log. S. 321), »apodiktische Erkenntnis, die aus der Einheit und Verbindung der Anordnung und Zusammensetzung der einzelnen Wahrnehmungen resultiert« (N. Krit. I, 308). Nach J. G. FICHTE ist Erfahrung »das System unserer Vorstellungen«. »Die Erfahrung kann höchstens lehren, daß Wirkungen gegeben sind, die den Wirkungen vernünftiger Ursachen ähnlich sind; aber nimmermehr kann sie lehren, daß die Ursachen derselben als vernünftige Wesen an sich wirklich vorhanden seien; denn ein Wesen an sich selbst ist kein Gegenstand der Erfahrung.« »Wir selbst tragen dergleichen Wesen erst in die Erfahrung hinein« (Üb. d. Best. d. Gelehrt. S. 17). Nach SCHELLING versteht man gewöhnlich unter Erfahrung »die Gewißheit, die wir durch die Sinne von äußeren Dingen und deren Beschaffenheit erhalten« (WW. I 10, 196). Schelling lehrt in späterer Zeit einen »höheren« »Empirismus«, der sich auch aufs Übersinnliche, Göttliche (durch Offenbarung) erstreckt (l.c. S. 198 f.). HEGEL macht die Erfahrung von den Bestimmungen des reinen Denkens abhängig. HERBART findet in den Erfahrungsbegriffen »Widersprüche« (s. d.), die seitens der Philosophie zu bearbeiten sind. Auch die innere Erfahrung enthält Widersprüche (Lehrb. zur Psychol.3, S. 11). BENEKE schätzt die innere Erfahrung als Quelle der Erkenntnis des Innenseins der Dinge. So auch SCHOPENHAUER (s. Wille). Nach ihm ist Erfahrung »alles, was in meinem empirischen Bewußtsein vorkommen kann« (Anmerk. S. 107). Nach ULRICI ist Erfahrung »das Ganze der unmittelbar notwendigen (objectiven) Gedanken und damit dasjenige Erkennen und Wissen, welches unmittelbar aus dem Zusammenwirken unseres Denkens mit dem reellen Sein entspringt« (Log. S. 58). Alle Erkenntnis, die auf der »Mitwirkung eines andern, von unserer Denkfähigkeit verschiedenen Factors beruht«, ist eine »empirische oder Erfahrungserkenntnis« (Leib u. Seele S. 16).
Bei den neueren Kantianern wird das a priori (s. d.) der Erfahrung betont, teils mit mehr rationalistischer Färbung (O. LIEBMANN, COHEN, NATORP u. a), teils mehr empiristisch. So bei A. LANGE, nach welchem Erfahrung der Proceß ist, durch welchen die Erscheinungen Von Dingen in uns entstehen (Gesch. d. Mat. II, 27). Der (nicht streng Kantsche) Kriticismus (s. d.) erkennt[277] in der Erfahrung nichtempirische Factoren an. Nach H. SPENCER ist aller Intellect durch die Erfahrung erworben, aber auch durch Erfahrungen der Vorfahren, die für das Individuum ein Apriori (s. d.) bilden (Psychol. II, § 332). Ähnlich LEWES. E. V. HARTMANN betrachtet als Constituenten der Erfahrung »unbewußte Kategorialfunctionen« (s. Kategorien). Die »mittelbare« Erfahrung bedeutet die »hypothetisch erschlossenen Dinge an sich im objectiv realen Raum« (Gesch. d. Met. II, 31). Nach VOLKELT wirken Erfahrung und Denken zusammen. Erfahrung ist »unmittelbares, scheidewandloses Innewerden« (Erf. u. Denk. S. 64). »Reine« Erfahrung ist das »Wissen von den eigenen Bewußtseinsvorgängen« (l.c. S. 60). Nach EUCKEN bedarf das Erkennen der Erfahrung, »aber es kann nicht aus ihr schöpfen, ohne die äußere Welt in Begriffe und Gesetze, d.h. in geistige Größen unzuwandeln, sie damit aber über den ersten Befund weit hinauszuheben« (Kampf um e. neuen Lebensinh. S. 35 f.). Nach LAZARUS ist die Erfahrung nicht ein bloßes Sinnesproduct, sondern ein Erzeugnis der Apperception (Leb. d. Seele II2, 58). Nach HAGEMANN ist die Erfahrung nicht die einzige Erkenntnisquelle, sie enthält nicht den Grund der Tatsachen (Log. u. Noet. S.143). RIEHL erklärt, die Erfahrung sei »ein socialer, kein individuell-psychologischer Begriff« (Phil. Krit. II 2, 64). Sie ist das Product des »gemeinschaftlichen oder intersubjectiven Denkens«, an bestimmte »Regeln des Denkverkehrs« gebunden (l.c. S. 65). Die Erfahrung weist zugleich auf etwas hin, was selbst nicht Erfahrung ist (l.c. II 1, 3), das »Überempirische« in der Erfahrung, das Apriori (s. d.), ist. Es gibt nur eine Erfahrung, die zwei Richtungen oder Seiten hat, die »beide principiell gleichwertige coordinierte Arten des Bewußtseins sind« (l.c. II 1, 4). Das Denken ergänzt die Wahrnehmung; reine Erfahrung kann keine Wissenschaft begründen (Zur Einf. in d. Philos. S. 69). Reine Erfahrung »ist nichts Gegebenes; sie ist ein Product der Abstraction, ein Educt, ein Auszug aus der wirklich gegebenen Erfahrung. Diese aber ist empfangen in den Formen des Anschauens und entwickelt nach den Formen des Denkens«. Erfahrung ohne Denken ist nicht möglich (l.c. S. 244). WUNDT erklärt, nur aus den Wechselwirkungen von Erfahrung und Denken erwachse Erkenntnis. Alles Denken ist an einen empirischen Inhalt gebunden, und jeder empirische Inhalt wird durch ein Denken verarbeitet. »Reine Erfahrung und reines Denken sind daher begriffliche Fictionen, die in der wirklichen Erfahrung und im wirklichen Denken nicht vorkommen« (Syst. d. Philos.2, S. 208 ff.; Phil. Stud. XIII, 6). Die Erfahrung bedarf der Berichtigung und Erweiterung durch das Denken (Phil. Stud. VII, 47). »Äußere« und »innere« Erfahrung bezeichnen »nicht verschiedene Gegenstände, sondern verschiedene Gesichtspunkte..., die wir bei der Auffassung und wissenschaftlichen Bearbeitung der an sich einheitlichen Erfahrung anwenden. Diese Gesichtspunkte werden aber dadurch nahe gelegt, daß sich jede Erfahrung unmittelbar in zwei Factoren sondert: in einen Inhalt, der uns gegeben wird, und in unsere Auffassung dieses Inhalts. Wir bezeichnen den ersten dieser Factoren als die Objecte der Erfahrung, den zweiten als das erfahrende Subject. Daraus entspringen zwei Richtungen für die Bearbeitung der Erfahrung. Die eine ist die der Naturwissenschaft: sie betrachtet die Objecte der Erfahrung in ihrer von dem Subject unabhängig gedachten Beschaffenheit. Die andere ist die der Psychologie: sie untersucht den gesamten Inhalt der Erfahrung in seinen Beziehungen zum Subject und in den ihm von diesem unmittelbar beigelegten Eigenschaften«. Der naturwissenschaftliche[278] Standpunkt ist der der »mittelbaren«, der psychologische der Standpunkt der »unmittelbaren« Erfahrung (Gr. d. Psychol.5, S. 3). »Indem... die Erscheinungen in dem Sinne als äußere erscheinen, daß sie auch dann noch unverändert stattfinden würden, wenn das erkennende Subject überhaupt nicht vorhanden wäre, wird die naturwissenschaftliche Form der Erfahrung auch die äußere Erfahrung genannt. Indem dagegen... alle Erfahrungsinhalte als unmittelbar in dem erkennenden Subject selbst gelegene betrachtet werden, heißt der psychologische Standpunkt der der innern Erfahrung« (l.c. S. 387; Phil. Stud. XII, 23; Syst. d. Philos.2, S. 147, 172). KÜLPE betont: »Die Wissenschaft liefert uns sehr oft eine Ergänzung der Erfahrung, nicht bloß deren Nachbildung oder Verallgemeinerung.« Die Gedanken haben eine selbständige Gesetzlichkeit (Philo(s. d.) Gegenwart, S. 20 f.).
Der Empirismus betont in verschiedener Weise die Erfahrung als Quelle wahren Wissens. J. ST. MILL leitet aus Erfahrung und Induction (s. d.) alle Erkenntnis ab. COMTE lehrt einen Positivismus (s. d.), der alle metaphysischen Zutaten der Phantasie abstreifen will. LEWES bestimmt: »Experience is the registration of feelings and the relations of their correlative objects« (Probl. of Life and Mind I, 100). Nach E. DÜHRING ist Erfahrung die »unmittelbare Erprobung des tatsächlichen Verhaltens« (Log. S. 84). Auf sinnliche und innere Erfahrung führt CZOLBE alle Erkenntnis zurück (Gr. u. Urspr. d. m. Erk. S. 5). Ähnlich auch ÜBERWEG, C. GÖRING. Nach LIPPS ist Erfahrung »Bewußtsein von etwas« (Gr. d. Log. S. 3). Reine Erfahrung, mit Elimination aller »Zutaten« des Denkens, gilt als wissenschaftliches Ideal bei einer Reihe von Denkern, die an HUME erinnern. So bei R. AVENARIUS. In der »ursprünglichen« Erfahrung liegt »das, was wirklich durch den Gegenstand inhaltlich gegeben ist., und alles das, was etwa das erfahrende Individuum in den Gegenstand hineingedacht haben möchte, völlig ungeschieden zusammen« (Phil. als Denk. S. 27). Die »Zusätze« des Denkens sind zu »eliminieren« (l.c. S. 40). »Reine« Erfahrung ist ein »Ausgesagtes«, »welches in allen seinen Componenten rein nur Bestandteile unserer Umgebung zur Voraussetzung hat« (»Synthetischer« Begriff der reinen Erfahrung). Sie ist die Erfahrung, »welcher nichts beigemischt ist, was nicht selbst wieder Erfahrung wäre, welche mithin in sich selbst nichts anderes als Erfahrung ist« (»Analytischer« Begriff der Erfahrung, Krit. d. r. Erfahr. I, S. 4 f.). Im weiteren Sinne ist reine Erfahrung jeder Inhalt einer »Aussage«, jeder »E-Wert« (s. d.), im engeren ein als »ein Sachhaftes« bezeichneter Wert (l.c. II, 363 f.). Jede Erfahrung enthält als »Vorgefundenes« ein (erfahrendes) »Centralglied« und ein »Gegenglied« der »Umgebung« sowie die »Aussagen« des ersteren über das letztere (l.c. I, 13; Weltbegr. S. 9). Die Erfahrung wird verfälscht durch die (zu eliminierende) »Introjection« (s. d.). Der »natürliche Weltbegriff« (s. d.) ist zu restituieren. Ähnlich lehren CARSTANJEN, J. PETZOLD, R. WILLY. Reine Erfahrung ist auch das Ideal von E. MACH; ökonomisch geordnete Erfahrungen bilden die Erkenntnis. Ähnlich lehrt auch H. CORNELIUS; nach ihm besteht das Wissen »in der Zusammenfassung unserer bisherigen Erfahrungen und der darauf gegründeten Erwartungen für die Zukunft«. Alle weiteren Elemente sind »dogmatisch.« (s. d.) (Einl. in d Philos. S. 256). Die Theorie, welche in der »äußeren« Erfahrung der Sinne eine unmittelbare Erfahrung von Physischem sieht, ist zurückzuweisen; denn unsere sinnlichen Erlebnisse als solche sind nicht, wie das Physische, unabhängig von uns, stehen auf gleicher Stufe mit den Erlebnissen der »inneren« Erfahrung[279] (l.c. S. 179). OSTWALD bestimmt als das Wesentliche der Erfahrung die Fähigkeit, durch die Voraussicht einer näheren oder ferneren Zukunft zweckmäßig zu handeln, wozu wir durch Vergleichen gelangen (Vorles. üb. Naturphil.2, S. 16 f.). Vgl. Empirismus, Erkenntnis, Erfahrungsurteile, Wahrnehmung, Induction.
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