[863] Epidemīe (griech., Volkskrankheit, Seuche), jede Krankheit, die zu gewissen Zeiten innerhalb eines bestimmten Bevölkerungskreises besonders zahlreiche Erkrankungsfälle der gleichen Art herbeiführt. Vorwiegend treten die ansteckenden Krankheiten (Infektionskrankheiten) epidemisch auf, ausnahmsweise und nur in beschränkten Gebieten, wenn gewisse Umstände (Witterungseinflüsse) ihrer Entstehung günstig sind, auch andre Krankheiten. Bei ganz eng begrenztem Gebiet spricht man von einer Hausepidemie, ist eine Seuche über große Länderstrecken verbreitet, so wird sie als Pandemie bezeichnet. Die wichtigsten epidemisch auftretenden Krankheiten sind Typhus, Cholera, Scharlach, Masern, Pocken, Diphtherie, Influenza, Pest und Gelbfieber. Die Ursache der epidemischen Ausbreitung ist hierbei die Einwirkung von Infektionserregern (Bakterien) auf große Menschengruppen, indem dieselben entweder gleichzeitig zur Wirksamkeit gelangen (z. B. durch Eindringen von Typhuserregern oder Cholerabazillen in Wasserversorgungsanlagen), oder von erkrankten Menschen mehr oder weniger direkt auf andre übertragen werden (z. B. bei Pocken, Scharlach), oder indem äußere Bedingungen (Witterungseinflüsse, Grundwasserschwankungen, wohl auch andre noch unbekannte Vorgänge) die Entstehungsbedingungen bestimmter Krankheiten günstig beeinflussen. Viele Epidemien entstehen jedenfalls aus Endemien, wie ja überhaupt eine scharfe Trennung beider Begriffe nicht möglich ist. Dabei ist die endemische Heranzüchtung des Infektionserregers durch Menschengruppen, die gleichartigen Verhältnissen unterworfen sind, zu gewisser Ansteckungs- und Lebensfähigkeit, so daß dann eine rasche Ausbreitung auf ursprünglich weniger gefährdete Gebiete und Bevölkerungsklassen erleichtert ist, von größter Bedeutung. Die Dauer einer E. ist sehr verschieden und schwankt zwischen mehreren Monaten und etwa einem Jahr. Im allgemeinen ist die Dauer einer E. länger innerhalb eines größern Menschenkomplexes, einer großen Stadt, als an kleinern Orten. Dies hängt wohl mit der jeweilig vorhandenen Anzahl der überhaupt erkrankungsfähigen Individuen zusammen. Manche E. tritt das eine Mal gutartig, das andre Mal bösartig auf; die Gründe hierfür sind unbekannt. Sehr gewöhnlich sind die Erkrankungen zu Anfang der E. die schwersten, während in der zweiten Hälfte der E. die Heftigkeit der Krankheitserscheinungen wie die Sterblichkeit nachläßt. Doch kommen hiervon vielfache Abweichungen vor. Manchmal herrschen zwei Epidemien zu gleicher Zeit, z. B. Scharlach und Masern, Cholera und Typhus, Keuchhusten und Grippe. Andre Male treten aber auch aus unbekannten Gründen während der Herrschaft einer heftigen E. andre epidemische und endemische Krankheiten zurück. Es scheint durch eine große E. die Erkrankungsfähigkeit einer Bevölkerung erschöpft zu werden, denn man findet oft nach Ablauf einer E. längere Zeit hindurch einen auffallend guten Gesundheitszustand. Es mag dies darauf beruhen, daß viele anderweit kranke und schwächliche Individuen hinweggerafft worden und nur die widerstandsfähigern übriggeblieben sind. Je nach der Eigenart der einzelnen Krankheit ist die Verbreitungsart sehr verschieden. Infektionserreger, die sich nur im menschlichen Organismus entwickeln können, setzen direkte Übertragung von Mensch zu Mensch voraus, solche, die auch außerhalb des Organismus lebensfähig bleiben, können bald durch das Wasser, bald durch die Luft, durch Nahrungsmittel, durch Waren übertragen werden. Bei manchen Epidemien spielen Tiere (z. B. die Ratten bei der Pest) die Rolle der Vermittler. Von großer Wichtigkeit sind ferner die politisch-sozialen Verhältnisse, Lebensweise der Bevölkerung; dichtgedrängtes Wohnen, Unreinlichkeit, Verständnislosigkeit für hygienische Maßnahmen begünstigen die Epidemien. Viele Menschen sind gegen bestimmte Seuchen mehr oder weniger immun, andre prädisponiert; auch hierdurch wird der Gang einer E. beeinflußt. Weniger bedeutungsvoll scheinen die Bodenbeschaffenheit und die Schwankungen des Grundwassers zu sein, die Pettenkofer als wichtige Faktoren bei Epidemien bezeichnete, jedoch ist zuzugeben, daß noch manche die Epidemien beeinflussenden Vorgänge (z. B. meteorologische) der Aufklärung harren, die Pettenkofer als örtliche und zeitliche Dispositian zusammenfaßte. Der uralte Glaube an den kosmischen Ursprung von Epidemien, an den Einfluß der Stellung der Sterne, des Erscheinens eines Kometen ist Aberglaube. Die Bekämpfung der Epidemien beruht vor allem in der Prophylaxe, d.h. der Verhütung. Daher sind hygienische Maßregeln, Städtereinigung, Sorge für gesunde Wohnungen und Arbeitsräume, rationelle Ernährung etc. von größter Bedeutung. Durch öffentliche Maßregeln ist der Ausgangspunkt der Seuche, wenn ein solcher bekannt ist, abzuschließen durch Isolierung der ersten Kranken, am besten in geeigneten öffentlichen Anstalten, unter Umständen mit Hilfe energischer Quarantänemaßregeln. Wichtig ist bei vielen epidemisch auftretenden Krankheiten sachgemäße Desinfektion von Wäsche, Ausleerungen, infizierten Gebrauchsgegenständen, ferner Überführung der Kranken aus ihren ungünstigen Wohnungen in zweckmäßig eingerichtete Krankenanstalten. Die Ausführung dieser und andrer Maßnahmen ist für das Deutsche Reich durch das Gesetz zur Bekämpfung gemeingefährlicher Krankheiten vom 30. Juni 1900 geregelt. Danach kann bei bestimmten Krankheiten die zwangsweise Isolierung der Kranken in Krankenhäusern durchgeführt werden. Vgl. auch Infektionskrankheiten und die einzelnen Krankheiten. Vgl. Hirsch, Handbuch der historisch-geographischen Pathologie (2. Aufl., Stuttg. 18811883, 2 Tle.); Derselbe, Über die Verhütung und Bekämpfung der Volkskrankheiten (Berl. 1875); Hecker, Die großen Volkskrankheiten des Mittelalters (das. 1865); Griesinger, Infektionskrankheiten (Erlang. 1864); Österlen, Die Seuchen, ihre Ursachen, Gesetze und Bekämpfung (Tübing. 1872); Lersch, Geschichte der Volksseuchen nach und mit den Berichten der Zeitgenossen (Berl. 1895); Weichselbaum, Epidemiologie (in Wehls »Handbuch der Hygiene«, Bd. 9, Jena 1899).