Pocken

[55] Pocken (Blattern, Menschenpocken, Variola), ansteckende Erkrankung, in deren Verlauf sich ein eigentümlicher Hautausschlag entwickelt. In Indien und Innerafrika sollen Pockenepidemien schon seit uralten Zeiten geherrscht haben, in Arabien und Vorderasien faßten die P. im 6. Jahrh. festen Fuß, verbreiteten sich von hier auf Süd- und Mitteleuropa und wurden im 16. Jahrh. nach Schweden, später auch nach Amerika verschleppt. Seitdem Ende des 18. Jahrh. durch Jenner die Schutzimpfung eingeführt ist, hat sich die Sterblichkeit ganz erstaunlich verringert, so daß eigentliche Völkerseuchen in den zivilisierten Ländern Europas nicht mehr aufgetreten, auch wohl in Zukunft nicht mehr zu befürchten sind. Zweifellos werden die P. wie andre Infektionskrankheiten durch ein kleinstes Lebewesen verursacht. Doch gelang es bis jetzt nicht, ein solches einwandfrei als Erreger der Krankheit nachzuweisen. Pfeiffer sieht ein eigentümliches Sporozoon, den Cytorrhyctes variolae, als Pockenerreger an. Der Erreger der P. zeigt sich in bezug auf seine Lebensenergie (Giftigkeit, Virulenz) verschiedenartig, wodurch sich die Verschiedenheit der Blattern (Variola), der Kuhpocken (Vaccina) und auch die verschiedenen Grade der erstern (Varioloiden) erklären. Jedenfalls erweist sich die Identität des Ansteckungsstoffes bei Variola und Varioloiden darin, daß Ansteckung bei Variola Varioloiden und umgekehrt Varioloiden Variola erzeugen kann, wie auch ferner die Gleichartigkeit des Kuhpockenimpfstoffes mit Variola daraus hervorgeht, daß ein Organismus, der eine dieser Ansteckungskrankheiten durchgemacht hat, gegen erneute Berührung mit einem jeden derselben unempfänglich geworden ist.

Das auffallendste Symptom der P. ist das Auftreten eines pustelförmigen Hautausschlages, der mit der Bildung roter Flecke und Knötchen beginnt, denen ein Bläschen mit anfangs klarem, dann eiterigem Inhalt folgt. Die Bläschen wandeln sich allmählich in Pusteln um. Endlich zerreißen die Pusteln an ihrer Spitze, ihr Inhalt fließt aus, und es bilden sich kleine, offene Geschwüre, die mit Zurücklassung vertiefter Narben verheilen. Bei den leichtern Fällen kommt es gar nicht oder nur in geringerm Grade zur Eiterbildung, sondern nur zur oberflächlichen Zerstörung der Haut, und die zurückbleibenden Narben sind unbedeutend. In andern Fällen von P. zerteilt sich die Entzündung, des Hautgewebes wieder, es entsteht kein Substanzverlust, es bleiben also auch keine Narben zurück. Im letztern Fall durchbricht der Inhalt der Pockenpusteln gewöhnlich nicht ihre Decke, sondern vertrocknet zu dunkelbraunen runden Schorfen. Diese fallen ab und hinterlassen rote, etwas hervorragende Flecke, die sich bald entfärben und abschwellen. Mischt sich der eiterige Inhalt der Pockenpusteln mit Blut, das aus den freien Gefäßen des geröteten Mutterbodens austritt, so entstehen die gefürchteten schwarzen P. In sehr seltenen Fällen tritt Brand der Haut zu den P., und die Bläschen füllen sich mit einem mißfarbigen jauchigen Inhalt (Variolae gangraenosae). Auch die Schleimhäute werden Sitz von Pockeneruptionen, und zwar am häufigsten die Bindehaut des Auges, die Schleimhaut des Mundes, des Schlund- und Kehlkopfes, der Luftröhre und ihrer größern Äste, der Genitalien und der Harnröhre. Auch auf der Hornhaut des Auges können sich P. entwickeln, deren zurückbleibende Narben Blindheit bedingen können. Bei Knaben kommen häufig derbe, durch die Haut durchzufühlende Entzündungsknoten in den Hoden vor, die mit Schwund des erkrankten Drüsengewebes heilen.

Die Inkubationsdauer (Zeit zwischen Ansteckung und Krankheitsausbruch) dauert 9–18 Tage. Die Krankheit beginnt plötzlich mit hohem Fieber, Schüttelfrost, [55] Kopfschmerzen und heftigem Kreuzschmerz. Pusteln bilden sich noch nicht, wichtig für die Erkennung ist jedoch ein etwa am 2. Tag auftretender gleichmäßiger oder feinfleckiger Ausschlag an der Unterbauchgegend und an den Oberschenkeln (Rash). Etwa am 4. Tage nach Beginn des Fiebers findet der Ausbruch der P. statt, unter Brennen und Anschwellen der Haut, besonders am Kopf, unter Halsschmerzen, Schling- und Harnbeschwerden. Der Ausbruch der P. über den Körper geschieht von oben nach unten, dabei hört das Fieber ganz auf oder läßt doch bedeutend nach. Der Pockenausbruch ist meist in drei Tagen vollendet. Der Kranke fühlt sich, wenn die Pockeneruption nicht zu reichlich ist, verhältnismäßig wohl. Etwa am 6. Tage nach dem ersten Ausbruch der P. entwickelt sich in den P. die Eiterung, die in derselben örtlichen Aufeinanderfolge wie der Ausbruch der P. eintritt. Die Rötung und Schwellung der betreffenden Hautpartien und die Schmerzen daselbst nehmen beträchtlich zu. Das Fieber steigert sich wieder oder stellt sich mit wiederholtem Frösteln von neuem ein (Eiterungsfieber), und die Körpertemperatur erreicht oft eine gefahrdrohende Höhe. Hierzu kommen nicht selten Blutaustritte in den Pockenbläschen, zuweilen übermäßiges Nasenbluten, Bluthusten und Blutflüsse aus andern Organen, namentlich aus den Nieren in Form des Blutharnens. Übersteht der Kranke das Fieber, so lassen allmählich die Beschwerden nach, die P. verschorfen, fallen ab, und nach 4–6 Wochen ist die Heilung vollendet. Die Pockensterblichkeit schwankt in den einzelnen Epidemien stark; sie beträgt im Durchschnitt 15–30 Proz.

Bei den leichtern Pockenfällen (Varioloiden) bieten die Symptome nur gradweise Verschiedenheiten von denen der Variola dar. Das Fieber, das dem Ausbruch der P. vorausgeht, ist weniger intensiv und von kürzerer Dauer. Der Pockenausbruch selbst ist schon nach 24–36 Stunden beendet, die Anzahl der P. ist geringer, sie stehen weniger dicht, die Umwandlung der Knötchen in Bläschen und Pusteln findet schneller statt als in schweren Fällen. Die Affektion der Schleimhäute ist weniger bedeutend. Das Fieber verliert sich mit der vollendeten Eruption gänzlich, und es tritt damit fast immer ein Wohlbefinden ein, das nur wenig durch die Schleimhautaffektion gestört ist. Gewöhnlich tritt die Vertrocknung der Pusteln schon 5–6 Tage nach ihrem Ausbruch ein.

Die Bekämpfung der P. gründet sich auf die Erfahrung, daß dasselbe Individuum nur einmal befallen wird, selbst wenn es nur die mildern Formen des Ansteckungsgiftes überwunden hat. Jedenfalls ist bei Auftreten von P. sofort die ganze Umgebung des Kranken im weitesten Sinne, d. h. alles, was mit ihm in Berührung gekommen ist oder in Berührung kommen kann, unverzüglich zu impfen (vgl. Impfung). Die Behandlung der ausgebrochenen P. kann nur eine symptomatische sein. Im Anfangsstadium sind kühle Bäder und das Auflegen einer Eisblase auf den Kopf von Vorteil, Diät und Stuhlgang sind sorgfältig zu überwachen. Bei schweren Fieberdelirien ist der vorsichtige Gebrauch narkotischer Mittel oft nicht zu umgehen. Zur Bekämpfung der Vereiterung der Pusteln, des hiervon abhängigen Fiebers und der spätern Narbenbildung hat man die Haut mit antiseptischen Salben und Lösungen, auch mit langdauernden warmen Bädern (Wasserbett) behandelt. Wirksamer als alle diese Mittel erwies sich die von Finsen angegebene Behandlung mit rotem Lichte. Durch Abhaltung aller andern Lichtstrahlen als der roten (mittels roter Vorhänge) wird die Entwickelung der Eitererreger im zweiten (Eiterungs-) Stadium der P. verhindert und dadurch die gefährliche, zu zahlreichen Komplikationen und Nachkrankheiten, auch zu Narbenbildung führende Vereiterung der Pusteln verhindert oder stark gemildert. Finsen gab an, auf diese Weise die Pockensterblichkeit um etwa die Hälfte vermindert zu haben. Nach Abtrocknung der Pusteln dürfen die Schorfe, zumal im Gesicht, nicht abgekratzt, höchstens durch feuchtwarme Umschläge abzulösen versucht werden. Kinder muß man in dieser Beziehung sorgfältig überwachen und sie besonders auch an dem unwillkürlichen Kratzen während des Schlafes verhindern, da, wenn die P. an der natürlichen Heilung verhindert werden, die Narben um so entstellender sich ausbilden. Vgl. Eimer, Die Blatternkrankheit (Leipz. 1853); Weigert, Die Pockeneffloreszenz der äußern Haut (Bresl. 1874); Curschmann, Die P., in Ziemssens »Handbuch der speziellen Pathologie«, Bd. 2 (2. Aufl., Leipz. 1877); Immermann, Variola, in Nothnagels »Handbuch der speziellen Pathologie und Therapie« (Wien 1896); Kübler, Geschichte der P. und der Impfung (Berl. 1901), »Anweisung zur Bekämpfung der P.« (hrsg. vom kaiserl. Gesundheitsamt, das. 1904; mit den preuß. Ausführungsvorschriften, das. 1905).

[Pocken der Haustiere.] P. kommen bei allen Haussäugetieren, als Seuche eigner Art jedoch nur bei Schafen vor. Die Schafpocken (Ovine), deren Ansteckungsstoff (virus), wie bei allen P., nicht bekannt, aber sehr ansteckend, durch Zwischenträger übertragbar und sechs Monate lang haltbar ist, zeigen sich als rote Flecke, Knötchen, Bläschen und Pusteln, die zu größern Geschwürsflächen (Aaspocken) zusammenfließen können. Heilung erfolgt in drei Wochen, doch sterben 20, selbst 50 Proz. der Herde. Einmaliges Überstehen gibt Immunität, weshalb früher in Deutschland die Schafpockenimpfung allgemein üblich war, die jedoch etwas ganz andres als die Pockenimpfung beim Menschen war. Während diese nicht mit echtem giftigen, sondern mit dem zwar schutzgebenden, aber keine echten Pocken erzeugenden Impfstoff (s. unten) erfolgt, kannte man einen solchen unschädlichen Impfstoff für Schafe nicht. Man impfte vielmehr die gesunden Herden mit echtem Pockenvirus und erzeugte echte Schafpocken, die zwar milde verliefen und immun machten, also den Impfzweck erfüllten, aber ebenso ansteckend waren wie auf natürlichem Weg entstandene P. und deshalb eine fortwährende Seuchenverschleppung bewirkten. Deshalb wurde 1880 die Impfung gesunder Herden verboten. Es blieb nur die sogen. Notimpfung bestehen, d. h. Impfung der noch gesunden Tiere der Herde nach erfolgtem natürlichen Seuchenausbruch. Seitdem sind die Schafpocken in Deutschland völlig ausgerottet, wenn auch 1901 und 1905, wahrscheinlich durch russischen Grenzschmuggel, ein Herd in Ostpreußen mit vorübergehender Weiterverschleppung entstanden ist Dagegen herrschen sie noch in Österreich-Ungarn, Italien sowie namentlich in Frankreich und Rußland. Die Kuhpocken (Variola vaccina) entstehen auf natürliche Weise ziemlich selten am Euter der Kühe (Übertragung von pockengeimpften Menschen aus), sind nur durch direkte Berührung übertragbar und machen das Tier nicht krank. Bedeutung hat vielmehr ihre künstliche Erzeugung zur Gewinnung des Pockenimpfstoffes für Menschen (s. Impfung), wozu Kälber in besondern Impfinstituten gehalten und benutzt werden. Die Kuhpocke bildet erst rote Knötchen, dann Bläschen mit wasserhellem Inhalte, die mit zehn[56] Tagen reif sind, dann eiterig werden und zu dunkeln Krusten trocknen (Gesamtdauer drei Wochen). Neben diesen echten Kuhpocken kommen nicht immer zu unterscheidende, keinen brauchbaren Impfstoff liefernde falsche Kuhpockenam Kuheuter vor, die sogen. Windpocken (helle Blasen) und die Warzenpocken, echte Warzen, die aber wund werden und verschorfen; erstere sind auf Menschen (Melkerinnen) übertragbar, letztere nicht. Die Ziegenpocke ist selten, tritt bald als Euterpocke, wie bei der Kuh, bald als allgemeine Hautkrankheit, wie beim Schaf, auf. Die Schweinepocken sind keine eigne Art, sondern entstehen durch Übertragung vom Menschen und vom Schaf und verbreiten sich über den ganzen Körper. Auch beim Hund können (selten) P. durch Übertragung vom Menschen entstehen. Bei Schweinen und Hunden kommen übrigens pustulöse Hautausschläge vor, die mit P. nichts gemein haben. Die Pferdepocke (Equine) entsteht selten, wahrscheinlich ebenfalls durch Übertragung vom Menschen, und sitzt meist in der Fesselbeuge wie die Mauke, sie wurde daher früher als Schutzmauke bezeichnet. Die Geflügelpocke endlich ist mit den Säugetierpocken nicht verwandt, wird aber ebenfalls durch einen bisher unsichtbaren Ansteckungsstoff (nicht durch Gregarinen, wie man bis 1902 annahm) erzeugt und tritt zunächst am Kopf auf in Form von Knötchen, die später verschorfen und sich mehr oder weniger über den Körper verbreiten, auch zu größern maulbeerartigen Wucherungen verschmelzen können. Neben der Haut sind aber fast stets die Kopfschleimhäute erkrankt, auf denen sich diphtherieähnliche Beläge bilden (s. Geflügelkrankheiten). Vgl. auch Hautkrankheiten. Über die Pockenkrankheit der Karpfen s. Fischkrankheiten, S. 624.

P. heißen auch krankhafte Erscheinungen bei manchen Pflanzen, besonders die Flecke an Kartoffelknollen, die durch einen Pilz (Rhizoctonia, s. d.), und an Birnbaumblättern, die durch eine Milbe (Phytoptus) erzeugt werden.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 55-57.
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