Grippe

[346] Grippe (Influenza, Schnupfenfieber, epidemischer Schnupfen, epidemisches Katarrhfieber, russischer Katarrh, Blitzkatarrh), eine meist im Herbst und Frühjahr, jedoch auch zu andern Jahreszeiten auftretende epidemische (oder pandemische) Krankheit, die sich hauptsächlich durch Katarrh der Atmungswege, des Magens und Darmes, durch Gliederschmerzen und Fieber äußert. Die erste sicher konstatierte Epidemie der G. fällt in das Jahr 1387; seitdem haben in den verschiedenen Erdteilen zahlreiche G.-Epidemien geherrscht. Im 19. Jahrh. waren die Jahre 1800–03, dann 1330–37 und 1857 und 1858 durch große G.-Epidemien heimgesucht. Seit 1874/75 trat die G. nicht mehr in großer Verbreitung auf, und da auch speziell Deutschland (mit Ausnahme Bayerns) seit 1857/58 keine große G.-Epidemie mehr sah, so war die Krankheit ziemlich in Vergessenheit geraten, als der Winter 1889/90 wieder eine gewaltige G.-Pandemie über Europa und Amerika brachte. Die Krankheit brach in Tomsk in Sibirien aus; von da überzog sie binnen 14 Tagen alle größern Städte des europäischen Rußland, gelangte dann nach Galizien und Österreich; gleichzeitig erreichte sie Skandinavien, dann Dänemark und Deutschland, überall die großen Städte bevorzugend. Frühzeitig, schon vor der Ausbreitung in Deutschland, begannen die massenhaften Erkrankungen im Magasin du Louvre in Paris, etwa 14 Tage später wurde New York befallen, ziemlich spät folgten die Erkrankungen in England und Spanien.

Als Erreger der G. wurde 1892 von Pfeiffer ein äußerst kleines, im Auswurf des Kranken vorhandenes Stäbchen gefunden (s. Tafel »Bakterien«, Fig. 11). Die Krankheit ist kontagiös, d. h. von Person zu Person ansteckend; da ferner der Grippebazillus außerhalb des Organismus rasch zugrunde geht, so erfolgt die Verschleppung der Krankheit nur selten auf andre Weise als durch den menschlichen Verkehr.

Die Disposition für G. ist allgemein; keine Menschenrasse bleibt befreit, kein Alter oder Geschlecht verschont, doch erkranken mehr Männer als Frauen; Greise und jugendliche Personen werden besonders heftig befallen, dagegen ist das jüngste kindliche Alter weniger disponiert; es werden daher die höhern Klassen der Schulen mehr ergriffen als die jüngern; es beträgt z. B. die Erkrankungszahl im 7. Lebensjahr[346] 22 Proz., dagegen 33 Proz. im 14. Nicht ganz selten wird ein Individuum zweimal in derselben Epidemie ergriffen, im allgemeinen aber hinterläßt eine Erkrankung an G. eine gewisse Immunität zurück, die freilich keine so vollkommene ist wie z. B. bei den Pocken, aber doch bewirkt, daß erneute Anfälle milder verlaufen, und die bei dem Aufhören von Epidemien als ursächliches Moment sicher bedeutsam ist. Bei der großen Epidemie von 1889/90 wurden in Köln 20 Proz. der Einwohner befallen, an andern Orten bis 75 Proz.; in den verschiedenen Armeekorps der deutschen Heere schwankte die Erkrankungsziffer zwischen 10,58 und 19,5 Proz. der Kopfstärke.

Die reinen Grippeformen gelten als ziemlich ungefährlich, doch üben G.-Epidemien durch Auslösung zahlreicher Mit- und Nachkrankheiten, insbes. Lungenentzündungen, und durch Schaffung einer besondern Disposition zu andern schweren Krankheiten einen oft lange nachhaltenden ungünstigen Einfluß auf die Sterblichkeitsverhältnisse der Bevölkerung aus; so zeigte sich bei der letzten großen Epidemie ein Anwachsen der Gesamtsterblichkeit der Bevölkerung um reichlich 1 pro Tausend. Die Sterblichkeit bei der G. selbst beträgt ca. 0,5–1 Proz., ist also ziemlich gering.

Das Krankheitsbild der G. ist sehr vielgestaltig. Alle Organsysteme können befallen werden, und es scheint bei jedem Individuum der Ort der geringsten Widerstandsfähigkeit der Angriffspunkt der Krankheit zu sein; es überwiegen gastrische Erscheinungen bei Personen mit früher gestörter Verdauung, die heftigsten Bronchial- und Lungenaffektionen werden beobachtet bei Personen mit ältern Katarrhen und Lungenleiden. Man kann mit einer gewissen Berechtigung drei Hauptformen der Krankheitsbilder unterscheiden: die katarrhalische, die gastrointestinale und die nervöse Form. Bei der katarrhalischen Form sind die Haupterscheinungen Schnupfen, begleitet von Bindehautkatarrh und Halsentzündung, und ausgebreiteter Bronchialkatarrh mit schleimig-eiterigem Auswurf. Meistens, wenn auch in geringerm Grade, sind diese Erscheinungen auch bei den andern Formen zu finden, doch gibt es auch G. ohne jede katarrhalische Vorgänge. Seltener als diese katarrhalische Form ist die gastrointestinale, bei der Erbrechen, völliger Appetitmangel, Durchfall, manchmal mit schleimig-blutigen Stuhlgängen im Vordergrund stehen. Bei der nervösen Form endlich überwiegt völlig die schwere Infektion des Nervensystems: heftige Kopfschmerzen, Schwindel, Ohrensausen, Schlafsucht oder heftige Aufregungszustände, auch Krämpfe zeigen die heftige Einwirkung der von den Bakterien gebildeten Gifte auf das gesamte Nervensystem an. Sehr selten verläuft die G. ohne Fieber; die Fieberkurve steigt steil an und erreicht häufig hohe Temperaturen, verläuft aber unregelmäßig; meist dauert das Fieber bei unkomplizierten Fällen nicht länger als 4 Tage an. Fast immer bestehen starke ziehende Schmerzen in der gesamten Muskulatur, besonders in der Lendengegend, so daß die Kranken sich »ganz zerschlagen« fühlen. Häufig ist die Milz angeschwollen, seltener zeigt sich eine Reizung der Nieren durch vorübergehenden Eiweißgehalt des Harnes an, noch seltener ist wirkliche Nierenentzündung. Das Herz wird in einer großen Zahl der Fälle in Mitleidenschaft gezogen, man beobachtet starke Beschleunigung, Verlangsamung und Unregelmäßigkeit des Pulses und schwere Herzschwäche. Diese Erscheinungen sind nicht selten von schwereren, die Krankheit lange überdauernden Veränderungen im Herzmuskel veranlaßt. Die häufigste und wichtigste Komplikation der G. ist eine namentlich alten und schwächlichen Personen gefährliche Lungenentzündung, die auf der Höhe der Krankheit oder in der Rekonvaleszenz einsetzt. Diese Insfluenzapneumonie kommt dadurch zustande, daß sich der entzündliche Prozeß direkt von den seinen Bronchialästchen in das Lungengewebe fortsetzt, hier Ansammlung von Eiter, Blutanschoppung und Luftleere verursacht.

Bei schon bestehender Lungenschwindsucht ist das Auftreten der G. stets von ernster Bedeutung. Die G. nimmt hierbei nicht selten einen hartnäckig chronischen Charakter an und beschleunigt die zerstörende Tätigkeit des tuberkulösen Prozesses, so daß häufig eine bis dahin gutartig verlaufende Lungenschwindsucht nach Einsetzen der G. unter hohem Fieber, reichlicher Produktion von Auswurf etc. sich zum Schlimmen wendet. Auch sind die Tuberkulösen besonders empfänglich für die Infektion mit G. und bilden dadurch, daß in ihren Lungen sich der Influenzabazillus sehr lange Zeit infektionstüchtig erhält, dauernde Ansteckungsherde für ihre Umgebung.

Behandlung: Absperrungsmaßregeln haben sich bei Epidemien als nutzlos erwiesen; in epidemiefreier Zeit ist die Nähe an G. Erkrankter zu vermeiden, ebenso ist enges Zusammenleben mit Kranken nicht ratsam; wünschenswert ist Desinfektion des Auswurfes. Die ausgebrochene Krankheit erfordert Bettruhe und sorgfältige Pflege; spezifische Mittel gegen G. gibt es nicht, doch kommt verschiedenen Mitteln, wie Phenacetin, Antipyrin und ähnlichen, eine günstige Wirkung auf Fieber und Schmerzen zu. Die Lungenentzündung ist als solche zu behandeln, Herzschwäche erfordert die üblichen Reizmittel. Während der Rekonvaleszenz ist nach schwerer Erkrankung äußerste Schonung erforderlich. Vgl. »Die G.-Epidemie im deutschen Heere 1889/90, bearbeitet von der Medizinalabteilung des königlich preußischen Kriegsministeriums« (Berl. 1890); Seifert, Über Influenza (in den »Klinischen Vorträgen«, Nr. 240, Leipz. 1890); Leyden und Guttmann, Die Influenza-Epidemie 1889/90 (Wiesbad. 1892); Friedrich, Die Influenza-Epidemie 1889/90 im Deutschen Reich (Arbeiten aus dem kaiserlichen Gesundheitsamt, Bd. 9, Berl. 1894); Wutzdorff, Die Influenza-Epidemie 1891/92 (ebenda); Wolff, Die Influenza-Epidemie 1889/92 (Stuttg. 1892); Leichtenstern, Die Influenza (in Nothnagels »Spezieller Pathologie und Therapie«, Bd. 4, Wien 1896); Schürmayer, Komplikationen, Folgekrankheiten und Folgeerscheinungen der Influenza (Jena 1896).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 346-347.
Lizenz:
Faksimiles:
346 | 347
Kategorien:

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon