Gedächtniskunst

[425] Gedächtniskunst (griech. Mnemonik, Mnemotechnik, Anamnestik). Man unterscheidet seit Kant ein dreifaches Memorieren: das mechanische oder äußerliche, das Reihen oder Gruppen von Vorstellungen ohne Rücksicht auf innere Verwandtschaft durch Wiederholung dem Gedächtnis einprägt; das ingeniöse, erfinderische oder künstliche, das die Vorstellungen durch willkürliche und absichtlich herbeigeführte Brücken oder Hilfen, und das judiziöse oder logische, verständige, das sie durch Urteile des Verstandes oder der Vernunft untereinander verknüpft. Für verständige Ausbildung des Gedächtnisses muß die Pflege des ersten als Grundlage, die des letzten als Ziel gelten; aber auch der künstlichen Gedächtnishilfen wird kaum jemand ganz entraten können. Über deren planmäßige Anwendung gehen jedoch die Ansichten auseinander. Kant nennt in der »Anthropologie« das ingeniöse Memorieren, bei dem man, um etwas leichter ins Gedächtnis zu fassen, das Gedächtnis noch mit mehr Nebenvorstellungen belästige, geradezu ungereimt wegen des Widerspruchs zwischen Mittel und Absicht, da man dem Gedächtnis die Arbeit zu erleichtern suche, in der Tat aber sie durch die ihm unnötig aufgebürdete Assoziation sehr disparater Vorstellungen erschwere. Anderseits hat die G. immer wieder Pfleger und Anwalte auch unter Männern von Geist gefunden. So wurde sie in den griechisch-römischen Rhetorenschulen systematisch gepflegt. Als ihr Urheber galt der Dichter Simonides von Keos (556–468 v. Chr.), der nach Cicero (De oratore II, 84. 85) durch ein wunderbares Erlebnis auf die Einsicht geleitet wurde, daß für das Behalten größerer Mengen von Namen, Daten, Zahlen deren geordnete Verteilung auf innerlich vorgestellte, gegliederte Räume (Städte, Paläste, Säle etc.) besonders nützlich sei. Ferner rühmt bei Platon (wenn der sogen. größere Hippias von Platon stammt; vgl. auch Xenophon, Gastmahl IV, 62) der Sophist Hippias aus Elis (um 400) sich, mittels seines geheimen Kunstgriffes 50 nacheinander gesprochene Namen sofort wiederholen zu können. Im Mittelalter erinnert die phantastische »Große Kunst« des Raimundus Lullus (1234–1315) an die topische Mnemonik der Alten. Geistlose und doch lange Zeit ernstlich auch von hochgebildeten Männern gepflegte mnemonische Hilfsmittel jener Zeit sind unter anderm der Cisio-Janus (s.d.) und die Merknamen der aristotelischen Schlußfiguren (Barbara, Cesare, Baroco, Ferii etc.); harmloser manche rhythmische Namenreihen (der freien Künste: Gram loquitur, Dia vera docet etc.; der Tierzeichen: Sunt aries, taurus etc.), die noch heute hier und da gute Dienste leisten. Seit dem 15. Jahrh. wurde die Mnemonik der Alten von einer Anzahl namhafter Gelehrter erneuert. Konrad Celtes, Picus von Mirandola, Giordano Bruno, die Deutschen Lambert Schenckel und Winckelmann, der Engländer Grey lenkten die Aufmerksamkeit der gelehrten Welt mit Erfolg auf die G. Auch I. H. Alsted (1588–1638), Lehrer des Comenius, bearbeitete die G., der er jedoch einen gegenüber dem gewöhnlichen Sprachgebrauche bedeutend erweiterten Begriffsumfang gab. Leibniz beschäftigte sich mit ihr im Interesse der von ihm gesuchten Pasigraphie, d. h. einer für alle Sprachen gemeinsam geltenden und in jeder Sprache lesbaren Schrift. Eigentümlich ist der neuern G. das Prinzip der Substitution, nach dem man sinnliche Vorstellungen, Begriffe, Buchstaben durch Zahlen oder diese durch jene ersetzt. Auch an den erstaunlichen Leistungen der Rechenvirtuosen (s.d.) hat individuell gestaltete G. erheblichen, wenngleich oft kaum bewußten Anteil. Bekannte Mnemoniker des 19. Jahrh. sind: Kästner, ein sächsischer Landgeistlicher (um 1800), Freiherr v. Aretin (1810), die Franzosen Grégoire de Feinaigle (1805), Aimé Paris, A. Gratacap, die Polen Jazwinski und General Bem, der Däne Karl Otto, genannt Reventlow, ferner Hermann Kothe (»Lehrbuch der Mnemonik«, 2. Aufl., Hamb. 1852; »Katechismus der G.«, 8. Aufl., Leipz. 1897), Hugo Weber-Rumpe (»Mnemonische Unterrichtsbriefe«, Bresl. 1882 u. ö.; »Mnemonisches Zahlwörterbuch«, das. 1885), F. Hörkens (»Leitfaden der G.«, Elberf. 1879 u. ö.) und C. T. Mauersberger (»Mnemosyne«, Leipz. 1885). Die Pädagogik kann wohl von einigen mnemonischen Kunstgriffen Gebrauch machen, wird aber, je mehr sie auf wissenschaftlich psychologischer Grundlage sich aufbaut, desto entschiedener das logische Gedächtnis bevorzugen. Übrigens beruhen die glänzenden Leistungen der Gedächtnisvirtuosen (s. Gedächtnis) keineswegs immer auf bewußter, planmäßiger Anwendung mnemonischer Hilfsmittel. Einen Übergang vom künstlichen zum logischen Gedächtnis bildete bei den Alten die logisch-rhetorische Wissenschaft der Topik, d. h. die Lehre von den sogen. loci communes oder Gemeinplätzen. Vgl. Morhof, Polyhistor sive de auctorum et rerum notitia commentarii (Lübeck 1688, 2 Bde.; 4. Aufl. 1747); Morgenstern, De arte veterum mnemonica (Dorpat 1835); Bonnell, De arte mnemonica (Berl. 1838); Drbal, Lehrbuch der empirischen Psychologie (6. Aufl., Wien 1897); Höfler, Psychologie (das. 1897) sowie die unter »Gedächtnis« ausgeführte Literatur.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 425.
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