Herodotos

[226] Herodotos (Herodot), der erste eigentliche Geschichtschreiber der Griechen, geb. um 484 v. Chr. zu Halikarnassos in Karien, gest. um 425 (ungewiß, ob in Athen oder Thurii), aus angesehenem Geschlecht, floh vor dem Tyrannen seiner Vaterstadt, Lygdamis, nach Samos; zurückgekehrt, wirkte er zum Sturz des Lygdamis mit, verließ aber bald wieder infolge der Ungunst seiner Mitbürger seine Heimat für immer und begab sich nach Athen, wo er 445 öffentlich einen Teil seines Geschichtswerkes vorlas und eine Staatsbelohnung von 10 Talenten erhielt. Dann schloß er sich der 444 von Athen gegründeten Kolonie Thurii in Unteritalien an, die ihm eine zweite Heimat wurde. Von dort muß er Athen, wo er zu den bedeutendsten Männern, wie Perikles und Sophokles, in freundschaftlichen Beziehungen stand, noch mehrfach besucht haben. Den historischen und geographischen Stoff zu seinem Geschichtswerk hatte H. zumeist selbst auf verschiedenen Reisen (nach dem Schwarzen Meer bis zum Kimmerischen Bosporus, nach Cypern, Ägypten, Kyrene, Tyros, durch Ägypten von Naukratis bis Elephantine und durch das persische Reich von der Küste bis nach Susa) gesammelt. Den Namen eines »Vaters der Geschichte« führt er, weil er zuerst ein großes, welthistorisches Ereignis darzustellen unternahm und zuerst den Plan eines groß angelegten Geschichtswerkes faßte. Dieses von den Alexandrinern in neun, mit den Namen der Musen bezeichnete Bücher geteilte Werk hat zum Hauptgegenstand die Kämpfe zwischen den Barbaren und Hellenen, insbes. die beiden großen Perserkriege. H. beginnt mit der Geschichte der Lyder, deren König Krösos zuerst das griechische Kleinasien angegriffen hatte, geht dann auf die Perser, die Besieger der Lyder, über, von diesen auf die Ägypter, Babylonier und Skythen, die der Reihe nach den Persern unterlegen waren, um vom fünften Buch an die Kriege der Griechen mit den Barbaren in zusammenhängender Darstellung zu schildern. Zahlreiche Abschweifungen innerhalb der einzelnen Teile geben Nachrichten aller Art über Länder und Völker, die den Hauptereignissen näher oder ferner lagen. Da dem Verfasser die Schilderung des Schauplatzes der von ihm mit behaglicher Breite erzählten historischen Begebenheiten und des Zustandes[226] der für ihn in Betracht kommenden Gebiete besonders am Herzen lag, so stellt das Werk, das einen dreihundertjährigen Zeitraum bis zum Jahre 479 umfaßt, den ganzen Umfang der geschichtlichen und der geographischen Kenntnis seiner Zeit dar (s. Skizze 1 der »Karten zur Geschichte der Erdkunde« im 6. Bd.). Bei H. ist der Historiker vom Geographen gar nicht zu trennen; hierin ist er der erste in einer Reihe von Forschern und Denkern, zu der im Altertum Polybios und Strabon, in der Neuzeit E. Curtius und Karl Ritter, Friedrich Ratzel und H. Nissen gehören. Hat sein Werk einerseits nach seinem Aufbau eine mehr epische Einheit, so wird anderseits das Ganze von der einheitlichen Grundidee getragen, daß alle Geschichte Ergebnis einer sittlichen Weltordnung sei, und daß jede Überhebung über die durch die ewige Ordnung gezogenen Schranken den »Neid der Gottheit« erregt und die rächende Nemesis auf das Haupt des Schuldigen und seiner Nachkommen zieht. Streitig ist die Entstehungsart des Werkes: ob H. schon von vornherein nach festem Plan die einzelnen Bestandteile nacheinander teils in Athen, teils in Thurii ausgearbeitet (vgl. Kirchhoff, Über die Entstehungszeit des herodotischen Geschichtswerkes, 2. Aufl., Berl. 1878), oder zu verschiedenen Zeiten einzelne Teile selbständig aus- und diese dann schließlich zu einem Ganzen zusammengearbeitet (vgl. Bauer, Die Entstehung des Herodotischen Geschichtswerkes, Wien 1878) habe. Der Abschluß mit der Einnahme von Sestos, einem wenig bedeutenden und zum Endpunkt nicht eben geeigneten Ereignis, läßt vermuten, daß es unvollendet ist. Geschrieben hat H., wiewohl von Geburt Dorier, wie seine Vorgänger, die Logographen, in ionischem Dialekt; mit dessen Weichheit und Flüssigkeit im Einklang steht die Einfachheit des Stils und die Naivität der Erzählung. Der Hauptwert des Werkes liegt in dem überaus reichen Inhalt, in der Fülle von Nachrichten über fast alle Völker der damals bekannten Erde. Zwar war H. noch weit von kritischer Geschichtsforschung entfernt, wenn er auch keineswegs kritiklos schrieb; jedenfalls war er eifrig bemüht, die Wahrheit zu ergründen, und hat auch, was er selbst gesehen und erlebt, scharf beobachtet und meist richtig dargestellt: haben doch viele lange bezweifelte Nachrichten über fremde Länder neuere Forschungen überraschend bestätigt. Manche Irrtümer erklären sich daraus, daß er im Verkehr mit den Fremden auf Dolmetsche angewiesen war und sich mit Vorliebe an die Priester wendete, die ihn in abergläubische oder täuschende Auffassungen hineinzogen. Gegenüber Nichtgriechen hat kein Grieche solchen Gerechtigkeitssinn gezeigt wie H.; bezüglich der griechischen Verhältnisse hat ihn eine Vorliebe für Athen zu einzelnen ungerechten Urteilen, namentlich über Korinth und Theben, verleitet. Auch seine religiöse Anschauung hat bisweilen die Objektivität seiner historischen Auffassung beeinträchtigt. Die wichtigsten Ausgaben sind von Schweighäuser (mit den Anmerkungen der frühern Herausgeber, Straßb. 1816, 6 Bde.), Gaisford (3. Aufl., Oxf. 1849, 4 Bde.), Bähr (2. Ausg., Leipz. 1856 bis 1861), Stein (Berl. 1871, 2 Bde.), Sayce (Bd. 1 bis 3, mit Verwertung der neuern Forschungen, Lond. 1883), Wiedemann (»Herodots 2. Buch mit sachlichen Erläuterungen«, Leip).1890); kleinere erklärende Ausgaben von K. W. Krüger (2. Aufl., das. 1881), Abicht (3. u. 4. Aufl., das. 1893, 5 Bde.), Stein (3.–5. Aufl., Berl. 1893), Textausg. von Dietsch-Kallenberg (2. Aufl., Leipz. 1884) u. a. Deutsche Übersetzungen von Schöll (neue Ausg., Stuttg. 18553 Bde.), Bähr (das. 1867, 9 Bde.), Stein (2. Aufl., Oldenb. 1884, 2 Bde.) und Abicht (Stuttg. 1885). Englische Übersetzung von Rawlinson mit wertvollem Kommentar (2. Aufl., Lond. 1876, 4 Bde.) und von G. C. Macaulay (1890, 2 Bde.); ein »Lexicon Herodoteum« lieferte Schweighäuser (Straßb. 1824, 2 Bde.; Lond. 1841). Vgl. Dahlmann, H., aus seinem Buch sein Leben (Altona 1824); Bauer, Herodots Biographie (Wien 1878); Hauvette, Hérodote, historien des guerres médiques (Par. 1894); Höck, H. und sein Geschichtswerk (Gütersloh 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 226-227.
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