[427] Psychologische Messungen (Psychometrie) heißen im allgemeinen alle Verfahrungsweisen, bei denen zur Beschreibung seelischer Erscheinungen oder zur Formulierung psychologischer Gesetze Größenbestimmungen herangezogen werden. Den ersten Versuch dieser Art machte Herbart, der darauf ausging, die Psychologie in eine Mechanik der Vorstellungen zu verwandeln, die ähnlich den materiellen Atomen nach bestimmten, mathematisch ausgedrückten Gesetzen auseinander wirken sollten. Doch gelang es ihm nicht, die Richtigkeit seiner Annahmen und Folgerungen durch Erfahrung zu beweisen. Es fragt sich eben sehr, ob auf Seelisches der Größenbegriff überhaupt anwendbar ist, und ob es Mittel gibt, auf diesem Gebiete Größenwerte durch Messung festzustellen. Die erste Frage wird nach dem Vorgange Kants auch heute noch von manchen deswegen verneint, weil Empfindungen, Gefühle etc. nicht wie Längen oder Flächen aus gleichartigen Teilen zusammengesetzt sind, es also keinen Sinn habe, zu sagen, daß z. B. ein Ton genau doppelt so stark sei wie ein andrer. Das gleiche Bedenken ließe sich jedoch auch gegen die meisten physikalischen Größen (Kräfte, Temperaturen etc.) geltend machen, die ebenfalls nicht extensive, sondern intensive, d. h. gradweise abgestufte sind. Überdem gibt es im Bereiche des Seelenlebens doch auch eine extensive Größe, das ist die Zeitdauer, und ganz selbstverständlich lassen sich wiederholte psychische Vorgänge zählen. Dagegen ist es allerdings richtig, daß psychische Größen nicht unmittelbar gemessen werden können; wir gelangen vielmehr nur dadurch zu quantitativen Bestimmungen, daß wir die innern Vorgänge in Zusammenhang mit äußern bringen. Nur dadurch, daß wir gleichstarke Reize herstellen, haben wir die Garantie, daß auch die Empfindungsintensitäten in zwei Fällen dieselben sind; ebenso wird die Zeit zwischen zwei innern Zuständen nur meßbar, wenn wir die letztern mit äußern Vorgängen verknüpfen. Hieraus erhellt zugleich, daß p. M. nur möglich sind auf Grundlage des psychologischen Experiments (s. Psychologie). So gewann Fechner, der Begründer der experimentierenden und messenden Psychologie, eine Maßskala für die Empfindungsstärken, indem er feststellte, wie Druck-, Schall- und andre Reize abgestuft werden müssen, um eine gleichmäßig abgestufte Reihe von Empfindungen zu erhalten (s. Psychophysik), und seine Methode ist vorbildlich geworden für eine ganze Klasse messender Untersuchungen, die unter andern für das Verständnis des Augenmaßes, der subjektiven Zeitschätzung etc. wichtige Resultate geliefert haben. Eine zweite typische Klasse bilden die durch Wundt eingeführten Zeitmessungen (s. Reaktion), durch die wir genauere Begriffe über den Verlauf psychischer Vorgänge und den Zusammenhang zwischen Vorstellung und Willenstätigkeit gewonnen haben. Ein drittes, freilich auch das unsicherste Meßverfahren ist die zählende (statistische) Methode. Nach ihr untersuchte z. B. Ebbinghaus das Gedächtnis, indem er feststellte, wieviel Silben nach einmaligem Lesen behalten werden, bez. wieviel Wiederholungen nötig sind, um eine gegebene Silbenzahl zu lernen; Kräpelin wies den Einfluß der Ermüdung, verschiedener Genußmittel etc. auf die geistige Arbeit an der Menge einfacher Additionen nach, die in gegebener Zeit richtig ausgeführt werden; Stern untersuchte, wie viele von hundert Personen eine beobachtete Tatsache nach einiger Zeit richtig beschreiben, um einen Anhaltepunkt für die Beurteilung der Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen zu gewinnen. Letztere Beispiele zeigen zugleich, wie die Ergebnisse psychologischer Messungen in vielen Fällen nicht nur theoretisch interessant, sondern auch praktisch (für Pädagogik, Rechtspflege) wertvoll sein können. Vgl. Lipps, Die psychischen Maßmethoden (Braunschw. 1906).