Sprache, Sprachen

[365] Sprache, Sprachen. Sehr bezeichnend nennen die Orientalen die Thiere »die Stummen der Erde,« da nur die Sprache, welche mit dem Denken wesentlich ein und dasselbe ist, und sich zu ihm wie sich die Folge zur Ursache verhält, den Menschen über die Thierwelt erhebt und den Göttern näher bringt. Ohne Sprache würde ihm das Siegel der Gottheit fehlen; sie ist der Athem seines[365] wahren Lebens; ohne sie glich er dem unvernünftigen Thiere, das nur verworrenen Eindrücken folgt; ohne sie könnte man sich bei ihm keine bestimmte Ideenreihe denken, denn sie eben ist das Vermögen des Menschen in das Chaos seiner Vorstellungen Ordnung zu bringen, denselben eine Form zu geben und sie mittelst der Stimme in richtigen Absätzen (artikulirt) mitzutheilen. Die Thiersprache enthält dagegen nur unartikulirte Laute zur Bezeichnung einiger Gefühle, aber nicht Worte als Nachhalle der Gedanken: – daher es ziemlich problematisch erscheint, wenn der Franzose Düpont 11 Wörter aus der Tauben-, 11 aus der Hühner-, 33 aus der Hunde-, 14 aus der Katzen-, 22 aus der Rindersprache und die der Raben ganz verstehen will. Die S. in physischer Hinsicht wird durch die Bewegung der Zunge, der Gaumenflügel und der Lippen hervorgebracht und besteht bekanntlich aus Vocalen und Consonanten, von denen die ersteren die eigentliche Grundlage sind, die andern aber erst aus dem Laute wahrhaft das Wort bilden. Die Consonanten werden nach den Organen, die bei der Aussprache derselben vorzüglich betheiligt sind, eingetheilt in Labial- oder Lippenbuchstaben (b, m, p, f, v, w), welche ohne Beihilfe der Zunge bloß durch die Lippen gebildet werden; in Lingual- oder Zungenbuchstaben (d, t, l, n); in Zischlaute (s, sc, sch), bei welchen der Athem durch die Zähne geht, und in Gaumen- oder Kehlbuchstaben (j, ch, g, r, k), bei denen man auf verschiedene Weise die Spitze oder den Rücken der Zunge an den Gaumen legt, oder sie zurückzieht und niederdrückt, und der Ton selbst durch den Hauch oder die Zusammenziehung des Gaumensegels hervorgebracht wird. Anstatt der Lippen und der Zunge bedienen sich zum Sprechen die Bauchredner allein des Gaumensegels und der Mandeln, und zwar während sie einathmen. Krankhafte Abweichungen sind die Sprachlosigkeit, Alalie, und die unvollkommene Aussprache, Paralalie, wie das Stottern. – Ob die Sprachen unter göttlicher Mitwirkung sich gebildet haben oder auf ganz natürlichem Wege, [366] ist eine sehr müßige Frage. Die Entstehung der Sprache gehört der Kindheit des Menschengeschlechts an, so gut als der hohle Baum und das Floß, die im Laufe der Zeit zum Linienschiff erhoben wurden, die Kindheit eines ganzen Volks gleicht der Kindheit der Einzelnen; in beiden Fällen sind dunkle Vorstellungen der Ausgangspunkt, die nach und nach hell werden, nur mit dem Unterschied, daß das Kind unter der Leitung der Erwachsenen das Ziel in wenigen Jahren erreicht, wozu ein sich selbst überlassener Volksstamm Jahrhunderte bedarf. Das Sprachvermögen ist dem Menschen angeschaffen und bildete sich aus, wie es die Gelegenheit gab; die Sprache mußte daher auf eine, durch die Natur selbst gebotene, nothwendige Weise erfunden werden. Dieß konnte jedenfalls an mehreren Orten zugleich geschehen, denn die Annahme einer Ursprache, der alle andern entstammt seien, beruht nur auf dem unbewiesenen Satze, daß alle Geschlechter der Erde von einem gemeinschaftlichen Wohnplatze ausgegangen wären. Zu dieser Annahme führte vielleicht der Umstand, daß, so abweichend die verschiedenen Sprachen uns jetzt vorkommen, doch in der That zwischen allen eine Familienähnlichkeit stattfindet. Allein bei der gleichmäßigen Organisation der Menschen und der daher auch auf gleichnatürlichem Wege erfolgenden Sprachentwickelung, mußten natürlich gewisse Naturlaute allen eigen sein, oder, wie das Gebrüll des Donners, das Heulen des Sturms etc. von allen gleichmäßig nachgeahmt werden. Jedenfalls bestand die S. der ersten Menschen, wie die der Kinder, nur aus Tönen und Geberden, die sie bei dem Schrecken, der Furcht und Bewunderung, die ihnen, wie den Kindern die Unbekanntschaft mit den Dingen einflöste, mit großer Heftigkeit und Lebhaftigkeit äußerten. Später gab man den Sachen, in die man eine genauer begrenzte Einsicht gewonnen, Namen, die man meist den Tönen der Natur entlehnte; und noch später endlich bezeichnete man damit auch nichtsinnliche Dinge, Begriffe, doch so, daß man sie noch sinnlich beschrieb, woraus die Metapher, das Bild, entstand. Jetzt unterscheidet man reine[367] oder unvermischte S., die aus sich selbst hervorgegangen, nichts Fremdes in sich aufnehmen oder überhaupt noch nicht mit andern gebildeten S. in Berührung kamen, von den gemischten S., welche, wie z. B. die englische, aus fremden Bestandtheilen anderer Sprachstämme zusammengesetzt sind. Dann suchte man oft auch die fremden Elemente, wie in der deutschen, nach Kräften auszuscheiden und an deren Stelle andere oder neugebildete Wörter zu setzen (Sprachreinigung, Purismus). Den lebenden, auch neuen S., die noch von einem bestehenden Volke geredet werden, stehen die todten, auch alten S., entgegen, wie die Hebräische etc., die nicht mehr lebendig in dem Munde eines Volkes leben, und die man gelehrte S. nennt, wenn sie, auch wie das Lateinische und Griechische, insbesondere den Gelehrten zum Gebrauche dienen. Aus den Mutter- oder Stammsprachen der jungen Völker, aus denen später andere Nationen hervorgingen, entwickelten sich die Töchter- oder abgeleiteten S., die wieder unter sich Schwestersprachen heißen, während man alle, Mutter-, wie Töchter- und Schwestersprachen, als verwandte S. bezeichnet. Diese Uebereinstimmung beruht übrigens nicht in einer totalen Aehnlichkeit, sondern vielmehr nur in einer wahren Verwandtschaft der Grundlaute, des ganzen Baues und jenes eigenthümlichen, in den S. waltenden Geistes, der je auf bestimmte Weise in charakteristischen Reihefolgen, mit verschiedenem Temperament Worte und Gedanken verknüpft, und den man den Genius der S. nennt. Auch in einer und derselben S. unterscheidet man eine alte und neue: so gehört z. B. das Nibelungenlied zur altdeutschen S. – Einer der vorzüglichsten Hauptsprachstämme ist: der Indo-germanische, welcher im südlichen Theile von Indien beginnt und sich über ganz Vorderasien, Persien, den Kaukasus, über den größten Theil von Europa bis zu den shetländischen Inseln, zum Nordkap und nach Island erstreckt. Unter den einzelnen Sprachen desselben nennen wir hier: das Sanskrit (s. d.), die Malabarische S., welche[368] aus 53 einfachen Buchstaben und mit den zusammengesetzten aus 1052 Zügen besteht, die sich aber auf 10,000 bringen lassen sollen, ein Dialekt der Sanskritsprache; die Zigeunersprache, die ursprünglich reinindischen Ursprungs, sich durch das lange Verweilen der Zigeuner unter andern Völkern mit Wortformen fast aller europ. und vorderasiat. S. gemischt hat; sie hat viel Eigenthümliches, unter andern kennt sie nur 2 Jahreszeiten, Winter (wind) und Sommer (nieli); die persische S., welche viel Aehnlichkeit mit den germanischen S. hat und in der Fähigkeit, Wörter zusammenzusetzen, fast der deutschen gleichkommt; die armenische S. mit eigener Schrift, in welcher am Schlusse des 17. Jahrhunderts das neue Testament in Amsterdam gedruckt wurde; die griechische und römische mit ihren klassischen Meisterwerken; die Töchtersprachen der letztern, die romanischen S., zu denen die spanische, portugiesische, französische, rhätische in Graubündten, die walachische und, ausgeartet im eigenen Vaterlande, die italienische gehört; den germanischen Sprachstamm mit der deutschen Sprache in ihren verschiedenen Dialekten; den skandinavischen mit der isländischen, dänischen und gemischten norwegischen S.; die angelsächsische S., aus welcher unter vielen Veränderungen und mit vielen fremden Bestandtheilen vermischt, die englische S. hervorging; die lettische Sprache an den Ufern des baltischen Meers; und die slavischen S., namentlich die russische, polnische und böhmische. Weniger verbreitete und fast verlöschende europäische S., welche noch zu dem Indo-Germanischen Hauptstamme gehören, sind die galische oder ersische S. in Schottland und Irland, und das Walische in Wales. Auf beiden Seiten der Pyrenäen vom Meere bis nach Pampelona hin wird die alte, noch einzig übrige Ursprache Spaniens gesprochen, die baskische. Eine andere große Klasse ist die der türkischen S.: ihr Gebiet zieht sich von den Gestaden des Eismeers über Sibirien, einen Theil von Mittelasien zwischen dem kaspischen und schwarzen Meere nach der Türkei herab. Das eigentliche [369] Türkische zählt 33 Buchstaben und kennt weder Artikel noch grammatisches Geschlecht. Die hebräische S. bildete sich aus dem Chaldäischen und Syrischen, hat eine eigenthümliche Schrift, welche von der rechten zur linken Hand gelesen wird, und nur 3 Redetheile: Zeitwörter, Substantive und Partikeln, wovon die ersten die Stammwörter der übrigen sind. Jedes Zeitwort hat nur drei Wurzelbuchstaben und kann siebenfach conjugirt werden, so daß es allemal seine Bedeutung verändert, wodurch über 50,000 Zeitwörter gebildet werden können, während man zugleich aus jedem Wurzelworte gegen 40 Hauptwörter bilden kann. Sie ist voller Kehlhauche, sowie die Arabische, die noch außerdem durch ihre schneidenden Zischlaute so scharf und rauh wird, daß man sie nicht unpassend mit dem Sausen des die Luft durchschneidenden Schwertes verglichen hat; dafür ist sie jedoch ebenso reich als ausdrucksvoll. Die ungarische S., mit einem noch echt asiatischen Gepräge, zählt 7, bald kurz, bald lang betonte Vocale und bezeichnet das Genus nicht; im hohen Grade vereinigt sie Kraft, Reichthum und Bildsamkeit. Die japanische S. zerfällt in die Hof- und Büchersprache, ist außerordentlich mehrdeutig und schwer auszusprechen. Eine der merkwürdigsten S. aber ist die chinesische, die aus lauter einsylbigen, indeclinabeln Wurzelwörtern besteht, die, wenn sie auch auf europ. Weise geschrieben, mehr Sylben zu enthalten scheinen, doch nur einsylbig sind. Die Zahl solcher Laute rechnen einige auf 328, andere auf 333,350 oder 434. Mit denselben wird zugleich das Zeit- und Nennwort, Haupt- und Beiwort, Geschlecht, Zahl, Casus, Modus und Tempus ausgedrückt, was man aber alles aus dem Zusammenhange errathen muß, da die chines. S. keine besondern Zeichen dafür hat, sondern nur mittelst Veränderung des Tons und Accents, durch höheres oder tieferes Aussprechen etc. angezeigt wird, ob das Wort ein Haupt- oder Beiwort etc. bedeuten solle. Die Hottentottensprache ist eine eigene, durch Schnalzen mit der Zunge,scharfe Kehl- und pfeifende Nasentöne[370] ausgezeichnete S., die für den Fremden so gut wie gar nicht auszusprechen sind: jedenfalls haben die Hottentotten einen ganz besonders gebauten Gaumen. Unter den amerikanischen S. behauptet nur die mexicanische einigen Werth, welche schon früh sehr ausgebildet war und mit Hieroglyphen geschrieben wurde: jetzt ist allerdings ihre Literatur sehr arm. Die Sprache der Grönländer ist sehr reich an Formen, aber desto ärmer an Wörtern; so haben sie z. B. die Zahlwörter nur bis 5.

S.....r.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 9. [o.O.] 1837, S. 365-371.
Lizenz:
Faksimiles:
365 | 366 | 367 | 368 | 369 | 370 | 371
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Adelung-1793: Sprache, die

Brockhaus-1809: Die Sprache

Brockhaus-1837: Romanische Sprachen · Römische Sprache und Literatur · Sprache · Spanische Sprache, Literatur und Kunst · Griechische Sprache und Literatur · Hebräische Sprache und Literatur · Niederländische Kunst, Literatur, Sprache und Wissenschaft

Brockhaus-1911: Kreolische Sprachen · Einsilbige Sprachen · Keltische Sprachen · Libysche Sprachen · Dekanische Sprachen · Dekhanische Sprachen · Kaukasische Sprachen · Indische Sprachen · Indochinesische Sprachen · Iranische Sprachen · Germanische Sprachen · Iwerische Sprachen · Hamitische Völker und Sprachen · Malaio-Polynesische Sprachen · Prädikative Sprachen · Orientalische Sprachen · Nordische Sprachen und Literaturen · Romanische Sprachen · Semitische Sprachen und Völker · Skandinavische Sprachen und Literaturen · Slawische Sprachen · Ural-Altaische Völker und Sprachen · Sonorische Sprachen · Melanesisch-Mikronesische Sprachen · Altaische Völker und Sprachen · Neuindische Sprachen · Australische Sprachen · Italienische Sprache · Irische Sprache und Literatur · Isländische Sprache und Literatur · Kymrische Sprache · Kroatische Sprache · Lettische Sprache · Lateinische Sprache · Koreanische Sprache · Javanische Sprache · Japanische Sprache · Katalanische Sprache · Jenische Sprache · Balinesische Sprache · Äthiopische Sprache · Armenische Sprache · Baltische Sprache · Bulgarische Sprache · Böhmische Sprache und Literatur · Bengalische Sprache · Altpreußische Sprache · Altnordische Sprache und Literatur · Altbaktrische Sprache

Herder-1854: Semitische Sprachen · Skandinavische Sprachen · Slavische Sprachen · Romanische Sprachen · Germanische Sprachen · Großbritanniens Sprachen · Indogermanische Sprachen

Meyers-1905: Einverleibende Sprachen · Einsilbige Sprachen · Dekhanische Sprachen · Flektierende Sprachen · Finnisch-ugrische Sprachen · Europäische Sprachen · Australische Sprachen · Altaische Sprachen · Agglutinierende Sprachen · Afrikanische Sprachen · Asiatische Sprachen · Aramäische Sprachen · Amerikanische Sprachen

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon