Spinoza

[287] Spinoza, Baruch oder Benedict, einer der bedeutendsten u. einflußreichsten Philosophen der neuern Zeit, geb. am 24. Novbr. 1632 zu Amsterdam, der Sohn einer aus Portugal eingewanderten Judenfamilie, war von Geburt schwächlich aber äußerst talentvoll und sollte deßhalb einst als Gelehrter sein Volk verherrlichen. Er studierte Mathematik, Latein u. Griech., die Bibel und den Talmud, wurde aber dabei dem orthodoxen Judenthum entfremdet und durch das Studium der Naturwissenschaften und der Philosophie des Descartes immer weiter davon abgeführt. Die Gleichgültigkeit gegen die religiösen Gebräuche seines Volkes steigerte sich zur entschiedenen Abneigung u. offenen Verwerfung. Alle Versuche, ihn von seinen eigenen Ansichten abzubringen, waren vergeblich, die Zahl seiner Gegner wuchs und ihr Fanatismus verirrte sich bis zu einem Mordanfall, welchem die Ausstoßung S.s aus der Judengemeinde unter schrecklichen Verwünschungen sowie die Anklage auf Gotteslästerung folgten. Auch von seiner Familie verstoßen, mußte S. Amsterdam verlassen. Er war kein Jude mehr, wurde aber auch kein Christ, philosophirte u. schliff optische Gläser zuerst in Rhynsburg bei Leyden, dann im Haag. Sein Ruf verbreitete sich so sehr, daß der Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz ihn unter Zusicherung unbeschränkter Lehrfreiheit zum Professor der Philosophie in Heidelberg machen wollte, was S. aber ausschlug, zumal seine leidende Brust ihm sicher nicht erlaubt hätte, längere Zeit öffentliche Vorlesungen zu halten. Er erlag der Schwindsucht am 21. Februar 1677, in demselben Jahre noch wurde sein Hauptwerk, die Ethik, von seinem vertrautesten Freunde, einem Arzte, Ludwig Mayer, herausgegeben. Wurde S. hinsichtlich seines sittlichen Charakters bei Lebzeiten von seinen Glaubensgenossen ungebührlich verdächtigt u. verlästert, so that die Nachwelt in seinem Lobe viel zu viel und vergaß namentlich, daß er von Hause aus Anlagen zur Schwindsucht hatte, die er hinsichtlich seines Benehmens u. seiner Lebensordnung berücksichtigen mußte, u. [287] daß sein ganzes Wesen von jenem höchstens scheinbar erhabenen Hochmuthe beherrscht war, der die menschliche Erkenntniß für souverän hält u. vor Allem die eigene Einsicht über Gott und Welt erhebt. S.s philosophisches System ist ein substantieller Pantheismus, auf 3 Grundbegriffen ruhend: Substanz, Attribut und Modus, die gläubig hingenommen werden müssen, aus denen aber alsdann alles Uebrige, was gesagt wird, mit mathematischer Nothwendigkeit sich ergibt. 1) Unter Substanz verstand S. das ewige unendliche Sein, dessen Wesen Existenz in sich schließt; von ihr läßt sich laut S. selber positiv weiter gar nichts sagen, erstens weil jede Begriffsbestimmung die nächste Ursache des zu Erklärenden mit enthalten müsse, die Substanz aber als Unerschaffenes gar keine Ursache außerhalb ihrer haben könne, dann zweitens weil jede Bestimmung Verneinung sei d.h. weil jede einen Mangel der Existenz, ein relatives Nichtsein andeutet. S. ging von Descartes aus, allein er nahm nur Eine Substanz an, die er als den Grund aller Dinge, als Gott auffaßte. Wie ferne dieser Gott der christlichen Gottesidee stehe, leuchtet auf den ersten Blick ein, nicht minder wie begründet vom christlichen Standpunkte aus die Anklage des Atheismus war, welche im 17. und 18. Jahrh. Viele wider ihn schleuderten; zum Ueberfluß spottete S. offen über Alle, welche Gott Verstand und Willen zuschrieben od. ihn nach Zwecken handeln ließen. Philosophisch ist die Substanz der Strudel, in deren Abgrund die ganze Welt mit all ihren Bildungen hinabgerissen wird, der Mittelpunkt, der alles Geschaffene an sich zieht und in und durch welchen sie allein ihr Sein haben, zugleich aber auch die Löwenhöhle, in welcher jedes Geschöpf verschwindet und aus welcher keines mehr herauskommt. 2) Die Substanz an sich hat unendlich viele Attribute od. Bestimmungen, welche ihr Wesen ausdrücken für den wahrnehmenden Verstand; der menschliche Verstand aber vermag von allen Attributen nur 2 zu erkennen, nämlich Denken (Geist) und Ausdehnung (Materie) u. diese beiden deßhalb, weil unter allen Begriffen, die unser Verstand zu fassen vermag, eben nur diese beiden wirklich positiv sind od. Realität ausdrücken. Wesentliche Erscheinungsformen der göttlichen Substanz sind übrigens die 2 Attribute keineswegs; lediglich unser Verstand bringt sie an die Substanz oder Gott heran und Gott ist denkend oder ausgedehnt, je nachdem unser Verstand ihn unter dem Attribute des Denkens oder der Ausdehnung betrachtet. Die 2 Attribute sind gegenüber der Substanz ganz selbständig und lediglich durch sich selber zu begreifen, aber auch unter sich sind sie 2 streng geschiedene Gegensätze, so daß zwischen der geistigen und materiellen Welt von einer Wechselwirkung durchaus keine Rede sein kann. Der Leib wirkt nicht auf die Seele und diese nicht auf den Leib ein, jeder einzelne Gedanke stammt lediglich von einem früheren Gedanken, jede leibliche Bewegung lediglich von einer früheren leiblichen Bewegung her. Dennoch herrscht zwischen Ideen u. Dingen ein und derselbe Zusammenhang, zwischen der geistigen u. materiellen Welt durchgängig ein vollkommener Parallelismus, denn es ist stets ein und dieselbe göttliche Substanz, die unter einem der beiden Attribute und unter jedem gleich richtig gedacht wird. So sind z.B. Leib und Seele ein und dasselbe Ding und ihr einziger Unterschied liegt darin, ob man dieses Ding unter dem Attribut des Denkens oder dem der Ausdehnung betrachtet; was ferner über dem Attribut des Denkens betrachtet Denkact ist, ist unter dem der Ausdehnung betrachtet körperliche Bewegung u.s.f. 3) Die Modi sind die wechselnden Formen der Substanz, nicht einmal den Meereswellen vergleichbar, da sie ihr Sein lediglich in der göttlichen Substanz haben, es sind die Einzeldinge, unter dem Attribut des Denkens betrachtet die Ideen, unter dem der Ausdehnung betrachtet die Körperdinge. Wirkliches Sein hat lediglich die göttliche Substanz, die Welt und jedes Ding hat nur in ihr und durch sie ein Sein und so hatte Bayle Recht als er sagte, S. habe jedem Dinge Göttlichkeit zugeschrieben oder Alles sei [288] Gott, noch mehr aber hatte Hegel Recht mit der Behauptung, S. habe die Welt geläugnet. Daß es überhaupt eine Welt u. Vielheit od. Einzeldinge für uns gibt, ist nach S. Folge mangelhafter Erkenntniß. Die Erkenntniß der Vernunft nämlich ist intuitiv, sie schaut Alles in der Einheit der göttlichen Substanz, mit dem Auge der Ewigkeit, sie allein ist wahre Erkenntniß; was sie aber geschaut, das vereinzelt, isolirt und verwirrt unsere Imagination, in deren Gebiet alle oberflächliche und verworrene Erkenntniß, namentlich alles Erfahren und Meinen gehört. Nur weil wir Imagination haben, gibt es für uns Einzeldinge, die etwas an und für sich zu sein scheinen. – Der Charakter der praktischen Philosophie S.s ergibt sich aus den erörterten Grundanschauungen. Der Mensch ist ein Modus, ein Glied in der endlosen Reihe bedingender Ursachen, von einem freien Willen kann bei ihm keine Rede sein, wir wähnen uns frei, weil wir unserer Handlungen bewußt sind, kennen aber die bestimmenden Ursachen derselben nicht. Gut und bös sind lediglich relative Begriffe, gebildet aus unserer Vergleichung der Dinge unter einander, von denen uns das eine nützlich oder gut, das andere schädlich (des Guten beraubend) oder böse vorkommt. Das höchste Gut ist die wahre Erkenntniß Gottes d.h. die Erkenntniß seines eigenen bessern Selbst; in ihr liegt die höchste Tugend und aus ihr fließt die höchste Seligkeit, die keineswegs Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst ist. Ist so Selbstvergötterung der archimedische Punkt u. Gipfel des Spinozismus und liegt in den praktischen Folgerungen desselben die schlagendste Widerlegung, so wimmelt sein System außerdem trotz der mathematischen Methode von Lücken u. Sprüngen. Der Tractatus theologico-politicus stempelt den S. zu einem Hauptverfechter des modernen Rationalismus, indem er darin die Nothwendigkeit der unbeschränkten freien Forschung für das Staatswohl und für die Frömmigkeit nachzuweisen sucht; er ist den metaphysischen Grundsätzen gegenüber schon deßhalb ohne Halt, weil man mit Recht fragt: woher und wozu der Anspruch auf freie Forschung, da doch der menschliche Geist gar keiner Freiheit fähig ist? – Gesammelte Schriften von Paulus (Jena 1802–1803), Gfrörer (1836), deutsche Uebersetzung mit einer geistreichen aber höchst befangenen Lebensbeschreibung von Berthold Auerbach (Stuttg. 1841, 5 B.); neuere Schriften über den Spinozismus von F. H. Jacobi (1785), Sigwart (1816), H. Ritter (1816), H. Ch. W. Sigwart (1839), Schaarschmidt (1850), dazu die Réfutation inédite de Spinoza, par Leibnitz, précédée d'un mémoire par A. Foucher de Carell, Par. 1854.

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 287-289.
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