Naturwissenschaftliche Nomenklatūr

[462] Naturwissenschaftliche Nomenklatūr, die nach bestimmten Regeln erfolgende wissenschaftliche Benennung der Naturkörper. Das Bedürfnis nach einer solchen festen Bezeichnungsweise machte sich zunächst in den biologischen Naturwissenschaften geltend, als die Zahl der bekannten Tier- und Pflanzenarten sich so stark vermehrt hatte, daß eine Übersicht über die Gesamtheit derselben dem einzelnen unmöglich zu werden drohte. Der Begründer der wissenschaftlichen zoologisch-botanischen Nomenklatur ist Linné (s. d.). In seinem Hauptwerk »Systema naturae«, das in 13 Auflagen (1735–88) erschien, begründete er nicht nur das noch jetzt gültige Schema eines wissenschaftlichen Systems, indem er die einzelnen Individuen zu Arten, diese zu Gattungen, die Gattungen zu Familien, diese wieder zu Ordnungen und endlich zu Klassen zusammenfaßte, sondern er führte auch für jede der damals bekannten Tier- und Pflanzenarten eine bestimmte lateinische Bezeichnung ein, die aus einem Gattungsnamen und einem Artnamen bestand. So wurden z. B. die Hunde in der Gattung Canis zusammengesetzt und innerhalb dieser der Wolf C. lupus, der Fuchs C. vulpes etc. genannt; ebenso wurden in der Gattung Ribes die Stachelbeere als R. grossularia, die Johannisbeere als R. rubra bezeichnet etc. Die Zweckmäßigkeit dieser Benennungsweise, welche die Verwandtschaft der zu einer Gattung gehörigen Arten schon im Namen erkennen ließ, war so einleuchtend, daß sie in der Botanik und Zoologie seitdem zu allgemeiner Annahme gelangt ist. Allerdings war damit das Ziel, für jede Tier- und Pflanzenart nur eine, allgemein gültige Bezeichnung zu erhalten, noch nicht erreicht. Indem die verschiedenen Forscher den Artbegriff bald enger, bald weiter faßten, wurden die Linnéschen Arten bald vielfach weiter zerlegt; Arten, die von verschiedenen Forschern unabhängig voneinander entdeckt wurden, wurden häufig, da dem einen Entdecker die bereits früher erfolgte Bezeichnung nicht bekannt war, doppelt benannt; manche alte Namen wurden von spätern Autoren durch neue ersetzt, weil die alten nicht bezeichnend genug erschienen, nicht sprachlich korrekt gebildet waren etc. Anderseits erwiesen manche neu eingeführte Namen sich in der Folge als unbrauchbar, weil ihr Urheber die von ihm benannte Art nicht deutlich genug durch eine Abbildung oder eine kurze Zusammensetzung ihrer Merkmale (Diagnose) gekennzeichnet hatte. So kam es, daß im Laufe der Zeit für viele Arten verschiedene Benennungen (Synonyma) in Gebrauch kamen, während anderseits auch ein und derselbe Name in verschiedenem Sinne gebraucht wurde. Gelegentlich wurde auch ein bereits für eine Gattung oder Art eingeführter Name von einem Spezialforscher zum zweitenmal für eine ganz andre Gattung vergeben; so wurde die Gattungsbezeichnung Troglodytes einmal für den Zaunkönig, einmal für den Schimpansen gebraucht; Distoma bezeichnet den Leberegel und eine Aszidiengattung; Diadema einen Tagfalter und einen Seeigel etc. Da diese Mißstände sich um so mehr zu steigern drohten, je mehr die fortschreitende Spezialisierung uns die Teilnahme der verschiedensten Nationen an der wissenschaftlichen Forschung die Übersicht über das Gesamtgebiet erschwerte, so wurden neuerdings durch internationale Abmachungen neue feste Regeln für die zoologische und botanische Nomenklatur eingeführt. Indem ganz davon abgesehen wird, ob der Name wirklich eine charakteristische Bezeichnung für die betreffende Art enthält, ein wesentliches Merkmal angibt etc., auch ohne Rücksicht auf sprachlich richtige Bildung desselben, gilt hinfort in der Zoologie sowohl als in der Botanik nur das Gesetz der Priorität. Der erste für eine Gattung oder Art angewandte Name, der mit einer deutlichen Kennzeichnung der Art veröffentlicht wurde, ist als der allein gültige zu betrachten, falls nicht etwa derselbe Name schon früher für eine andre Gattung oder Art verwendet wurde; jeder Name darf innerhalb des Tierreichs, bez. des Pflanzenreichs nur einmal als Gattungsbezeichnung, innerhalb einer Gattung nur einmal als Artbezeichnung angewandt werden. Um ein Zurückgreifen auf zu weit entlegene Publikationen zu vermeiden, setzten die Zoologen (internationaler Kongreß zu Berlin 1901) die 1758 erschienene 10. Auflage von Linnés »Systema naturae«, die Botaniker (internationaler Kongreß zu Wien 1905) die 1753 erschienenen »Species plantarum« desselben Verfassers als Ausgangspunkt für die Priorität fest, in dem Sinn, daß die in diesen Schriften veröffentlichten Namen den Vorzug vor allen spätern besitzen, alle früher gegebenen Namen aber ungültig sein sollen. Während die Zoologen das Prioritätsgesetz zur strengen Durchführung bringen, und auch allgemein eingebürgerte Namen zugunsten der ältern, in Vergessenheit geratenen, wieder einziehen, haben die Botaniker beschlossen, eine Anzahl bereits zu allgemeiner Anwendung gekommener Benennungen ohne Rücksicht auf die Priorität beizubehalten. Für beide Wissenschaften wurde ferner beschlossen, die Bezeichnungen der Ordnungen, Familien und Unterfamilien durch bestimmte Endungen zu kennzeichnen.

Auch in andern Zweigen der Naturwissenschaft sind neuerdings internationale Abmachungen über die Regelung der Nomenklatur teils abgeschlossen, teils angebahnt. In der Geologie drängten die von den internationalen Kongressen beschlossenen Aufnahmen einer internationalen geologischen Karte von Europa zu Vereinbarungen über die Bezeichnung der Formationen und ihrer Gliederung. In der Geographie wurden Vereinbarungen über die Benennung der Meeresbecken und Meerestiefen sowie der ozeanischen Inselgruppen angebahnt (internationaler Kongreß zu Berlin 1899). Für die organische Chemie wurde in Genf 1892 die Vereinbarung getroffen, daß die Natur einer Verbindung durch Anwendung bestimmter End ungen an dem Namen kenntlich zu machen sind, soz. B ... an für die gesättigten, ... ên für die ungesättigten Kohlenwasserstoffe mit doppelter Bindung der Kohlenstoffatome, ... in für diejenigen mit dreifacher Bindung der Kohlenstoffatome (Äthan, Athen, Äthin etc.); auch sollen die Bezeichnungen komplizierterer Verbindungen nach Möglichkeit die Konstitution derselben erkennen lassen. Vgl. Mineralnamen.

In der Anatomie ist es zu einer internationalen Vereinbarung noch nicht gekommen; einen vorbereitenden Schritt zu einer solchen bildet die Annahme einer unter zusammenwirkender Mitarbeit der Anatomen der deutsch-sprachlichen Länder aufgestellten Liste anatomischer Benennungen durch die Baseler Versammlung der Deutschen Anatomischen Gesellschaft (1895). Vgl. »Règles internationales de la nomenclature zoologique, adoptées par le Congrès international« (Par. 1904); Briquet, Texte synoptique des documents [462] destinés à servir de base au débats du Congrès international de nomenclature botanique (Berl. 1905); die Verhandlungen der internationalen Geologen- und Geographenkongresse; Jahresbericht über die Fortschritte der Chemie (Gießen 1892); das »Archiv für Anatomie und Physiologie«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 462-463.
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