[510] Neodarwinismus (Neudarwinismus), die Systeme, die sich bestreben, die Darwinsche Theorie unter Festhaltung der Lehre von der natürlichen Auslese in andern wesentlichen Teilen zu ergänzen oder abzuändern. Hierher gehören die Versuche von Wallace, die Theorie der geschlechtlichen Zuchtwahl und die Stammesverwandtschaft des Menschen mit den Affen auszuscheiden, besonders aber die Theorie Weismanns, welche die Erblichkeit der erworbenen Eigenschaften verneint und das ganze Werk der Entwickelung auf eine »Allmacht der Naturzüchtung« zurückführt. Mit Nägeli u.a. nimmt Weismann an, daß durch eine besondere Vererbungssubstanz (Idioplasma) die elterlichen Eigenschaften auf die Nachkommen übertragen werden; den Sitz derselben verlegt er in die chromatische Substanz der Zellkerne. Das Idioplasma der Keimzellen, das Keimplasma, wird bei den zahlreichen Zellteilungen, die zum Aufbau des Körpers führen, auf die verschiedenen Körperzellen verteilt, ein Teil aber gelangt unverändert in die bei vielen Organismen schon sehr früh sich anlegenden Keimzellen des Tochterindividuums. So stammt das Keimplasma jedes Individuums direkt vom elterlichen Keimplasma ab (Kontinuität des Keimplasmas). Indem Weismann ferner ausführt, daß alle den Körper beeinflussenden äußern Reize nur die Körperzellen, nicht aber die für die Vererbung allein in Betracht kommenden Keimzellen betreffen, kommt er dazu, die Möglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften und damit den erblichen Einfluß des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Organe zu bestreiten. Es bleibt zur Erklärung der Entstehung der Arten daher nur die Annahme übrig, daß durch Variabilität des Keimplasmas selbst Verschiedenheiten hervorgerufen werden, die dann der auslesenden Wirkung des Kampfes ums Dasein unterliegen. Jede Eigenschaft, die keinen Selektionswert hat, muß durch die allgemeine Kreuzung (Panmixie) wieder verschwinden. Das Keimplasma denkt sich Weismann aus kleinsten Einheiten lebender Substanz, den Biophoren, zusammengesetzt, die ihrerseits sich zu den Determinanten vereinigen. Die Komplexe der zu einem Individuum erforderlichen Determinanten bezeichnet Weismann als Ide. Jede Determinante bestimmt die Entwickelungsrichtung eines bestimmten Körperteils. Die Verteilung derselben erfolgt in bestimmter, gesetzmäßiger Weise durch die aufeinander folgenden Zellteilungen. Die Kontinuität des Keimplasmas erklärt es, daß im Keimplasma jedes Individuums ererbte Ide sämtlicher Ahnen sich vorfinden. Durch die verschiedene Ernährung, die den einzelnen Biophoren, Determinanten etc. bereits in der Keimzelle zuteil wird, durch die vom Anfang an ungleiche Assimilationsfähigkeit der Determinanten, die schon innerhalb der Keimzellen zu einer Auslese (Germinalselektion) und zur Erhaltung der jeweilig kräftigsten Determinanten führt, endlich aber durch die verschiedene Art, wie Determinanten bei den Reifungsteilungen der Keimzellen verteilt und bei der Befruchtung vereinigt werden (Amphimixis), ergibt sich die individuelle Verschiedenheit der Organismen. Insofern Weismann die spätere Entwickelung des Organismus in allen seinen Teilen als bereits durch bestimmte Teile der Keimzellen vorgezeichnet ansieht, hat man seine Theorie sowie andre verwandter Art auch als Neupräformismus bezeichnet. In noch andrer Weise haben Catchpool, Gulick und Romanes die Selektionslehre durch die Isolationstheorie zu ergänzen gesucht. Damit eine neu gebildete Abart nicht durch Kreuzung mit der Stammform wieder in die alte Form zurückfalle, wie dies bei den künstlich gezüchteten Haustierrassen der Fall ist, sobald sie der freien Kreuzung überlassen werden, ist es notwendig, daß eine solche Kreuzung verhindert wird. Dies kann in der Natur entweder dadurch geschehen, daß die neue Abart andre Örtlichkeiten bewohnt als die Stammform (geographische Isolierung, Migrationstheorie, s. Darwinismus, S. 532), oder dadurch, daß die Bildung der Geschlechtsorgane beider Formen eine fruchtbare [510] Kreuzung ausschließt (physiologische Isolierung). Baldwins Prinzip der organischen Selektion (Orthoplasie) läßt, wie die Theorie Weismann, erbliche Abänderungen nur durch Keimesvariation entstehen, betont aber, daß ein und dieselbe Variation auf verschiedenem Wege, durch individuelle Anpassung an äußere Verhältnisse und durch Keimesvariation erworben werden kann; nur sei sie im erstern Fall nicht erblich. Ganz außerhalb des Darwinismus stehen die von W. Haacke (s. unten) dargelegten Ansichten, die von einer verschiedenartigen Anordnung der Elementarteile (Gemmarien) ausgehen und ein »Streben nach Gleichgewicht« sowie ähnliche dunkle Potenzen als hauptsächlichste Entwickelungsfaktoren hinstellen. Vgl. Wallace, Der Darwinismus (deutsch von Brauns, Braunschw. 1891); Weismann, Aufsätze über Vererbung (Jena 1892) und Vorträge über Deszendenztheorie (das. 1902, 2 Bde.); Romanes, Darwin und nach Darwin (deutsch, Leipz. 189297, 3 Bde.); Haacke, Gestaltung und Vererbung (das. 1893). Eine gute Übersicht über die wichtigern neuen Entwickelungstheorien gibt Plate, Über die Bedeutung des Darwinschen Selektionsprinzips und Probleme der Vererbung (2. Aufl., Leipz. 1903). S. auch Mutationstheorie und Orthogenesis.