Seide [1]

[290] Seide, der von der Seidenraupe aus dem Inhalt ihrer Spinndrüsen erzeugte Faden, aus dem sie behufs der Verpuppung eine Hülle (Kokon) erzeugt (s. Seidenspinner) und zwar zuerst ein lockeres, grobes, durchsichtiges Gespinst (Flockseide) und innerhalb desselben den dichten, eiförmigen, 33–36 mm langen Kokon von 20–25 mm Durchmesser, dessen innerste Schicht von pergamentartiger Beschaffenheit ist. Da nun weder die innere Schicht noch das äußere lose Fädengewirr als Faden gewonnen werden kann, so erhält man von den ca. 3000 m, aus denen der ganze Kokon besteht, nur etwa 300–600, seltener 900 m brauchbare S. Von frischen Kokons wiegen durchschnittlich 540 (von den größten 360, von den kleinsten 1200) 1 kg. Von dem einfachen Kokonfaden wiegen 2570–3650 m 1 g; er ist bemerkbar abgeplattet, von 0,018–0,026 mm Dicke, läßt sich um 15–20 Proz. seiner Länge ausdehnen und besitzt die bedeutende Festigkeit von 32 km Reißlänge (ein Drittel der Festigkeit besten Eisendrahts). Er ist völlig strukturlos, von weißer, gelber, mitunter rötlicher und brauner Farbe und besteht aus etwa 66 Proz. stickstoffhaltig er reiner Seidenfaser (Seidensubstanz, Fibroin) und 33 Proz. Bast (leimartiger Substanz. Seidenleim, Sericin), der zugleich die Farbe enthält und die S. rauh, hart und steif m. icht. Außerdem enthält die S. etwas Wachs. Die vom Bast befreiie S. hat ein spezifisches Gewicht von 1, a, löst sich in Kupferoxydammoniak, in alkalischen Laugen, in konzentrierter Schwefelsäure, Salpetersäure und Salzsäure. Rohe S. hinterläßt etwa 0,6 Proz. Asche. Zur Gewinnung der S. wird der von der Raupe zu dem Kokon verbrauchte Kokonfaden wieder abgewickelt.

Da der Schmetterling zum Auskriechen mittels eines durch den Mund abgesonderten Saftes den Kokon erweicht und durchbohrt und dadurch den Faden vielfach zerreißt, so müssen vor dem Abwickeln die Puppen getötet werden. Dies geschieht durch Dörren in einem Backofen oder in großen Betrieben in Kammern mit erhitzter Luft, die durch Wasserdampf feucht gehalten wird bei 100–110° Wärme, wobei sich die Kokons in flachen Körben befinden. Nachdem die Kokons alsdann sorgfältig sortiert sind, werden sie abgehaspelt (Spinnen). Zu dem Zweck erweicht man sie zunächst in einem Kocher durch Dampf und Wasser bei 90–100°, bringt sie dann in eine durchlöcherte Porzellanschale, die in dem mit Wasser von 60–70° gefüllten Gefäße a (s. Abbildung) hängt, und schlägt mit der durch ein Exzenter auf und ab bewegten Bürste b, um die Flockseide zu lösen und die Anfänge zu gewinnen. Darauf gelangen sie in den Trog c (Bacinella) mit Wasser von 50–60°.

Seidenhaspel.
Seidenhaspel.

Nach Vereinigung mehrerer Kokonfäden zu einem Rohseidenfaden führt man diesen durch die Glasaugen 1 und 2 und die Fadenführer 3 und 4 über die Rolle 5 durch den Fadenführer 6 zu dem sechsarmigen Haspel H, der von einem Riemen mittels Vorgelege aus Reibrädern in Umdrehung versetzt wird. Die Fadenstücke 2–3 und 4–5 sind umeinander geschlungen, um die Fäden aneinander zu drängen und dadurch abzureiben, zu runden und zu glätten. Der Faden führer 6 sitzt an einer Stange d (Laufstock), die von einer Kurbel der Welle e schnell hin und her bewegt wird, damit der Faden sich in Schraubenwindungen auf den Haspel H legt. Zur Bremsung dient der Klotz i, gegen den von dem Fußtritt f aus die Scheibe auf der Haspelantriebswelle gepreßt wird. Damit die Fäden zugleich trocknen, befindet sich der Haspel H in einem mit Fenstern und Dampfrohr r versehenen Gehäuse G. Mittels des vom Wasser erweichten Seidenleims kleben die Kokonfäden zusammen und bilden, ohne eine Drehung erhalten zu haven, einen starken Seidenfaden, der sofort auf den Haspel gewickelt wird. 10–16 kg frische, grüne Kokons oder 7–9 kg gebackene geben 1 kg gehaspelte S., was auf 1 Kokon 150–180 (bis 240) mg oder ein Achtel vom Gewichte des ganzen Kokons (mit der Puppe) beträgt.

Die gehaspelte S. (rohe S., Grège-, Rohseide, Grezseide) erhält meist durch Drehung eine größere Rundung und Festigkeit, oder sie wird gezwirnt (Seidenzwirn, muliniertes Garn, Ouvrée, [290] filierte S.), indem man zwei und mehr Fäden durch Zusammendrehen vereinigt. Das Zwirnen (Filieren, Mulinieren) wird auf Spulmaschinen, Dubliermaschinen und Zwirnmaschinen (Spinnmühlen, Filatorien) ausgeführt. Nach den durch das Sortieren erhaltenen Qualitäten der Kokons, der Zahl der zusammengezwirnten Rohseidenfäden und der Stärke der Drehung unterscheidet man: Organsin (Orsoyseide, Kettenseide), aus den schönsten Kokons, aus 2, seltener 3 Fäden gezwirnt, deren jeder aus 3–8 Kokonfäden besteht und vor dem Zusammenzwirnen einzeln sehr stark gedreht ist; dient zur Kette der meisten seidenen Stoffe. Tramseide (Trame, Einschlagseide), aus geringern Kokons, besteht entweder aus nur einem mäßig gedrehten oder aus 2–3 nicht gedrehten, schwach zusammengezwirnten Rohseidefäden, deren jeder aus 3–12 Kokonfäden gebildet ist; dient zum Einschlag, zu Schnüren etc. Marabuseide besteht aus 3 (selten 2) Fäden weißer Rohseide, die nach Art der Trame gezwirnt, dann ohne vorhergehendes Kochen oder Entschälen gefärbt und schließlich sehr scharf gezwirnt sind, hat peitschenschnurartige Härte, wird in der Weberei benutzt. Soie ondée, aus einem groben und einem seinen Rohseidefaden gezwirnt, von denen der erstere in Schraubenwindungen um den letztern sich herumlegt; dient zu leichten Modestoffen. Pelseide (Pelo), aus den geringsten Kokons gewonnen, ist ein einziger grober, gedrehter Rohseidefaden aus 8, 10 oder mehr Kokonfäden, dient als Grundlage zu Gold- und Silbergespinsten und wird mit geplättetem Draht umwickelt. Nähseide (Kusir) ist aus 2, 4, auch 6 gedrehten oder ungedrehten Rohseidefäden (zu je 3–42 Kokonfäden) zusammengezwirnt. Strickseide, der vorigen ähnlich, aber dicker und schwächer gezwirnt, weil sie weich sein muß, enthält 3 bis etwa 18 Rohseidefäden. Kordonnierte S. (Kordonnetseide), bestehend aus schönen Rohseidefäden, die man zunächst rechts dreht, worauf 4–8 Fäden links zusammengezwirnt und 3 gezwirnte Fäden durch eine Zwirnung rechts vereinigt werden, ist drall und derb, sehr rund und glatt, schnurähnlich, dient zu gestrickten, gehäkelten Arbeiten etc. Stickseide (flache S., Plattseide) ist ein schwach gedrehter einfacher Rohseidefäden oder aus 2–10 und mehr nicht gedrehten Rohseidefäden durch eine sehr schwache Drehung gebildet. Der ganze Faden breitet sich flach aus, und man kann nach dem Kochen und Färben die einzelnen Kokonfäden unterscheiden.

Rohe S. ist hart, rauh, steif und ohne Glanz (ungekochte, unentschälte S., écru) und wird zu Gaze und Blonden verarbeitet; meist wird sie entschält, d. h. von dem Seidenleim und Farbstoff (Schale, Bast) durch Kochen mit Seifenlauge befreit, wodurch sie glänzend und weich wird (gekochte, entschälte, linde S.) und sich leichter und besser färbt. Man behandelt sie zu dem Zweck mit starker Seifenlösung bei 90° (Degummieren), windet die Strähnen aus, bringt je 20–30 kg in einen leinenen Sack, kocht sie in schwächerer Seifenlösung, spült und trocknet. Gute S. erleidet hierbei einen Gewichtsverlust von 27 Proz.; die Kokonfäden sind wieder vollständig voneinander getrennt, und die S. erscheint daher lockerer, gleichsam aufgequollen. Farbige S. wird zugleich weiß und kann auch mit hellen Farben gefärbt werden; die weiß zu verarbeitende wird mit Schwefliger Säure vollständig gebleicht und dann mit Indigolösung gebläut oder mit Orlean schwach rötlich gefärbt (Chinesischweiß). Rohe S. kann ohne Entschälung gebleicht werden, indem man sie 48 Stunden mit einem Gemisch aus 1 Teil Salzsäure und 23 Teilen Weingeist digeriert.

Zur Bestimmung der Feinheit der filierten S. (Titrierung) gibt man das Gewicht einer bestimmten Fadenlänge an, und zwar das Gewicht einer Strähne von 9600 Pariser Aunes (11,400 m) in Deniers (zu je 24 Gran). Ein Denier ist beim französischen Seidengewicht = 1,275, beim piemontesischen = 1,281, beim mailändischen = 1,224 Gran. Man haspelt ein Gebind von 400 Aunes (475 m) ab und bestimmt dessen Gewicht in Gran. So viel Gran die Probe wiegt, so viel Deniers wiegen 9600 Aunes. In Frankreich setzt man die 400 Aunes rund = 480–500 m. Der einfache Kokonfaden wiegt 2–3,5 Deniers, feinste ungezwirnte Rohseide 7–10, feinste Organsin 21–24, gröbste 50–85, feinste Trame 12–24, gröbste 60–80 Deniers. Auf den internationalen Kongressen von 1873 und 1874 wurde beschlossen, die Feinheitsnummer der Seidengespinste durch den zehnfachen Wert der Zahl auszudrücken, die das absolute Gewicht eines Fadenstückes von 1 m Länge in Milligrammen darstellt; als Einheitslänge soll hierbei 500 m, als Einheitsgewicht 0,05 g angenommen werden. – Die S. ist ungemein hygroskopisch; sie nimmt in Kellern bis 30 Proz. Feuchtigkeit auf, ohne eigentlich Nässe zu zeigen, und je nach der Beschaffenheit des Aufbewahrungsortes und der Luft schwankt ihr Gewicht leicht um mehrere Prozent. Um nun dem Seidenhandel mehr Sicherheit zu geben, wird die S. in besondern Anstalten (Konditionieranstalten) probeweise bei 20–30° getrocknet und danach ihr Wert bestimmt. Richtig konditionierte S. enthält 9–10 Proz. Feuchtigkeit; man trocknet aber auch eine Probe bei 110°, wägt sie und schlägt zu dem Gewichte dieser absolut trocknen S. 10 Proz. hinzu.

Von großer Bedeutung ist namentlich in Europa die Industrie der Seidenabfälle, insbes. die Florettspinnerei geworden, worunter allgemein das Verspinnen der Abfälle verstanden wird. Sie liefert durch einen vollkommenen Spinnprozeß die Florettseide (Fleurett, Filoselle, Florett). Als Abfälle kommen hauptsächlich in Betracht Strazza (Abfälle vom Zwirnen), Strusi (Frisons, Abfälle beim Haspeln, bestehend aus Flockseide und den beim Haspeln zurückbleibenden pergamentartigen sogen. Schalen), Galetta (die beschädigten Kokons). Die Strusi werden 8–10 Tage in Wasser mazeriert (faulen) und dann gewaschen; die Kokons kocht man mit Seifenwasser und wäscht sie dann ebenfalls auf Stampfmaschinen mit warmem Wasser. Das gewaschene und getrocknete Material wird auf besondern Reißwölfen geöffnet, dann wie Kammwolle auf Kämmaschinen gekämmt (Dressieren) und in Züge verwandelt, auf Wattenmaschinen gestreckt und in Bänder gebracht, die auf Strecken dupliert und gestreckt auf Spindelbänken vorgesponnen und auf Watermaschinen oder Ringspindelbänken zu Garn versponnen (Filage), das, oft noch gezwirnt und durch Noppen geputzt und durch Sengen, Leimen und Glänzen appretiert, unter den Namen (Seidengarn) Florettgarn, Chappe, Schappe, Crescentin, Galettam, Galette in den Handel gebracht wird. Der bei der Florettspinnerei entstehende Abfall heißt Stumpen- oder Seidenwerg (Stumba, Bourrette) und bildet mit dem durch Zerfasern von Seidenlumpen gewonnenen Seidenschoddy das Material zu der Bourrettespinnerei, das, in ähnlicher Weise wie Florettseide versponnen, die Bourrettegarne[291] liefert. Aus den Abfällen dieser Spinnerei erzeugt man die Seidenwatte.

Nebst der sogen. echten S. des Seiden- oder Maulbeerspinners steht noch sogen. wilde S. (s. Seidenspinner, S. 295) als sehr wertvoller Rohstoff für die Florettspinnerei in Verwendung. – Über künstliche S. s. Kunstseide. Vgl. auch Spinnenseide. Über Seidenindustrie s. Textilindustrie.

Die Produktion von S. betrug in Tonnen in

Tabelle

Vgl. Clugnet, Géographie de la soie (Lyon 1877); Bavier, Japans Seidenzucht, Seidenhandel und Seidenindustrie (Zürich 1874); Nat. Rondot, L'art de la soie (2. Aufl., Par. 1885–87, 2 Bde.); Giraud, Les origines de la soie, son histoire chez les peuples de l'Orient (das. 1883); Schmoller u. Hintze, Die preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begründung durch Friedrich II. (Berl. 1892, 2 Bde.); Bujatti, Geschichte der Seidenindustrie Österreichs (Wien 1893); Pariset, Les industries de la soie (Lyon 1890); Pinchetti, L'industria della seta (statistisch, Como 1894); Yoshida, Entwickelung des Seidenhandels und der Seidenindustrie bis zum Ausgang des Mittelalters (Heidelb. 1895); Silbermann, Die S. Ihre Geschichte, Gewinnung und Verarbeitung (Dresd. 1897–98, 2 Bde); Spennrath, Materiallehre für die Textilindustrie (Aachen 1899); Zipser, Die textilen Rohmaterialien und ihre Verarbeitung zu Gespinsten (3. u. 2. Aufl., Wien 1904–05, 2 Bde.); Dumont, Die S. und ihre Veredlung (Wittenb. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 290-292.
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