[407] Chemie (die) ist derjenige Zweig der Physik oder Naturlehre, welcher sich mit Erforschung der Bestandtheile zusammengesetzter Körper mittels Zerlegung derselben in ihre einfachen Grundstoffe oder Elemente (s.d.), und mit Auffindung der Gesetze beschäftigt, unter welchen die Verbindung bekannter Stoffe zu neuen stattfindet. Man theilt daher die Chemie in die analytische, d.h. scheidende, und in die synthetische oder verbindende, wobei aber zu bemerken ist, daß eine chemische Verbindung stets innerlich vorgegangene Stoffveränderungen der miteinander vereinigten Körper voraussetzt. Mengt man z.B. Eisenfeilspähne und Glasstaub, so legen sich zwar die kleinen Theile dieser Körper dicht aneinander, behalten aber alle ihre vorherigen Eigenschaften und bilden demnach nur ein Gemenge; übergießt man aber Kreide mit verdünnter Salzsäure, so behalten diese Stoffe keineswegs ihre vorherigen Eigenschaften, sondern die in der Kreide enthaltene Kohlensäure entweicht luftförmig, die Salzsäure verbindet sich mit dem andern Bestandtheile der zersetzten Kreide zu salzsaurem Kalk und es sind demnach zwei neue Körper auf chemischem Wege oder durch einen chemischen Proceß gebildet worden. In der Regel sind einfache Körper nur geneigt, mit andern einfachen chemische Verbindungen einzugehen, und zusammengesetzte nur mit zusammengesetzten derselben Classe, wie z.B. Säuren mit Alkalien (s.d.), aber nicht mit Salzen. Von Körpern, welche sich miteinander zu verbinden fähig sind, sagt man, daß sie Verwandtschaft oder Affinität zu einander besitzen; tritt jedoch der Fall ein, daß zu zwei verbundenen Körpern a und b ein dritter c kommt, welcher eine kräftigere Verwandtschaft zu einem derselben besitzt, als jene untereinander, so wird er die Verbindung a b trennen und mit dem ihm näher verwandten Körper eine neue eingehen. Da es hierbei das Ansehen hat, als erfolge eine solche neue Verbindung aus freier Wahl, so hat diese Art chemischer Wirksamkeit den Namen Wahlverwandtschaft erhalten. Auf die größere oder geringere Verwandtschaft der Körper gründet sich vorzüglich das bei der chemischen Scheidung beobachtete Verfahren, indem man zusammengesetzte Körper durch andere trennt, welche zu ihren Bestandtheilen größere Verwandtschaft besitzen, als diese unter sich. Bei zusammengesetzten Stoffen aus dem Pflanzen- und Thierreiche geschieht das meistens, indem man sie nach und nach mit Wasser, Alkohol, Äther und andern Flüssigkeiten behandelt, von denen jede nur bestimmte Bestandtheile derselben auflöst und aufnimmt, welche darauf nach Verdampfung der Flüssigkeit zurückbleiben. Wo es aber nicht auf völlige Ausscheidung von Bestandtheilen zusammengesetzter Körper, sondern nur auf Ermittelung ihrer Gegenwart in denselben ankommt, bedient man sich der sogenannten Reagentien, d.h. chemischer Stoffe, welche, in die Auflösung eines zusammengesetzten Körpers gebracht, [407] durch ins Auge fallende Erscheinungen die Beschaffenheit der darin enthaltenen Bestandtheile angeben. Um z.B. zu erfahren, ob eine Flüssigkeit Säure enthält, darf man nur etwas Lackmustinctur oder damit blaugefärbtes Papier in dieselbe bringen, und die Veränderung der blauen Farbe dieses Reagens in Roth ist ein sicheres Anzeichen der vorhandenen Säure.
Die chemische Verbindung von Körpern, welche Verwandtschaft zueinander besitzen, erfolgt desto kräftiger und schneller, in je innigere Berührung sie gebracht werden, und man läßt daher bei chemischen Arbeiten die angewendeten Stoffe wo möglich in flüssigem Zustande aufeinander wirken, in welchen man sie entweder durch Schmelzen oder durch Verbindung mit tropfbar flüssigen Auflösungsmitteln versetzt, und nennt dies Verfahren den nassen, das entgegengesetzte den trockenen Weg. Indessen verbinden sich auch verwandte Körper noch keineswegs unter allen Umständen, sondern meist nur nach gewissen einfachen Maß- und Gewichtsverhältnissen, wobei oft noch der Einfluß der Temperatur und des Lichtes in Betracht kommt. Mit Ausmittelung dieser Gesetze beschäftigt sich ein eigner Zweig der Chemie, die Meßkunst der chemischen Elemente oder Stöchiometrie, welche durch Jerem. Benj. Richter, geb. 1762 zu Hirschberg in Schlesien und gest. 1807 als Arcanist der Porzellanmanufactur in Berlin, begründet, durch Jakob Berzelius (s.d.) aber zu ihrer jetzigen hohen Ausbildung gebracht worden ist. Die Beobachtung endlich, daß zwei Körper, welche chemische Verwandtschaft zueinander äußern, in dem Augenblicke, wo sie sich vereinigen wollen, entgegengesetzt elektrisch werden, d.h. daß an dem einen positive, am andern negative Elektricität (s.d.) bemerklich wird, hat die Begründung des neuen elektrischen Systems der Chemie, der Elektrochemie, veranlaßt, die alle chemische Thätigkeit auf die Elektricität zurückführt und deren Hauptsatz ist, daß chemische Verbindungen nur von entgegengesetzt elektrischen Stoffen eingegangen werden. Je nachdem sich die Chemie mit zusammengesetzten Körpern aus der organischen Natur, d.h. aus dem Pflanzen- und Thierreiche, oder mit andern beschäftigt, welche nur außerhalb derselben vorkommen können, theilt man sie auch in die organische und unorganische, und ebenso legt man ihr bei der Anwendung zu andern Zwecken davon hergeleitete Namen bei. Die Kameral- oder ökonomische Chemie z.B. beschäftigt sich vorzugsweise mit Anwendung chemischer Kenntnisse zum Besten der Landwirthschaft im Allgemeinen, ein Hauptzweig derselben aber ist die Agriculturchemie, welche die für den Ackerbau so wichtige Bodenkunde (s.d.) vermittelt. Die medicinische Chemie richtet ihr Absehen im Allgemeinen auf ärztliche Zwecke, die pharmaceutische lehrt vornehmlich die kunstmäßige Bereitung der Arzeneien, die technische Chemie endlich vermittelt die Benutzung chemischer Kenntnisse in Künsten und Gewerben und zerfällt beinahe in so viele Abtheilungen, als es Zweige der Industrie gibt, wo ihre Lehren angewendet werden. So spricht man von der Steinchemie oder Lithurgie, von der metallurgischen Chemie oder Metallurgie, welche von Darstellung und Benutzung der Metalle handelt, von der Salz-, Glas- und Farbenchemie, welche die Gegenstände behandeln, nach denen sie benannt werden.
Bis gegen Ende des 17. Jahrh. entbehrte die Chemie noch alles systematischen innern Zusammenhanges und kannte nur die vereinzelten chemischen Thatsachen, zu welchen die Erfahrung bei Bearbeitung der Metalle, Bereitung der Arzneien und bei den Bestrebungen der Alchemie (s.d.) geführt hatte. Den ersten Versuch zu einer Theorie der chemischen Erscheinungen machte der berühmte Naturforscher und Arzt Georg Ernst Stahl, geb. zu Anspach 1660, gest. zu Berlin 1730, indem er die theilweise von seinem Lehrer, dem kais. Hofrathe und kurfürstl. bair. Leibarzte Joh. Joach. Becher, geb. 1635 zu Speier, gest. 1685 zu London, angeregte Idee des Phlogiston ausbildete. Unter letzterm Namen verstand Stahl nämlich einen eigenthümlichen Brennstoff, den jeder verbrennliche Körper enthalte und der beim Verbrennen als Feuer entweichen sollte, wovon seine Lehre die phlogistische genannt wurde. Über ein halbes Jahrh. blieb diese Ansicht die herrschende, bis 1777 von dem Engländer Priestley der unter dem Namen Sauerstoff oder Oxygen bekannte Bestandtheil der atmosphärischen Luft entdeckt und nun dargethan wurde, daß das Verbrennen die chemische Vereinigung eines brennbaren Körpers mit dem Sauerstoffe unter Licht und Wärmeerzeugung sei, worauf der berühmte franz. Naturforscher, Anton Lorenz Lavoisier, geb. zu Paris 1743 und gest. ebendaselbst 1794 als Opfer der Revolution, ein dem bisherigen völlig entgegengesetztes und daher antiphlogistisch genanntes System der Chemie begründete. Jetzt hielt man wieder alle innige chemische Durchdringung, und namentlich die mit Feuererscheinung begleitete, ohne Mitwirkung des Sauerstoffs unmöglich, bis die von Berzelius und Davy (s.d.) gegründete Elektrochemie diese einseitige Meinung berichtigte und die Ursache der längst gemachten Erfahrung enthüllte, daß bei sehr vielen chemischen Vereinigungen, bei welchen kein Sauerstoff thätig ist, sich Feuererscheinungen zeigen, die von der sich ausgleichenden Elektricität herrühren. Die gegenwärtig ein ungeheures Gebiet umfassende und für die Gewerbsthätigkeit immer wichtiger werdende Chemie wird vorzüglich in Deutschland, Frankreich, England und Schweden betrieben und fortwährend mit neuen Entdeckungen bereichert. Allgemein faßliche Belehrung über diese Wissenschaft gibt unter Andern O. L. Erdmann in seiner »Populairen Darstellung der neuen Chemie mit Berücksichtigung ihrer technischen Anwendungen« (2. Aufl., Lpz. 1834).
Brockhaus-1809: Die Chemie · Die antiphlogistische Chemie
Brockhaus-1911: Physiologische Chemie · Technische Chemie · Chemie · Organische Chemie
Eisler-1904: Chemie, psychische
Herder-1854: Organische Chemie · Chemie
Kirchner-Michaelis-1907: Chemie
Meyers-1905: Organische Chemie · Physikalische Chemie · Analytische Chemie · Chemīe
Pierer-1857: Organische Chemie · Physiologische Chemie · Analytische Chemie · Chemie
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