[158] Mittelalter (das) wird gewöhnlich der etwas mehr als 1000 Jahre umschließende Zeitraum genannt, welcher zwischen der alten und der neuern Geschichte in der Mitte liegt, mit dem in Folge der Völkerwanderung bewirkten Untergange des weström. Reiches im I. 476 durch den Heruler Odoacer, Anführer der im röm. Solde stehenden Deutschen, beginnt und mit jenen Ereignissen schließt, deren denkwürdige Vereinigung den Anfang der neuern Zeit bestimmt und zu denen namentlich die Entdeckung von Amerika (1492) und die Reformation zu Anfange des 16. Jahrh. gehören. Gemeiniglich wird diese Zeit wieder in vier Perioden getheilt, von denen die erste bis zum Tode Karl's des Großen (814), die andere bis auf Papst Gregor VII. (gest. 1085) und den Anfang der Kreuzzüge (1096), die dritte bis Ende des 13. Jahrh. und namentlich bis zur Wahl Rudolf's von Habsburg zum deutschen Könige (1273), die vierte bis zum Ausgange des Mittelalters reicht. Während der ersten, einer Zeit vielfacher Zerrüttung, waren die Länder des südl. und westl. Europa, ein großer Theil des mittlern und westl. Asien und die Nordküste von Afrika der Schauplatz der vorherrschenden Ereignisse. Auf den Trümmern des weström. Reichs werden von der rohen Kraft deutscher Eroberer neue Staaten gegründet, erweitert oder wieder vernichtet und der schon vorher innerhalb des röm. Reichs begonnene tiefe Verfall der sittlichen und geistigen Bildung und des Handels und Gewerbfleißes konnte bei der Roheit der Herrscher und der Unsicherheit des Eigenthums nur zunehmen. Wenig vermochte anfänglich das Christenthum zur Vermittelung der Verhältnisse zwischen den Eroberern und Unterworfenen beizutragen, da die Geistlichkeit meist die Roheit der Zeit theilte; die Bildungsanstalten der Alten waren in den stattgehabten Umwälzungen untergegangen, und die neuentstehenden romanischen Sprachen noch ein zu buntes Gemisch, um wesentliche Bildungsmittel abzugeben; die deutsche aber hatte sich bisher fast auch nur in mündlicher Überlieferung von Volksliedern entwickelt, obgleich die Bibelübersetzung des Ulfilas einer frühern Zeit angehört. Das oström. oder griech. Kaiserthum dauerte inzwischen fort und seine größern Städte, vorzüglich aber die Hauptstadt, blieben der Sitz höherer Bildung und eines lebhaften Gewerbfleißes und Verkehrs, obgleich es an innerer Lebenskraft dem westl. Europa weit nachstand. Die durch Mohammed's (s.d.) Lehre zu Eroberern gemachten Araber wurden besonders den Griechen seit dem 7. Jahrh. gefährlich und dehnten im 8. Jahrh. ihre Eroberungen auch über Spanien aus; indessen begann schon jetzt im arab. Reiche unter der Herrschaft der Khalifen jene ausgezeichnete Entwickelung von Wissenschaft und Kunst, Handel und Gewerbfleiß, deren höchste Blüte noch in den folgenden Zeitraum hinüberreicht. Ohne Widerstand breiteten sich im 5. und 6. Jahrh. slawische Völkerschaften in den von den Deutschen verlassenen westl. Ländern bis zur Elbe aus, drangen südl. mit Gewalt bis über Böhmen, an die Donau und zum adriat. Meere vor und gründeten im 7. und 8. Jahrh. dort mehre Reiche (Servien, Bosnien, Slawonien, Dalmatien, Kroatien). Endlich wurden durch Karl den Großen (s.d.) die meisten deutschen Völker zu dem ausgedehnten fränk. Reiche vereinigt und seine, wie der durch ihn an seinen Hof gezogenen Gelehrten Bestrebungen brachten auch hier die Wissenschaften wieder in Aufnahme; die von ihm unternommenen Bauten regten selbst den Kunstsinn an und sein Eifer für Verbreitung des Christenthums pflanzte weit und breit die Keime desselben unter die ihm noch fremden Völker. Im fränk. Reiche ward jedoch, ebenso wie früher schon in dem der Khalifen, durch Theilung unter die Söhne der Herrscher die Auflösung in kleinere Staaten vorbereitet, welche im Anfange der zweiten Periode eintrat und von denen die des Abendlandes, wenn auch unter großen Wirren, fortbestanden, während im Morgenlande in rascher Folge neue Reiche gewaltsam gestiftet und vernichtet wurden. Auch der europ. Norden nahm jetzt, vorzüglich durch die wichtiger werdenden Raubzüge der Normannen (s.d.), mehr Theil am allgemeinen Treiben, die schon 911 in Frankreich (Normandie) und später um die Mitte des 11. Jahrh. in Italien und Sicilien Eroberungen machten. In Deutschland begann mit dem Besieger der Hunnen, Heinrich I., 919 die Regierung des sächs. Kaiserhauses, dem seit 1024 die fränk. oder salischen Kaiser folgten. Das Lehnswesen (s.d.) bildete sich während dem immer weiter aus und war in den von Deutschen gestifteten Staaten zu Ende dieses Zeitraums die Grundlage aller öffentlichen Verhältnisse, nebst der Kirche, für welche Gregor VII. (s.d.) die Erhebung über die weltliche Macht und für den päpstlichen Stuhl den Triumph der Hierarchie mehr als vorbereitet hatte. Wichtig für geistige Entwickelung wurden im Abendlande die sich mehrenden und besser eingerichteten Schulen der Klöster und Bischofssitze, die reifere Gestaltung der lebenden Sprachen, zu denen das Lateinische seit dem 9. Jahrh. nicht mehr gehörte, und die Entstehung der Universitäten (s.d.). Konstantinopel blieb nach wie vor der Sitz höherer Gesittung, und durch byzantinische Gelehrte wurde wenigstens ein großer Theil des geistigen Nachlasses der alten Griechen erhalten. In den dritten Zeitraum fallen die Kreuzzüge (s.d.), die Frucht [158] des herangereiften, abenteuerlustigen Ritterthums und einer beschränkten, dem Aberglauben nur allzu nahen, alles Bewußtseins ermangelnden Religiosität, welche seit jenen Zeiten des Wahns Tausende kräftiger Jünglinge und Jungfrauen in die Klöster trieb. Das Papstthum, nach hartem Ringen siegreich über das Kaiserthum, gelangte durch die Kreuzzüge auf dem Gipfel seiner Macht, indem diese aber ihr erträumtes Ziel gänzlich verfehlten, dienten sie unbewußt der geistigen und geselligen Entwickelung der europ. Menschheit. Sie halfen das Aufblühen der Städte im 11. Jahrh. vermitteln, indem sie für Handel, Kunstfleiß und jegliche Betriebsamkeit die Blicke erweiterten, wodurch hier bald ein Wohlstand hervorging, der die zu seinem weitern Gedeihen erfoderliche Freiheit zu erkaufen oder zu erzwingen und hinter festen Thürmen und Mauern auch zu schützen wußte. Wozu die einzelne Kraft nicht hinreichte, lag nicht außer den Grenzen der vereinten Kraft Vieler, und die Bündnisse der lombard. Städte, die Hanse, der rheinische und schwäb. Bund wurden selbst von den Kaisern gefürchtet und die Städte keines andern Landes thaten es ihnen gleich.
Wie auf diese Art ein großer Schutz wider den Übermuth der Mächtigen gewonnen wurde, ebenso suchten die schwächern Bürger und besonders Leute eines Gewerbes, wider die Zumuthungen der durch Besitz und Stellung Einflußreichen, ihre Rechte durch Verbindungen zu wahren, welche Gilden oder Zünfte (s.d.) genannt wurden und deren Einrichtung zugleich strenge Formen für die innere Ordnung aufstellte, in denen man damals eine vorzügliche Bürgschaft der Erreichung solcher Zwecke sah. Es lagen dergleichen Vereinigungen so sehr in der Zeit, daß selbst die Wissenschaften durch die den Universitäten gegebenen Verfassungen und auch später (s. Meistersänger) die Künste, von denen vorzüglich Dichtkunst und Baukunst während dieser Periode zu hoher Blüte kamen, diesem Geiste huldigten, wie denn auch die Verfassung und die gegen die Macht der Städte mehrfach gebildeten Bündnisse des Adels (s. Ritterwesen) das Abbild zünftiger Einrichtungen waren. Das östl. Europa ward von den Mongolen am Ende dieses Zeitraums verwüstet, dem auch die Stiftung der Inquisition (s.d.), der Bettelmönche (s.d.) und nebst andern greuelvollen Juden- und sogenannten Ketzerverfolgungen, der Kreuzzug gegen die Albigenser (s.d.) angehört. Die vierte und letzte Periode des Mittelalters bildet den Übergang zur neuern Zeit entschieden aus; der Anmaßung des Papstthums begann die Aufhellung der Geister, die durch Vermehrung der Universitäten und das Studium der classischen Literatur herbeigeführte Verallgemeinerung der Bildung und die Macht der Fürsten Grenzen zu setzen und die letztere, im Verein mit der Macht der Städte und der vorzüglich mit durch Anwendung des Schießpulvers eintretenden Umgestaltung des Kriegswesens zügelte zugleich die Ungebundenheit des Adels und führte den Verfall des Ritterthums herbei. Andere Hauptgegenstände der Geschichte der letzten Jahrhunderte des Mittelalters sind die großen Fortschritte des Welthandels und des Gewerbfleißes, das Wiederaufleben der bildenden Künste, die unberechenbar wichtigen Erfindungen des Lumpenpapiers, der Buchdruckerkunst, des Compasses, der Untergang des griech. Kaiserthums, die Gründung der Macht der Osmanen, die Entdeckung von Amerika und des Seewegs nach Ostindien und der Anfang der segensreichen Kirchenreformation, – Die Verhältnisse und Bedeutung des Mittelalters waren und sind noch vor andern geschichtlichen Zuständen ebenso Gegenstand der Geringschätzung wie der Überschätzung; gewiß verdient die dankbarste Anerkennung, was damals vorbereitend für Begründung der gesammten neuern Cultur geschah, was in einigen Künsten Großes geleistet ward. Aber bei alledem darf auch nicht verkannt werden, daß jene Zeit vom Gesichtspunkte der Gegenwart aus fast nur abgestorbene Zustände darbietet, zu denen die europ. Cultur blos mit Verlust schwer errungener Güter, zu denen unter Andern auch die Glaubens- und Gedankenfreiheit gehört, zurückgeführt werden könnte, daß namentlich die vielgepriesene Religiosität des Mittelalters in nur zu vielen Fällen blos ein poetischer Wahnglaube, seine Alles umschränkenden Zunfteinrichtungen ebenso der raschen Bewegung unserer Tage, wie allem Weltbürgerthume entgegen sein würden. Das Mittelalter hat seine Früchte getragen und liegt abgethan hinter uns; seine Wiederbelebung könnte nur wünschenswerth sein, wenn von Neuem jene Verwilderung über die Menschheit hereinbrechen wollte, aus der es hervorging und die es, obgleich mit großen Opfern, überwinden half.
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