Albanesen

[259] Albanesen (albanes. Schkipetaren, d.h. Felsbewohner, türk. Arnauten, griech. Arbaniten, serb. Arbanasi), ein Volk von isolierter Stellung unter den Indoeuropäern, das als Nachkommen der einst viel weiter verbreiteten alten Illyrier angesehen wird und vor allem in der westlichen Balkanhalbinsel von Montenegro bis Griechenland, etwa bis 39° südl. Br., und von der Adria bis zur Linie Nisch-Üsküb-Monastir, wenn auch in den Grenzgebieten zwischen andern Völkern zerstreut, sowie in kleinern Bruchteilen in Süditalien und Sizilien, Slawonien, Bessarabien und Kleinasien heimisch ist. Ihre Gesamtzahl wird nach sehr unsicherer Schätzung auf 1,900,000 angegeben, von denen die Hauptmasse (1,115,000) im heutigen Albanien (dem alten Illyricum und Epirus) wohnt und der Religion nach 790,000 mohammedanische, 85,000 römisch-katholische und 240,000 orthodoxe A. zählt. In Altserbien und im südlichen Montenegro hat eine starke Mischung mit serbischen Elementen stattgefunden, während in Mittelalbanien die A. sich am reinsten erhalten haben. Nach Griechenland und dem Griechischen Archipel wanderten die A. im 14. und 15. Jahrh. Im Peloponnes bilden sie 12,6 Proz. der Bevölkerung und machen überhaupt etwa ein Zehntel (250,000) der Bewohner Griechenlands aus. Doch sind die griechischen A. mehr oder minder in der Hellenisierung begriffen und gehören sämtlich zur griechisch-orthodoxen Kirche. Nach Italien wanderten A. im 15. und 16., zuletzt im 18. Jahrh. Ihre Zahl beträgt etwa 100,000. Nach Österreich kamen A. aus Nordalbanien im 18. Jahrh. und finden sich heute in den slawonischen Dörfern Herkovtse und Nikintse bei Mitrovitz, in der Vorstadt Borgo Erizzo bei Zara sowie in Istrien, doch sind die letztgenannten bereits slawisiert.

In Bezug auf die Körperbeschaffenheit zerfallen die A. in zwei durch den Schkumb getrennte Stämme, die Gegen im N. und die Tosken im S. Beide können sich untereinander nur schwer verständigen und hassen einander. Es ist auffallend, daß blonde Haare und graue Augen besonders bei den südlichen Tosken vorkommen, im N. aber dunkle Gesichtsfarbe herrscht. Nach den wenigen Schädelmessungen sind die nördlichen A. brachykephal, während die südlichen dolichokephal sein sollen. Der Bildungszustand der A. ist überaus niedrig. Eine Schriftsprache fehlt ihnen. Das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit ist bei den in der Türkei wohnenden A., die wegen der die Zersplitterung begünstigenden Landesnatur in viele kleine Stämme zerfallen, noch wenig entwickelt, während die im Ausland wohnenden eifrig national-politische Propaganda treiben. Fortwährende Stammesfehden und die konfessionelle Verschiedenheit ließen und lassen das Nationolbewußtsein nur in Fällen gemeinsamer Gefahr aufkommen. Selbstsucht, Not und eine Art patriotischer Anhänglichkeit an alte Sitten erzeugten fortwährende Aufregung gegen die türkische Regierung, kehrten sich aber auch feindlich gegen andre Völker, wie Montenegriner und Griechen, was sich 1878 in der Bildung[259] der kurzlebigen albanesischen Liga äußerte. Die türkische Regierung benutzte die wohlbekannte Kriegstüchtigkeit des Volkes als ein geeignetes Mittel, um in allen Provinzen des weiten Reiches nicht sowohl die Ordnung als den Despotismus zu stützen. Damit entzog sie zugleich dem Lande die beste Widerstandskraft. Daß es den A. an edlen Zügen nicht fehlte, zeigten die Hydrioten der griechischen Inseln. Georg Kastriota, ihr gefeierter Volksheld, war mütterlicherseits kein Albanese, sondern Slawe.

In vielen Teilen Albaniens, namentlich im Gebirge, üben die Türken nur eine scheinbare Herrschaft aus, denn in Wirklichkeit regiert jeder Stamm sich selbst. Mit dem Wali (Gouverneur) stehen bloß einige Stämme durch eine Mittelsperson, den Bulukbaschi, in Verbindung. Jeder Stamm bildet eine kleine Sonderrepublik, in welcher der Rat der Ältesten über alle Dinge von nicht allgemeiner Wichtigkeit Bestimmungen trifft. Im allgemeinen entscheidet das Herkommen (Adel), über solche Angelegenheiten aber, die das Wohl des ganzen Stammes betreffen, die Volksversammlung (Kuvent), zu der jedes Haus einen Vertreter sendet. Nur der im Inland verübte Diebstahl wird bestraft, jener im Ausland wird gebilligt, da er den Nationalwohlstand bereichert. Unabsichtliche Tötung zieht Geldstrafe, vorsätzliche die Blutrache nach sich, desgleichen Verleumdung, Entführung, Schändung, Ehebruch. Die Blutrache wird nach den ungedruckten Bestimmungen des uralten Gesetzes Leg dukagjinit ausgeübt und fordert schreckliche Opfer; auf sie entfallen 25–75 Proz. aller Todesfälle. In der Familie ist der Mann unumschränkter Herr. Das Weib zieht oft mit in den Kampf. Verlobung, Hochzeit, Ehe zeigen noch viele Spuren altbarbarischer Gebräuche, wie Brautkauf und Brautraub. In den religiösen Anschauungen aller Stämme hat sich noch sehr viel Heidnisches erhalten. Die Tracht wechselt nach den Stämmen, besteht aber meist in roter oder weißer Mütze und Turbanschal, knopfloser, weißer Weste, weißer Fustanella, weißen Beinkleidern (s. Tafel »Volkstrachten II«, Fig. 23 u. 24). Immer ist der Albanese bewaffnet. Hauptbeschäftigung sind Viehzucht und Ackerbau. Die Häuser aus Holz und Lehm gleichen denen griechischer Bauern oder sind wegen der durch die Blutrache bedingten Unsicherheit fensterlose, festungsartige Steinbauten mit Schießscharten. Die A. singen viel und gut; es gibt unter ihnen Erzähler, Sänger; das Volkslied ist in der Regel elegisch. Der Tanz ist die Albanitika, verwandt der griechischen Romaika. A. werden zuerst von dem Geographen Ptolemäus erwähnt, als deren Hauptstadt er Albanopolis nennt. Die Landschaft, in der sie wohnten, hieß später im gegischen Dialekt Arberia oder Arbin, woraus das moderne griechische Arbaniten und das türkische Arnauten hervorgegangen ist. Vgl. G. v. Hahn, Albanesische Studien (Jena 1854); Derselbe, Reise durch das Gebiet des Drin und Wardar im J. 1863 (Wien 1870); Fallmerayer, Das albanesische Element in Griechenland (Münch. 1857–60, 3 Tle.); G. Meyer, Essays und Studien zur Sprachgeschichte und Volkskunde (Berl. 1885); Diefenbach, Völkerkunde Osteuropas, Bd. 1 (Darmst. 1880); Erber, La colonia albanese di Borgo Erizzo (Ragusa 1883); A. Degrand, Souvenirs de la Haute-Albanie (Par. 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 259-260.
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