Anästhesīe

[485] Anästhesīe (griech., »Gefühllosigkeit, Unempfindlichkeit«), der Zustand, bei dem das Gefühl in einem Teil des Körpers aufgehoben ist. A. entsteht dadurch, daß der den Teil versorgende Gefühlsnerv außer Verbinbung mit dem Gehirn gesetzt wird (durch Verletzungen oder Erkrankung des Nervs selbst oder des Rückenmarks) oder dadurch, daß das Gehirn unfähig ist, die ihm durch die Empfindungsnerven übermittelten Eindrücke zum Bewußtsein zu bringen, wie nach heftiger Erschütterung des Gehirns, bei Druck auf das Hirn durch Blutergüsse, Geschwülste etc., bei der Ohnmacht, bei der Epilepsie und bei der Betäubung des Gehirns durch narkotische und anästhetische Mittel. Je nach den Ursachen ist die A. ein vorübergehender, oft aber auch ein bleibender und unheilbarer Zustand. Die A. ist als begleitende Erscheinung bei den verschiedenen Krankheitszuständen für sich niemals Gegenstand ärztlicher Behandlung. Nur wenn infolge von Quetschung eines Nervenstammes das Gefühl eines Teiles nur langsam zurückkehrt, sind leicht reizende Mittel (Galvanismus) oft von gutem Erfolg. A. wird zu chirurgischen Zwecken künstlich durch verschiedene Mittel herbeigeführt, die entweder die Empfindlichkeit des Körpers im ganzen herabsetzen oder aufheben (Äther, Chloroform, Lustgas) oder nur an der Körperstelle wirken, an der sie zur Anwendung gelangen (lokale oder örtliche A.). Die modernen Methoden der lokalen A. einer bestimmten Körperstelle bestehen in der Applikation von Kälte oder Arzneistoffen. Richardson empfahl 1866 den Ätherzerstäuber. Die betreffende Hautpartie, auf der man den Äther (auch Äthyl- oder Methylchlorid) aufbläst, wird nach etwa zwei Minuten gefühllos; sie gefriert unter der bei der Ätherverdunstung entstehenden Kältewirkung. Neuerdings wird die lokale A. fast ausschließlich erzielt unter Verwendung des Kokains, nachdem Kolle 1884 zuerst seine schmerzstillende Wirkung nachgewiesen hatte. Man injiziert die Lösung zu chirurgischen Zwecken in das Körpergewebe, indem man die zu durchtrennenden Schichten etagenweise »infiltriert«. Reclus zeigte, daß 1–2 Proz. Lösung zur lokalen A. ausreichten, indes ist die Benutzung des Kokains beschränkt, weil größere Dosen schwere Vergiftungen, ja Todesfälle zur Folge haben. Eukain kann dagegen in mehr als dreifacher Dosis gegeben werden. Eine ausreichende lokale A. für größere Operationen wurde von Schleich erfunden. Bei seiner Infiltrationsanästhesie werden minimale Dosen von Kokain benutzt, ja im normalen Gewebe läßt sich die A. sogar durch Anwendung ganz indifferenter Mittel, wie Kochsalzlösung, erzielen. Durch Einspritzung der Schleichschen Lösungen wird im Gewebe ein Odem erzeugt, das durch mechanische Verdrängung des Blutes und Kompression der Nerven das Gefühl herabsetzt, bez. beseitigt. Man kann ganz gewaltige Mengen einspritzen, ehe die Maximaldosis erreicht wird; die Methode ist deshalb auch für größere chirurgische Eingriffe (selbst Amputationen größerer Gliedmaßen) geeignet und findet ausgiebige Verwendung. An den Fingern wird mit der indirekten oder regionären A. gearbeitet (Oberst, Braun), anästhesierende Lösung (Kokain, Eukain) wird nicht direkt in das Operationsgebiet eingespritzt, sondern in der Nähe der in dasselbe eintretenden sensibeln Nerven appliziert. Spritzt man unterhalb des ersten Lendenwirbels durch eine in den Rückenmarkskanal eingestochene Hohlnadel kleine Mengen einer Kokainlösung ein, so kommt es durch direkte Kokainisierung der Nervensubstanz zu einer vollständigen Aufhebung des Schmerzgefühls an der untern Körperhälfte, so daß man ohne Narkose operieren kann (Biers medulläre Kokainanästhesie). Leider stellen sich bei diesem Verfahren oft so üble Nachwirkungen ein, daß das Verfahren praktisch nicht anwendbar erscheint. Vgl. Braun, Über Infiltrations- und regionäre Anästhesie etc. (Leipz. 1898); Schleich, Schmerzlose [485] Operationen etc. (4. Aufl., Berl. 1899); Overton, Studien über die Narkose (Jena 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 485-486.
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