Geschwülste [1]

[714] Geschwülste (Tumōres), im allgemeinen abnorme Umfangszunahmen eines Körperteils, namentlich wenn sie lokal beschränkt auftreten. Im engern Sinne spricht man von Geschwulst, wenn die krankhafte Umfangszunahme auf einer Neubildung von Geweben beruht (Neoplasma, Gewächs). Die G. bieten anatomisch, klinisch und prognostisch die größten Verschiedenheiten dar. Sie entstehen teils durch wirkliches Wachstum irgend eines Körperteils: die eigentlichen Gewächse, Aftergebilde oder Pseudoplasmen; teils entstehen sie durch Anhäufung von verschiedenartigen Stoffen, die in letzter Linie immer aus dem Blut stammen; teils sind es endlich parasitäre Bildungen, wie Echinokokkussäcke, die in der Leber und in andern Organen recht häufig vorkommen; ferner die einzelnen (miliaren, d. h. hirsekorngroßen) Tuberkeln, die sich infolge des durch den in den Körper eingewanderten Tuberkulosebazillus gesetzten Reizes um denselben entwickeln. Zu den Geschwülsten, die durch Anhäufung von Blutbestandteilen (direkt oder indirekt) entstehen, gehören die Blutgeschwülste oder Hämatome, die Wassergeschwülste oder Hygrome und Hydrocelen, ferner viele Cysten oder Balggeschwülste (vgl. auch Eierstockskrankheiten, S. 438), namentlich die, die auf Anhäufung von Sekretmassen in den Drüsen und Schleimhautkanälen beruhen etc. Auch die Arteriengeschwülste oder Aneurysmen, die Varicen etc. können hierher gerechnet werden. Die wichtigste Gruppe sind die eigentlichen Gewächse oder Proliferationsgeschwülste, die auf krankhafter Wucherung (Proliferation) irgend eines Gewebes beruhen. So mannigfaltig die Gewebe des gesunden Körpers sind, so mannigfach ist die Natur dieser G. Dem Bindegewebe entstammen die Faser- (Bindegewebs-) G. oder Fibrome, die Schleimgewebsgeschwülste oder Myxome, die Knorpelgeschwülste oder Chondrome, die Knochengeschwülste oder Osteome, Fettgeschwülste oder Lipome, Gehirngeschwülste oder Gliome, aus neugebildeten Blut- und Lymphgefäßen bestehen die Gefäßgeschwülste oder Angiome, hauptsächlich aus Wucherung der Muskelfasern die Myome oder Muskelgeschwülste, die echten Neurome oder Nervengeschwülste aus Wucherung der Nervenfasern, die Adenome oder Drüsengeschwülste aus Wucherung des Drüsengewebes. Endlich sind zu nennen die Lymphome, Tuberkeln, syphilitischen G. oder Gummigeschwülste, die Sarkome und Krebse. Die feinsten Formbestandteile dieser Gruppe von Geschwülsten kommen sämtlich auch im normalen Gewebe vor: es sind Zellen jeder Art, Zellenderivate, Fasern, Bindesubstanzen und Blutgefäße. Spezielle Formelemente, z. B. spezifische Krebs- oder Tuberkelzellen, gibt es in den Neubildungen nicht. Nur die Art ihrer Anordnung, also die Textur, ist teilweise bei den Gewächsen abweichend von der der normalen Gewebe. Das Wachstum und Leben, die Ernährungsvorgänge unterliegen den gleichen Gesetzen, erfahren auch ähnliche Störungen wie die übrigen Gewebe.

Über die Ursachen der G. wissen wir wenig. Für die Entstehung vieler, wenn nicht der meisten, sind langwierige örtliche Reize der verschiedensten Art bedeutungsvoll. Die Ursache der spezifischen parasitären G., des Tuberkels und der syphilitischen Gummigeschwülste, sind die Tuberkulose, bezw. syphilitische Infektion. Über die parasitäre Entstehung der bösartigen Neubildungen s. Krebs. Zahlreiche Neubildungen sind vollkommen indifferent, indem sie weder das Mutterorgan noch den Gesamtorganismus stören. Andre G. rufen wieder nur durch ihren Umfang und Sitz, durch Druck auf die Nachbarschaft, Verschluß von Kanälen etc. beträchtliche Störungen hervor. Sie können, wenn sie zufällig in einem lebenswichtigen Organ, z. B. im Gehirn, sitzen, selbst den Tod herbeiführen, und doch sind sie gutartige G., weil sie nicht zu einer speziellen Veränderung der Säftemasse (Dyskrasie) führen, sondern ein örtliches Übel sind und bleiben. Andre G. sind multipel, d. h. sie treten in größerer Anzahl auf, kommen aber nur in einem Organ oder doch wenigstens an einem bestimmten Gewebssystem ausschließlich vor. So sind manchmal fast alle Knochen des Körpers mit Knorpelgeschwülsten versehen, aber doch eben nur die Knochen, oder es sind an den verschiedensten Nervenstämmen echte Neurome vorhanden, diese bleiben aber auf die Nerven beschränkt etc. Auch diese G. rechnen wir noch zu den gutartigen; ihr vielfaches Auftreten in einem Gewebssystem beweist nur, daß das letztere in allen seinen Teilen eine gewisse oft angeborne Neigung zu einer ganz bestimmten Neubildung hat. Dagegen bleiben die im eigentlichen Sinne bösartigen (malignen) G., Krebse und Sarkome, nicht auf den ursprünglichen Ort ihrer Entstehung beschränkt, sondern wachsen ohne Unterschied auch in die Nachbarorgane, selbst in die Knochen, hinein und verbreiten sich namentlich auch auf die der ursprünglichen Geschwulst zunächst gelegenen Lymphdrüsen; sodann aber werden sie auch dadurch sehr gefährlich, daß Keime oder Zellen der (Mutter-) Geschwulst in die Blutbahn gelangen, an andern Stellen, in oft weit entfernten Organen, abgesetzt werden und dort neue (Töchter-) G. (Metastasen) erzeugen. So kann ein Krebs der Brustdrüse neue Krebsgeschwülste fast in allen Organen des Körpers hervorrufen. Eine strenge Grenze zwischen gutartigen und bösartigen Geschwülsten läßt sich nicht ziehen, häufig nehmen anfänglich gutartige G. allmählich einen bösartigen Charakter an. Bösartige G. sind gewöhnlich sehr reich an Zellen und Säften, haben oft eine markige Beschaffenheit, sind bald weich, bald hart. Sie pflegen sehr schnell zu wachsen, die Haut über ihnen wird unverschieblich; dann bricht die Geschwulst durch die Haut hindurch, die zunächst gelegenen Lymphdrüsen werden hart und schwellen an; es stellt sich Abmagerung, schlechtes Aussehen, Blutarmut, kurz allgemeine Kachexie ein. Was die Behandlung anbetrifft, so sind gutartige G. operativ (durch das Messer oder durch Ätzmittel, Elektrizität etc.) zu entfernen, wenn sie durch ihren Sitz lästig oder gefährlich werden. Bösartige G. erfordern eine möglichst frühzeitige und vollständige Entfernung. Häufig allerdings treten auch nach sorgfältigster Operation Rezidive (Rückfälle) auf; entweder als Narbenrezidive, indem ein kleiner Rest der Neubildung zurückbleibt, oder als regionäre Rezidive, wenn die Lymphdrüsen des zugehörigen Lymphgefäßgebietes schon durch Geschwulstkeime infiziert sind, andre Rezidive können in entfernten Körperteilen durch metastatische Verschleppung entstehen. Die Lehre von den Geschwülsten heißt Onkologie. Vgl. Virchow, Die krankhaften G. (Berl. 1863–67, 3 Bde.); Lücke in Pitha-Billroths »Handbuch der Chirurgie«; Schuh, Pathologie und Therapie der Pseudoplasmen (Wien 1854); Velpeau, Traité des maladies du sein (2. Aufl., Par. 1858); Lücke, Diagnostik der G. (Leipz. 1876); Klebs, Beiträge zur Geschwulstlehre (das. 1877); Borst, Die Lehre von den Geschwülsten (Wiesb. 1902, 2 Bde.); Ribbert, Geschwulstlehre (Bonn 1904).[714]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 714-715.
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