[40] Verdauung (Digestio), derjenige Prozeß, durch den die aufgenommenen Nahrungsmittel in einen solchen Zustand versetzt werden, daß sie der Säftemasse des Körpers einverleibt werden können. Den Verdauungsapparat bilden die Verdauungsorgane, nämlich die Mundhöhle nebst Zähnen, Zunge, Gaumen, Speicheldrüsen, sodann der Schlundkopf, Speiseröhre, Magen, Darmkanal, Leber und Bauchspeicheldrüse. Die Kaumuskeln und die Muskulatur im Verlauf des gesamten Nahrungsschlauches führen nur mechanische Verrichtungen aus, welche die Zerkleinerung[40] und Fortbewegung der Speisen sowie deren innigste Vermischung mit den Verdauungssäften und möglichst ausgedehnte Berührung mit der aufsaugenden Oberfläche des Darmes bewirken. Die von den genannten Drüsen abgesonderten Verdauungssäfte wirken chemisch, lösend und umsetzend auf die Nährstoffe. Beim Kauen wird eine innige Vermischung der Speisen mit dem Speichel (s. d.) und dem Mundschleim herbeigeführt; dadurch werden die Speisen verflüssigt und zum Verschlucken geschickt gemacht, ihre löslichen Stoffe werden gelöst, und ein Teil des in den Speisen enthaltenen Stärkemehls wird durch das eigentümliche Ferment des Speichels, das Ptyalin, in Zucker und Dextrin verwandelt. Im Magen mischen sich die Speisen mit dem von seiner Schleimhaut abgesonderten Magensaft. Dieser enthält als wichtigste Stoffe Pepsin und Salzsäure. Nicht selten findet sich im Mageninhalt Milchsäure, die aus Gärungsprozessen stammt, die unter dem Einfluß eines in den Magen gelangten, an gewisse Bakterien gebundenen Fermentes entstehen. Das Pepsin verwandelt bei gleichzeitiger Anwesenheit von Salzsäure die genossenen Eiweißkörper erst in Symonin, dann in Albumosen, endlich in Pepton. Je reichlicher der Pepsingehalt des Magensaftes ist, desto schneller erfolgt (bis zu einem gewissen Grade) die Auflösung; doch ist für die Entfaltung der verdauenden Eigenschaften des Pepsins die Anwesenheit genügender Salzsäuremengen unentbehrlich. Alle mit der Nahrung zugeführten Eiweißkörper werden schließlich in ein und dasselbe Pepton verwandelt. Dieses bildet das Material, aus dem der Organismus die verschiedenartigen, seinen Bedürfnissen entsprechenden Eiweißkörper wieder aufbaut. Im Magensaft findet sich auch ein Labferment, das den Käsestoff der Milch (Kaseïn) ausfällt. Genossene Milch gerinnt daher im Magen. Das gefällte Kaseïn wird dann, wie andre im geronnenen Zustand in den Magen eingeführte Eiweißstubstanzen, wieder aufgelöst und in Pepton verwandelt. Leimgebende Substanzen und Leim werden im Magen gelöst und in Leimpepton verwandelt, ebenso werden die strukturlosen Membranen gelöst, während verhornte Teile der Epidermis, Chitin, Zellulose etc., nicht verdaut werden. Der Magen, der sich im nüchternen Zustand in vollkommener Ruhe befindet, zeigt, sobald Speisen in ihn hineingelangen, eine lebhafte Tätigkeit seiner Muskulatur. Durch diese wird sein Inhalt in Bewegung gebracht, durchgeknetet und mit dem Magensafte gründlich gemischt. Während der ersten Zeit dieser Magentätigkeit ist der Magenpförtner (Pylorus), der den Übergang in den Darm vermittelt, fest geschlossen. Später öffnet er sich von Zeit zu Zeit und läßt den genügend durchgearbeiteten und verdauten Teil des Mageninhalts in den Dünndarm hineintreten. 35 Stunden nach Beginn der Mahlzeit ist die Magenverdauung gewöhnlich beendet und der Magen leer. Kleine Mengen des Mageninhalts treten unter Umständen sehr bald, schon nach 1/4-1/2 Stunde, in den Dünndarm über. Aus dem Magen gelangt meist noch unverdautes Eiweiß in den Darm, vor allem der größte Teil des Stärkemehls und die Fette. Im Dünndarm begegnet der Speisebrei dem Bauchspeichel, der Galle und dem Darmfaste. Der Bauchspeichel, das stark alkalische Absonderungsprodukt des Pankreas, enthält ein Ferment, das rohes und gekochtes Stärkemehl, auch Glykogen viel energischer als das Ptyalin des Speichels in Dextrin und Zucker verwandelt. Ein andres Ferment des Bauchspeichels, das Trypsin, verwandelt, wenn es durch ein von der Darmschleimhaut geliefertes Ferment, die Enterokinase, aktiviert wird, die Eiweißkörper bei alkalischer Reaktion in Albumosen und Pepton; es peptonisiert auch den Leim, nicht aber das Nucleïn. Bei weiterer Einwirkung des Trypsins auf die Peptone bilden sich Aminosäuren, besonders Leucin und Tyrosin; endlich entstehen im Darm als letzte Spaltungsprodukte der Eiweißkörper unter dem Einfluß fäulniserregender Bakterien stark fäkal riechende Stoffe, Indol, flüchtige Fettsäuren, Skatol, Phenol unter Entwickelung von Wasserstoff, Kohlensäure, Schwefelwasserstoff, Methan, Stickstoff (Darmgase). Ein drittes Ferment des Bauchspeichels zersetzt Fette in Glyzerin und fette Säuren, die mit dem Alkali des Bauchspeichels Seifen bilden. Die Fettzerlegung wird dadurch erleichtert, daß der alkalische Bauchspeichel die in den Darm gelangenden Fette in den Zustand feinster Verteilung, Emulsion, versetzt. Anderseits wird die Emulsionsbildung wieder durch die Anwesenheit der aus den Fetten abgespaltenen Fettsäuren begünstigt. Die Bedeutung des Bauchspeichels für die V., besonders der Eiweißkörper, ist so groß, daß man bei Tieren den Magen hat vollständig entfernen können, ohne dadurch die V. und die Ernährung merklich zu beeinträchtigen. Ein weiterer Verdauungssaft des Darmes, die Galle, wird kontinuierlich in der Leber erzeugt, zunächst teilweise in der Gallenblase aufgespeichert und während der V. reichlicher ergossen. Die Galle wirkt wesentlich auf die Resorption der Fette durch die Darmwand. Wodurch sie dies tut, ist zweifelhaft; vielleicht wirkt sie auf das Fett teilweise lösend, vielleicht übt sie aber auch einen anregenden Einfluß auf die der Fettresorption dienenden Epithelzellen der Darmschleimhaut aus. Nach Ausschluß der Galle vom Darm, wie erz. B. in der Gelbsucht vorkommt, ist die Resorption der Fette fast völlig aufgehoben. Die Galle wirkt wahrscheinlich auch anregend auf die Muskulatur des Darmes, wodurch die Fortbewegung des Darminhalts begünstigt wird; durch ihre reichliche Ergießung bewirkt sie den hinreichenden Wassergehalt der Exkremente, so daß diese leicht entleert werden können, während der schlüpfrige Schleim der Galle ein leichteres Fortrücken des Darminhalts begünstigt. Endlich soll die Galle die faulige Zersetzung des Darminhalts einschränken. Über die Sekretionsbedingungen der genannten Verdauungssäfte, besonders über den Einfluß des Nervensystems auf ihre Absonderung, s. Magensaft, Galle, Bauchspeicheldrüse. Zu Bauchspeichel und Galle gesellt sich schließlich noch der von den Lieberkühnschen Drüsen erzeugte, ebenfalls stark alkalische Darmsaft, der auf die Kohlehydrate einwirkt und Eiweißkörper peptonisiert. Der Dünndarm liefert auch das Erepsin, ein Ferment des Peptons in Aminosäuren zerlegt. Neben den Verdauungssäften sind im Darmkanal niedere Organismen (Spaltpilze), die mit den Speisen und Getränken hineingelangen, als Gärungs- und Fäulniserreger tätig. Sie finden im Darm, bez. in den Verdauungsprodukten sehr günstige Bedingungen für ihre Entwickelung und veranlassen Zersetzungen, die unter Entbindung von Gasen verlaufen. Gewisse Bakterien erregen Milchsäure-, Buttersäure- und alkoholische Gärung, von andern wird Zellulose zersetzt, Stärkemehl in Zucker verwandelt, Fett gespalten. Im Dickdarm überwiegen die Fäulnis- und Gärungsprozesse über die eigentlichen Verdauungsumsetzungen; dazu kommt, daß hier die aufsaugende Tätigkeit der Schleimhaut größer ist als die absondernde, so daß der Darminhalt, der am Anfang des Dickdarms noch breiigwässerig[41] ist, allmählich fester wird. Die Fortbewegung des Darminhalts geschieht durch wurmförmige (peristaltische) Bewegungen der Darmmuskulatur, die mit dem Eintritt der Inhaltsmassen beginnt und im Dickdarm weit träger ist als im Dünndarm. Die Exkremente, welche die unverdaulichen Reste, nicht verdaute Bestandteile der Nahrung und der Resorption entgangene Verdauungsprodukte sowie Reste der Verdauungssäfte enthalten, werden erst im untern Abschnitt des Dickdarms geformt. Alle 24 Stunden, manchmal erst in längern Zeitabständen, werden sie durch den Akt der Kotentleerung entfernt. Vgl. Graham, Physiologie der V. und Ernährung (deutsch von Hahn, 5. Aufl., Köthen 1893); Gamgee, Physiologische Chemie der V. (deutsche Ausg. von Asher und Beyer, Wien 1897); Ewald, Klinik der Verdauungskrankheiten (Bd. 1 u. 2 in 3. Aufl., Berl. 189093; Bd. 3, 1902); Rosenheim, Pathologie und Therapie der Krankheiten des Verdauungsapparates (2. Aufl., Wien 1896, 2 Tle.); Pawlow, Die Arbeit der Verdauungsdrüsen (aus dem Russischen von Walther, Wiesb. 1898). S. auch Ernährung. Unter künstlicher V. versteht man die Behandlung von Nahrungsstoffen oder Nahrungsmitteln mit künstlich, durch Extraktion der betreffenden Drüsen mit Wasser, Glyzerin etc. hergestellten Verdauungssäften bei Körpertemperatur.
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