[3] Vegetarismus (v. lat. vegetus, »gesund, munter«), eine Lebensanschauung, die darauf ausgeht, Gesundheit des Körpers und Geistes und hiermit vollen Lebensgenuß sich zu verschaffen, ohne zugleich sich durch üble Gewohnheiten und Genußmittel zu schädigen oder sittliche Schuld auf sich zu laden. Der V. findet seinen Lebensgenuß in möglichst getreuer und reiner Befolgung der Naturgesetze, weshalb Ed. Baltzer die sozusagen zum Kanon gewordene Definition gegeben hat: »V. ist die bewußte Erfüllung unsrer Lebensbedingungen«. Das, was das Tier und die Pflanze unbewußt erfüllen, will der V. also in voller Erkenntnis auf sich und seine ganze Lebensführung anwenden, die Segnungen der Kultur dabei voll mit genießen, ihre Auswüchse und Schädigungen aber sorgsam vermeiden. Zu den nicht nur entbehrlichen, sondern unmittelbar schädlichen Genußmitteln rechnen die Vegetarier in erster Linie alle Fleischspeisen, weshalb die Meidung des Fleischgenusses das äußere Merkmal für sie geworden ist. Für die Außenstehenden hat dies zu dem Irrtum geführt, die Enthaltung vom Fleischgenusse sei allein schon der V. überhaupt. Der V. verwirft den Fleischgenuß aber nicht nur aus hygienischen, sondern auch aus sittlichen, ästhetischen und volkswirtschaftlichen Gründen. Da indes die nichthygienischen Gründe von Gegnern kaum jemals zum Gegenstand einer Bekämpfung gemacht worden sind, spielt sich der Streit um die Berechtigung des V. fast ausschließlich ab zwischen den Vegetariern einerseits und den Medizinern anderseits, welch letztere die hygienischen Lehren des V. über den Fleischgenuß vielfach aus anthropologischen und physiologischen Gründen bekämpfen (Virchow, Ludwig, Funke, Hüppe, Ewald, Ebstein), sie aber auch zum Teil anerkennen (Albu, Caspari) oder sie geradezu als Bestandteil des Heilschatzes annehmen (diätetische Ärzteschule: v. Leyden, Goldscheider, Schweninger, Niemeyer, Nothnagel, v. Noorden, Haig, Alcott, Reich, Böhm, Bachmann, Klencke, Ziegelroth, Kleinschrod). Alkoholgenuß und alle Narkotika, arzneiliche Heilmittel, Impfung, Vivisektion werden vom V. bekämpft, Bodenreform, Gartenstadtbewegung und genossenschaftliche Siedelungen dagegen unterstützt, letztere insofern, als sie Gelegenheit bieten, die hygienischen und sittlichen Schäden des gesellschaftlichen und besonders des Großstadtlebens zu vermeiden und den Obstbau sowie gesundes Landleben zu ermöglichen. So ist z. B. die 200 Morgen große bodenreformerische Obstbaukolonie Eden in Oranienburg bei Berlin, die über 60 Familienwohnungen enthält, eine fast ausschließlich vegetarische Gründung. Zu andern ähnlichen Siedelungen sind neuerdings im In- und Ausland Ansätze vorhanden. Eine Überspannung und Ausartung der vegetarischen Grundsätze ist das sogen. Naturmenschent um, das auf Rousseaus »Zurück zur Natur« sich stützend die Kultur in Bausch und Bogen verwirft. Die Zahl der Vegetarierin Deutschland wird auf 10,000 geschätzt, die indes bei weitem nicht alle organisiert sind. Sammelplatz der Vegetarier sind die in vielen deutschen Groß- und Mittelstädten bestehenden Vegetariervereine sowie insbes. der »Deutsche Vegetarierbund« (juristische Person, Sitz Leipzig), der von Frankfurt a. M. aus geschäftlich geleitet wird und als führendes Organ die »Vegetarische Warte« (41. Jahrgang 1908) herausgibt. Im englischen Sprachgebiet ist die Bewegung schon seit Anfang des 19. Jahrh. literarisch hervorgetreten (Graham, Newton, Alcott, Trall, Kellogg, Haig, Oldfield) und seit etwa 60 Jahren organisiert, in Deutschland erst seit 1867. Ferner bestehen vegetarische Organisationen und Zeitschriften in fast allen übrigen europäischen Ländern und von Europäern besiedelten Überseeländern. Das in deutschen vegetarischen Stiftungen, meist für Kindererziehung, angelegte Kapital beträgt über 800,000 Mk.; die größte ist das Baronsche vegetarische Kinderheim in Breslau (mit rund 1/2 Mill. dotiert). Begründer der deutschen vegetarischen Bewegung und Literatur war Eduard Baltzer (s. d. 2). Die ältere (auch von Baltzer noch gebrauchte) Bezeichnung »Vegetarianer« ist eine sprachlich falsche Bildung aus dem englischen Adjektiv vegetarian. Die Annahme, daß V. Vegetabiliengenuß bedeute, ist etymologisch unrichtig. Es gibt indes Vegetarier, die sich in ihrer Ernährung ausschließlich auf Vegetabiliengenuß beschränken. Hinsichtlich des letztern hat Von 1886 erklärt, daß eine richtige Ernährung der Menschen mit Vegetabilien allein möglich ist und den Lehren der Wissenschaft nicht widerspricht. Vgl. Baltzer, Die natürliche Lebensweise (4. Aufl., Leipz. 1902, 4 Bde.); Gleizes, Thalysie, ou la nouvelle existence (Par. 1821; 2. Aufl. 1842, 3 Bde.; deutsch, Berl. 1873); Th. Hahn, Die vegetarianische Diät (3. Aufl., Köthen 1882) und Der Vegetarianismus (2. Aufl., Berl. 1874); Struve, Die Pflanzenkost, die Grundlage einer neuen Weltanschauung (Stuttg. 1869); Graham, Die Physiologie der Verdauung und Ernährung (Köthen 1880); Schlickeysen, Obst und Brot (3. Aufl., Leipz. 1894); Andries, Der V. und die Einwände seiner Gegner (das. 1893); Springer, Enkarpa. Kulturgeschichte (Frankf. 1884); Bircher-Benner, Grundzüge der Ernährungstherapie (2. Aufl., Berl. 1906); Haig, Diät und Nahrungsmittel (2. Aufl., das. 1905); Nagel, Das Fleischessen vor dem Richterstuhl (17. Aufl., Braunschw. 1907); Sponheimer, Der V., eine wirtschaftliche Notwendigkeit (Berl. 1905); Such ier, Der Orden der Trappisten und die vegetarische Lebensweise (2. Aufl., Münch. 1906); Hüppe, Der moderne Vegetarianismus (Berl. 1900); Alb u, Die vegetarische Diät (Leipz. 1902); Caspari, Physiologische Studien über Vegetarismus (Bonn 1905). Vegetarische Kochbücher schrieben Baltzer, Barnbeck, Bircher, Brandenburg, Gartenheim, Goßmann, Hahn, Reckziegel, Rost, Schulz, Springer, Volchert, Weilshäuser u. a.[3]