Vivisektion

[200] Vivisektion (lat.), ein mit einer Verwundung oder Verstümmelung verbundener Versuch am lebenden Tier, vorgenommen vom Physiologen oder Mediziner zum Studium der Lebenserscheinungen am gefunden Organismus oder zum Zwecke der künstlichen Erregung einer Krankheit. Nur auf diesem Wege, nicht durch bloßes Beobachten und Nachdenken, konnten viele der wichtigsten Verrichtungen, wie die Doppeltätigkeit der Nerven, der Kreislauf des Blutes, die Funktionen der Gehirnnerven, Lymphgefäße, Bauchspeicheldrüse, Herzklappen, Nieren und Leber sichergestellt werden. Die Heilkunde verdankt der V. Fortschritte auf dem Gebiete der Neuralgien, Lähmungen, Brustbeklemmungen, Migräne, der Basedowschen Krankheit, Erkrankung der Gehirnrinde, Trichinosis, Benutzung der Magenfistel zur Ernährung, Ausscheidung einer Niere, Exstirpation des Kehlkopfes und des Magens, subperiostealen Resektion, Elektrotherapie, antiseptischen Wundbehandlung, Diagnose der Wutkrankheit und vieler andrer Infektionskrankheiten, endlich auch die Prüfung neuer Arzneimittel, die Untersuchung über die Wirkungen von Giften und Gegengiften, die moderne Serumtherapie u. a. m. Die übertriebene Darstellung der schmerzhaften Eingriffe in die innern Organe der Tiere hat empfindsame Gemüter in Aufregung gebracht und zur Bildung von Antivivisektionsvereinen geführt, deren Bemühungen es gelang, 1876 in England ein Gesetzdurchzubringen, wonach Versuche an Haustieren nur mit ministerieller Genehmigung stattfinden dürfen. Auch nach Deutschland wurde die Bewegung verpflanzt, namentlich durch E. v. Webers »Folterkammern der Wissenschaft« (Leipz. 1879), fand aber gegenüber den 1879 von 17 medizinischen Fakultäten und vom deutschen Ärztetag in Eisenach, 1881 vom internationalen Ärztekongreß in London abgegebenen Erklärungen über die Notwendigkeit der V. und gegenüber der Haltung der Regierungen nur in sehr engen Kreisen Beachtung und Anklang. In den Tierschutzvereinen kam es zu Erörterungen, die zum Teil zur Bildung neuer Vereine führte. Die Mehrzahl der Vereine in Deutschland, Frankreich und der Schweiz hat die Notwendigkeit und Berechtigung der V. direkt oder indirekt zugegeben und nur gegen die Mißbräuche angekämpft. Der preußische Kultusminister v. Goßler erließ 1885 folgende Bestimmungen: 1) Versuche am lebenden Tier dürfen nur zu ernsten Forschungs- oder wichtigen Unterrichtszwecken vorgenommen werden. 2) In den Vorlesungen sind Tierversuche nur in dem Maße statthaft, als dies zum vollen Verständnis des Vorzutragenden notwendig ist. 3) Die operativen Vorbereitungen zu den Vorlesungsversuchen sind in der Regel noch vor Beginn der eigentlichen Demonstration und in Abwesenheit der Zuhörer zu bewerkstelligen. 4) Tierversuche dürfen nur von Professoren oder Dozenten oder unter deren Verantwortlichkeit ausgeführt werden. 5) Versuche, die ohne wesentliche Beeinträchtigung des Resultates an niedern Tieren gemacht werden können, dürfen nur an diesen und nicht an höhern Tieren vollzogen werden. 6) In allen Fällen, in denen es mit dem Zweck des Versuchs nicht schlechterdings unvereinbar ist, müssen die Tiere vor dem Versuch durch Anästhetika vollständig und in nachhaltiger Weise betäubt werden. Gleich lautende oder, wie in Bayern, ähnliche Bestimmungen sind in sämtlichen deutschen Staaten, zuletzt in Württemberg 1897, erlassen worden, so daß die Frage in Deutschland vorläufig auch zur Zufriedenheit der meisten Tierschutzvereine geregelt ist. Vgl. L. Hermann, Die Vivisektionsfrage (Leipz. 1877); Ludwig, Die wissenschaftliche Tätigkeit in den physiologischen Instituten (das. 1879); Heidenhain, Die V. im Dienste der Heilkunde (das. 1879) und Die V.[200] (auf Veranlassung des preußischen Unterrichtsministers, das. 1885); Goltz, Wider die Humanaster (Straßb. 1883); Rawitz, Für die V. (Greifsw. 1898); Flesch, Der Tierversuch in der Medizin und seine Gegner (Leipz. 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 200-201.
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