[262] Militärcolonien, Ansiedelungen ganzer Truppentheile, so daß die Soldaten im Frieden auf ihnen angewiesenen Wohnsitzen das Land bauen, im Kriege aber ein Theil derselben in das Feld zieht, aus der Colonie im Fall des Ablebens od. der Invalidität ersetzt wird u. im letzteren Fall in ihr wieder Aufnahme findet. Die Idee der M. ist sehr alt. Schon Alexander der Große siedelte die Veteranen seiner Heere theilweise an, u. bei den Römern findet man schon die Colonisirung durch Legionen, namentlich waren die Limitanei in Illyrien u. Pannonien ähnliche Anstalten u. ebenso die Standlager am Rhein, welche den Grund zu fast allen großen Städten am linken Ufer dieses Flusses legten. Ähnlichkeit damit hatte auch das Lehnswesen des Mittelalters, die Timarioten der Türken, die gegen Ende des 17. Jahrh. bewerkstelligte Organisation der schwedischen Nationalregimenter (Indeltaarmee), wo Soldaten u. Offiziere zerstreut auf Krondomänen angesiedelt wurden u. zu Übungen u. im Kriege zusammen kamen. Eigentliche M. wurden aber erst von Rußland angelegt. Den Plan entwarf der General Araktschejew; er schlug vor, indem die Soldaten bei den Kronbauern einquartirt würden, völlige militärische Dörfer zu bilden u. jedem Hause eine Partie Landes zum Unterhalt zu bewilligen. Diese Idee fand Eingang u. den 26. April 1818 verordnete ein Ukas die Verwirklichung derselben. Spätere Ukase vom 12. Decbr. 1821, 18. Febr. 1825 ergänzten die Verordnungen hierüber. Die erste Ansiedelung wurde mit einer Infanteriedivision im Gouvernement Nowgorod u. mit einer Cavalleriedivision im Gouvernement Charkow eingerichtet, bald aber erhielten diese Anstalten einen größeren Umfang, so daß im Jahr 1828 bereits drei Infanterie- u. fünf Cavalleriedivisionen, erstere im Norden, letztere im Süden des Reiches, organisirt waren. Araktschejew erhielt die Oberaufsicht über sämmtliche M. Die Krondörfer, in welchen M. angelegt werden sollten, wurden durch diese Ukase namentlich bestimmt. Man verfuhr bei der Anlegung folgendermaßen: gewisse Districte wurden ganz der Civilobrigkeit entzogen u. unter Militärgewalt gestellt, in ihnen wurden nun die sämmtlichen Kronbauern einer Colonie aufgezeichnet u. aus ihnen die, welche älter als 50 Jahre waren, od. in deren Ermangelung die, welche sich sonst verständig u. ordentlich bewiesen, gezogen. Diese erhielten den Namen Obercolonisten (Meistercolonisten), u. jeder derselben wurde uniformirt u. bekam 15 Desätinen (64 preußische Morgen) Landes. Zugleich wurde ihm ein Haus gebaut, u. diese Gehöfte bildeten, von einander getrennt, in einer Gasse das Dorf. Jeder Obercolonist hatte nun einen Assistenten neben sich, zu dem gewöhnlich der älteste Sohn der Familie gewählt wurde, u. an den im Fall des Ablebens des Obercolonisten, nach eingeholter Genehmigung des Obersten, der Hof vererbt ward. In jedem Hof wurde ein einquartirter Soldat (ackerbautreibender Soldat) verpflegt, u. auch sein Pferd, wenn die colonisirten Regimenter Cavallerie, ernährt. Nur wenn der Soldat in den Krieg zog, bekam er Sold. Dafür hatte der Soldat aber dem Bauer in der Zeit, wo er nicht zum eigentlichen Dienst od. zu Übungen verwendet wurde, im Ackerbau zu helfen. Neben dem eigentlichen Soldaten war in jedem Hofe noch ein Reservemann, welcher den Abgang des ackerbautreibenden Soldaten ersetzte. Die übrigen jungen Männer der Colonie, bei der Infanterie vom vollendeten 12., bei der Cavallerie vom 14. Jahr an, bildeten die ebenfalls uniformirten Cantonisten, welche zu Soldaten u. Bauern ausgebildet u. einquartirt wurden, die vom vollendeten 17. Jahre an zum Ersetzen des ackerbautreibenden Soldaten der Reserve, vom vollendeten 24. Jahre an zum Ersatz in den activen Truppenabtheilungen dienten. Alle Knaben vom vollendeten 7. Jahre an wurden der väterlichen Gewalt entzogen u. in eigenen Lancasterschulen erzogen, talentvolle in besonderen Militärschulen zu Offizieren ausgebildet. Auch die Mädchen erhielten in Lancasterschulen Unterricht, sollten aber nur Soldaten heirathen. Wenn der Militärcolonist 25 Jahre gedient hatte, konnte er seinen Abschied u. seine Entlassung aus der Colonie verlangen, diente dann noch 5 Jahre in der Reserve u. galt dann für invalid. Wirklich im Gefecht invalid Gewordene wurden zum Polizeidienst verwendet u. hierfür vom Gouvernement bezahlt. Alle Verbrechen der M. wurden nach einem besonderen Militärcodex gerichtet, die Offiziere waren ihrem Range nach die Richter. Die Offiziere hatten auch die innere Verwaltung der M., die Polizei in jedem Dorfe unter sich. Alle Verrichtungen in der M. wurden von den Colonisten besorgt. Fremden war der Zutritt in die Bezirke der M. ohne besonderen Paß nicht gestattet. Mehre Jahre hindurch wendete man große Summen auf die M., denn Hospitäler, Ställe, Schulen, Kirchen (jedes Regiment hatte eine), Magazine, Exercierhäuser etc. mußten neu angelegt werden. Bis 1826 betrugen die Kosten bereits 32,500,000 Rubel. Gleichwohl schienen diese Ausgaben bei der Anlage keineswegs zu groß, da man fast ohne Unterhaltungskosten eine bedeutende Streitmacht permanent beisammen hatte, zugleich auch vieles Land urbar machte u. einen großen Theil der rohen Bevölkerung an Zucht u. Ordnung gewöhnte. Daher faßte man sogar den Plan, die ganze Armee zu colonisiren; indeß da 1831 eine Revolte in den M. ausbrach, wobei nur das persönliche Erscheinen des Kaisers Nikolaus die Ruhe wieder herzustellen vermochte, gab man nicht nur den Plan einer durchgehenden Colonisirung der Armee wieder auf, sondern verlieh auch den bestehenden Colonien durch Ukas vom 19. Novbr. (1. Decbr.) 1831 eine wesentlich veränderte Einrichtung, indem man die M. mehr dem Civilstande näherte, die aus denselben zu stellenden Truppenabtheilungen abwechselnd in verschiedene Quartiere legte etc. u. selbst den Namen M. in den der Districte der ackerbautreibenden Soldaten umänderte. Als nach Beendigung des Orientalischen Krieges die russische Armee reorganisirt wurde, ließ der Kaiser Alexander II. die nördlichen, d.h. die Infanteriecolonien, ganz aufheben, die Cavalleriecolonien aber verloren ebenfalls ihre Einrichtungen, so daß sie gegenwärtig,[262] wo sie seit 1. Jan. 1858 den Namen der Südlichen Colonien führen u. in der Charkowschen, Chersonschen u. Kiew-Podolischen Colonie bestehen, eine Gemeindeverfassung haben, welche den Charakter der M. vollständig verwischt. Die Cantonisten, die Kinder der Colonisten, müssen nicht mehr Soldaten werden, sondern sind ihren Eltern zur Wahl eines beliebigen Berufs frei gegeben worden. Vgl. Militärgrenze u. R. Lyall, Über die M. Rußlands (franz.) Par. 1825; Tanski, Tableau statistique, politique et moral du systéme milit. de la Russie, ebd. 1833; Schubert, Über die M. Rußlands, Königsberg 1835.
Pierer-1857: Russische Militärcolonien