Bevölkerung

[704] Bevölkerung. Die Gesammtzahl der einen gewissen Flächenraum bewohnenden Volksmenge nennt man die absolute B. desselben, während das Verhältniß der Kopfzahl zu dem Flächeninhalt od. auch zur Productionsfähigkeit eines Landes die relative B. desselben ergiebt. A) Bevölkerungsbewegung ist die Ab- u. Zunahme der B. eines Landes über die Ursachen derselben, die Übel, welche aus der einen od. der anderen entspringen, u. die Mittel diesen Übeln abzuhelfen, sind genauere Untersuchungen erst seit Ende des 18. Jahrhunderts mit der Ausbildung der nationalökonomischen Wissenschaften überhaupt angestellt worden. Bei den Schriftstellern der Alten finden sich hier u. da zerstreute Ansichten über die Bewegung der B., namentlich äußern Plato u. Aristoteles Befürchtungen vor Übervölkerung u. rathen zu vorbeugenden u. repressiven Maßregeln, als Kindermord, Abtreibung der Frucht, Heirathsverbot für alle körperlich veranstalteten od. geistig schwachen Bürger etc. Völlig entgegengesetzte Ansichten waren um die Mitte des 18. Jahrhunderts verbreitet, u. die Anhänger der sogenannten physischen Schule hielten eine Zunahme der B. für das vom Staate zu erstrebende Ziel, weshalb sie vorschlugen, durch Begünstigung frühen Heirathens, Unterstützung kinderreicher Väter (in einigen Staaten ist es noch Gebrauch, daß dem Vater eines 7. lebenden Sohnes eine Prämie gewährt wird u. der Landesherr Pathenstelle vertritt), durch Benachtheiligung Unverheiratheter, Auswanderungsverbote etc. für die Vermehrung der Population zu sorgen. Sie gingen dabei von der Annahme aus, daß die Zunahme der B. mit der Zunahme der Subsistenzmittel eines Landes mindestens gleichen Schritt halte, wenn nicht das Verhältniß gar zu Gunsten der letzteren ausfalle u. sonach der allgemeine Wohlstand u. das Nationalvermögen sich zu größerem Flor entwickele. Diese Ansicht fand in Deutschland einen entschiedenen Vorkämpfer an Joh. Pet. Süßmilch (Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, Berl. 1740, 4. Aufl. 1775), u. bes. an v. Sonnenfels, welcher (Grundsätze der Polizei, Handlung u. Finanzwissenschaft, Wien 1765, 7. Aufl. 1804) diese Anschauungsweise über B-sbewegung zu einem Systeme ordnete. Directen Widerspruch gegen diese Theorie erhob der Engländer J. R. Malthus, indem er das Streben nach Entvölkerung als das richtigste Princip der Staatsregierungen hinstellte (Essay on the principles of population, Lond. 1798, 6. Aufl., 2 Bde., 1826). Er stellte die Behauptung auf, die B. eines Landes verdoppele sich bei normalen Zuständen von 25 zu 25 Jahren in arithmetischer Progression, während die Productionskraft der Völker, also auch die Summe seiner Subsistenzmittel, verhältnißmäßig nur sehr langsam zunehme. Zur Verhütung des allmälig entstehenden Mißverhältnisses gab er als vorbeugende Maßregel die Enthaltsamkeit im ehelichen Leben, als repressiven Schutz gegen Übervölkerung Elend u. Laster an. Gegen diese mit großer Feinheit entwickelten Ansichten erhob sich ein großer Kampf, theils vom religiösen, theils vom volkswirthschaftlichen Standpunkte aus. Diejenigen, welche den ersteren festhielten, verwarfen die Theorie als mit der christlichen Religion u. der göttlichen Weltordnung unvereinbar u. hielten es überhaupt für ein irreligiöses Unterfangen, die göttliche Vorsehung als gewissen Regeln unterworfen zu betrachten. Die wissenschaftlichen Forscher warfen dagegen ein, daß die Malthus'sche Aufstellung einer progressiven Zunahme, die von amerikanischen Verhältnissen abstrahirt war, ebenso wie seine Behauptung einer sich gleichbleibenden Fruchtbarkeit u. Zeugungskraft bei zunehmender Dichtigkeit der B., falsch sei, endlich aber auch die Vermehrung der Nahrungsquellen eines Volkes weit rascher von Statten ginge. Auf die Geschichte sich stützend, führten andere Gegner des Malthus'schen Systems aus, daß, wenn dasselbe begründet wäre, von Anfang an, zumal da bei niederen Culturstufen das Enthaltsamkeitsprincip keine Anwendung habe finden können, ein Krieg Aller gegen Alle hätte stattfinden müssen, dagegen ein Fortschritt der Civilisation, der doch unzweifelhaft feststehe, unmöglich habe eintreten können. Über die Frage wurde nun ein heftiger Federkrieg geführt doch fehlte es den Beweisen für u. wider an hin reichenden statistischen Unterlagen, um sie durch Thatsachen zu unterstützen od. zu entkräften. Allmälig fand indeß eine Ausgleichung der sich schroff gegenüberstehenden Systeme statt. Die Anhänger des Malthus'schen Systems sahen von der arithmetischen Richtigkeit ihrer Zahlenangaben ab u. suchten die Vereinbarkeit desselben mit. der Annahme einer culturhistorischen [704] Entwickelung der Völker in Einklang zu bringen, indem sie behaupteten, daß mit der Civilisation zwar nicht die Vermehrungsfähigkeit der Menschen abnehme, wohl aber die moralische Enthaltsamkeit in der Ausübung eines Naturtriebs weiteren Boden gewönne. Die allgemeine Anerkennung der Pflicht der Eltern für die Nachkommenschaft zu sorgen, sei, behaupteten sie, der Grund, daß weniger Ehen geschlossen u. weniger Kinder aus den Ehen selbst hervorgingen, eine vernünftige Selbstliebe, welche auf die Folgen eines jeden Schrittes Rücksicht nimmt, ziehe die entsprechenden Schranken, um Elend u. Laster von der Familie abzuwenden u. das Gleichgewicht zwischen ökonomischer Productivität u. der aus der Vermehrung hervorgehenden größeren Consumtion zu halten. Zur genaueren Feststellung der Theorie über B-sbewegung gelangte man indeß erst, nachdem derselben Thatsachen als Grundlagen dienen konnten. B) Bevölkerungsstatistik. Volkszählungen kannte schon das frühste Alterthum, u. bei den Chinesen, Juden, Griechen u. Römern wurden von Zeit zu Zeit über die Einwohnerzahl der Städte u. des Landes Register angelegt. Nähere Ermittelungen über Tauf-, Trauungs- u. Sterbefälle kommen erst im 16. Jahrhundert vor u. werden von da an in den civilisirten Staaten allgemeiner. Doch fehlte es diesen Angaben fast durchgehends an Zuverlässigkeit, wie es bei den vielen Mängeln des Staats- u. Gemeindewesens nicht anders sein konnte, u. außerdem waren dieselben nur geeignet, als Anhaltepunkt für die absolute B. zu dienen, während sie keinen Schluß auf das Verhältniß der Productivität zu der Masse des Volks thun lassen. Eine geordnete Zusammenstellung der Einzelheiten zur Ermittelung dieses Verhältnisses mußte im Interesse der Wissenschaft von großer Bedeutung sein, u. seit 1790 begann man zuerst in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die B-sstatistik in dieser Weise auszubilden. Den Bestrebungen der Amerikaner schlossen sich später die Bemühungen der Belgier, Engländer, Franzosen u. einiger deutschen Staaten an (vgl. Statistik). Die auf solche Art gewonnenen Grundlagen trugen wesentlich zur Berichtigung der Theorien bei u. zeigten, daß die Wahrheit zwischen den beiden oben erwähnten Systemen in der Mitte liege. Es ergab sich aus den Tabellen, daß nirgends die Repression, d.h. die theilweise Vernichtung der Geborenen durch Elend, Noth od. Laster allein, sondern stets daneben auch die vernünftige Beschränkung des Fortpflanzungstriebes zur Verhütung einer Übervölkerung wirksam gewesen war. Verhältnißmäßig war die Zahl der geschlossenen Ehen in Nordamerika die größte; sie erklärt sich aus den natürlichen Verhältnissen des Landes, die eine größere Entwickelung der Productivität noch für Jahrhunderte zuläßt. Von den europäischen Ländern nehmen Rußland u. England in dieser Beziehung den ersten Rang ein; dieses Verhältniß gründet sich bei ersterem Lande, wie bei Amerika, auf die geringe Dichtigkeit der B., gegenüber der Ertragsfähigkeit bisher unbenutzter, aber culturfähiger Länderstrecken; bei England auf die industriellen Zustände des Landes, die eine Vermehrung der Arbeitskräfte zulassen, u. auf die politische Verfassung des Staates, welche der Gewerbthätigkeit des Einzelnen einen großen Spielraum gewährt. Am ungünstigsten stellte sich das Verhältniß der Ehen zur Bewohnerzahl in Frankreich, u. zwischen diesem u. England in der Mitte steht Deutschland. Hinsichtlich der Fruchtbarkeit der Ehen tritt indeß in den meisten Fällen eine andere Reihenfolge ein. Italien u. Portugal nehmen hier den ersten Rang (5000 Kinder auf 1000 Ehen) ein, dann kommt Deutschland, Niederlande u. Rußland mit über 4200 Kindern auf 1000 Ehen, u. endlich Frankreich, England u. die meisten übrigen europäischen Staaten mit unter 4200 Kindern auf 1000 Ehen. In Bezug auf die mittlere Lebensdauer stellte sich nach Casper (Die wahrscheinliche Lebensdauer, Berl. 1835) heraus, daß dieselbe in Rußland 213/10, in Preußen 296/10, Schweiz 346/10, Frankreich 358/10, Belgien 365/10, England 385/10, Jahre beträgt, u. ferner, daß im Allgemeinen Frauen länger als Männer, Verheirathete länger als Ehelose, Wohlhabende länger als Unbemittelte leben. (Vgl. Sterblichkeit.) Die B-sstatistik lehrte ferner, daß die durch Krieg, verheerende Seuchen u. Hungersnoth entstehenden Lücken in der B. eines Landes durch Zunahme der Ehen u. Geburten schneller ausgefüllt werden, als dies bei normalem Verhältniß der Fall sein würde; sie weist nach, daß Auswanderungen gar nicht od. in sehr geringem Grade zur Entvölkerung eines Landes beitragen, während die Einwanderung in gleicher Weise sich in Bezug auf Verminderung der Subsistenzmittel kaum bemerklich macht. Solche Erfahrungen haben nicht nur auf die Theorie der B-slehre einen großen Einfluß geübt, sondern sind auch der Praxis in hohem Grade nützlich geworden. C) Die Bevölkerungspolitik hat aus diesen Ergebnissen die Lehre gezogen, daß es nicht sowohl darauf ankommt, die Zu- od. Abnahme der B. zu verhindern, als vielmehr das Gleichgewicht zwischen der Productivität u. der Vermehrung des Volkes zu erhalten, d.h. also je nach Umständen die Steigerung der Population, wenn es an Arbeitskräften zur Ausbeute der Erwerbsquellen mangelt, od. die Verringerung derselben im entgegengesetzten Falle zu fördern. Wie weit es in der Aufgabe u. der Macht des Staates liege, zur Erreichung dieses Zieles mitzuwirken, ist eine Frage, über die noch viele sich kreuzende Ansichten herrschen. Die sicherste Grundlage für das richtige Verhältniß zwischen Population u. Subsistenzmitteln ist die moralische Kraft des Volkes u. eine sittlich vernünftige Auffassung des Lebens. Wo die Sitten in Verfall gerathen, das Familienleben sich lockert u. die Ehe ihrer Heiligkeit entkleidet wird, da geht die Verminderung der Productivität mit der Abnahme der B. Hand in Hand. Solcher Entvölkerung vorzubeugen hat der Staat nur indirecte Mittel, indem er durch Förderung der Bildung u. des Unterrichts, der Künste u. Wissenschaften den Sinn für geistiges Leben zu erwecken bemüht ist, od. durch Einführung gesunder Elemente aus dem Auslande eine Regeneration anstrebt. Größere Gefahr als in der Entvölkerung scheint in der Übervölkerung zu liegen, u. die Schwierigkeiten, diese zu verhindern, sind nicht minder groß. Außer den barbarischen Mitteln, die schon von den Alten vorgeschlagen wurden (s. oben A), aber mit sittlichen Grundsätzen unvereinbar sind (vgl. auch Infibulation), hat man die Erschwerung der Heirathen vorgeschlagen, indem man einmal ein gewisses Alter, ein andermal den Nachweis der für die Existenz einer Familie erforderlichen Unterhaltungsmittel u. endlich den Nachweis des thatkräftigen Willens für die[705] Erhaltung der Familie zu sorgen, als Bedingungen zur Gestattung einer Heirath aufgestellt wissen will. Indessen widerspricht eine solche Erschwerung, die den Behörden einen großen Einfluß auf die privaten Verhältnisse des Einzelnen gestatten würde u. in vielen Fällen ohne große Übelstände u. Benachtheiligungen nicht durchführbar ist, dem Begriffe der persönlichen Freiheit; u. wenn dieser die Aufgabe des Staates für das Gesammtwohl der Bürger zu sorgen gegenüber gestellt wird, so fragt es sich noch, ob die Übel, die auf der anderen Seite aus solcher Eheerschwerung entspringen würden, als Vermehrung der Concubinate, unehelichen Geburten etc. nicht denjenigen gleichkommen, die man verhüten will.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 2. Altenburg 1857, S. 704-706.
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