[1168] Tragödie; Trauerspiehl.
Um den Begriff des Trauerspiehls nicht allzusehr einzuschränken, wollen wir jede theatralische Vorstellung einer wichtigen und pathetischen Handlung hieher rechnen. Nach diesem Begriff wäre die Tragödie von der Comödie blos durch die größere Wichtigkeit und den hohen Ernst ihres Inhalts ausgezeichnet. Wir halten es wenigstens nicht für gut, daß man ihren Charakter blos auf die Erwekung des Mitleidens und Schrekens einschränke. Aber bey dem allgemeinen Charakter einer ganz ernsthaften und pathetischen Handlung, kann das Trauerspiehl noch von verschiedener Art seyn. Wir glauben wenigstens, daß es nicht ganz ohne Nuzen seyn werde, wenn wir folgende vier Arten von einander unterscheiden. Zu der ersten Art rechnen wir solche, darin[1168] ein tragischer Charakter den Hauptstoff ausmacht; die zweyte Art würde eine tragische Leidenschaft; die dritte eine tragische Unternehmung, und die vierte eine solche Begebenheit behandeln. Zwar kommen Charaktere, Leidenschaften, Begebenheiten und Unternehmungen in jedem Trauerspiehl vor; dennoch aber unterscheidet sich eine Art von der andern dadurch, daß eines, oder das andere dieser vier Dinge, das Fundament der ganzen Handlung ist, wie aus dem folgenden erhellen wird.
Es giebt Charaktere die verdienen vor einem ganzen Volk entweder zur Bewundrung und Verehrung, oder zum Schreken, Abscheu, oder Haß entwikelt zu werden. Dies ist so offenbar, daß es keiner Ausführung bedärf. Hat sich ein Dichter vorgesezt einen solchen Charakter im Trauerspiehl zu behandeln, so kommt es auf eine kluge Wahl der Handlung an. Diese muß nicht nothwendig groß seyn; denn auch in geringern Handlungen kann sich ein sehr wichtiger Charakter entwikeln. So hat Sophokles den Charakter des Tyrannen Kreon in seiner Antigone in einem wahrhaftig tragischen Licht gezeiget, obgleich die Handlung des Stüks an sich keine vorzügliche Größe hat. Eine geringscheinende Sache kann von wichtigen Folgen seyn; also könnte der Minister eines eigensinnigen Monarchen das Aeußerste versuchen, seinen Herren von einer an sich wenig scheinbaren Sache, wegen der schlimmen Folgen, die er davon voraussieht, abzuhalten, und dadurch könnte der Dichter sich die Gelegenheit machen, einen sehr großen Charakter in ein helles Licht zu sezen.
In dieser Art des Trauerspiehls würde die Handlung durch die Größe der Charaktere wichtig; und sie ist deswegen schäzbar, weil sie dem Dichter die Wahl der Handlung sehr erleichtert. Man findet überall in der Geschichte der Völker große Charaktere; aber selten sind große Handlungen oder Begebenheiten, die zur Vorstellung auf der Schaubühne schiklich wären. So sind z.B. der Tod des Cato, oder die Entlassung der Bereinice von dem Hofe des Titus keine Begebenheiten, die, als solche, sich zur Tragödie schikten, wenn sie nicht durch die Größe der Charaktere des Cato und Titus, dazu erhoben würden. Darin besteht also das Wesen dieser Art, daß sie ihre Größe, oder Würde durch den Charakter der Personen, der sich dabey in vollem Lichte zeiget, erhalten. So ist der Prometheus des Aeschylus; ein sonderbares Trauerspiehl, das blos durch den erstaunlichen Charakter des Prometheus merkwürdig wird. So könnten der Tod des Sokrates, des Cicero, des Seneka, Stoff zu Tragödien dieser Art geben. Die Handlung, oder Begebenheit würde in keinem dieser drey Fällen für die tragische Bühne groß genug seyn; aber der Charakter des Helden könnte so behandelt werden, daß das Stük die Größe und das Pathos, die zum Trauerspiehl erfodert werden, dadurch erhielten.
Trauerspiehle von Leidenschaften, wären solche, an denen man die fatale Würkung großer aber vorübergehender Leidenschaften vor Augen legte, des Zorns, der Eyfersucht, der Rache, des Neides und dergleichen. Auch hier ist die Begebenheit selbst das wenigste, nur muß freylich bey schädlichen oder gefährlichen Leidenschaften, die Fabel so eingerichtet seyn, daß dieselben unglükliche Würkungen haben. In dem Leben des Alexanders kommen verschiedene tragische Ausbrüche vorübergehender Leidenschaften vor, die für das Trauerspiehl sehr bequäm wären. Der Zorn, der den Tod des Klitus verursachte; die Reue, die darauf folgte; die Raserey, während welcher er Persepolis in Brand stekte, und noch mehr dergleichen vorübergehende Ausbrüche heftiger Leidenschaften, könnten auf eine wahrhaftig tragische Art behandelt werden.
Zu Trauerspiehlen von Begebenheiten, müssen wichtige Unglüksfälle zum Grund der Handlung gelegt werden, die schon an sich interessant genug sind, und die der Dichter noch dadurch merkwürdiger macht, daß er die verschiedene Würkungen derselben auf Personen von hohem Stand, Rang, von merkwürdigem Charakter zeiget. Dem Staat den Untergang drohende Niederlagen der Kriegesheere, Pest, Verwüstungen ganzer Länder, plözlich einreißende allgemeine Noth, sind Begebenheiten, die leicht zu behandeln sind, und wobey der Dichter die an der Handlung theilnehmende Personen, in sehr merkwürdigen Gemüthsfassungen zeigen kann.
Endlich hat man noch Unternehmungen, die zum Grund der Handlung können gelegt werden. Veränderungen im Staat, Unterdrükung eines Tyrannen, Hintertreibung eines großen Projekts und dergleichen. Diese Art ist vielleicht die schweerste sowol in Behandlung der Charaktere, als in Ansehung des Mechanischen der Kunst. [1169] Dieses wären also die Hauptgattungen des Trauerspiehls. Es ist nicht zu zweifeln, daß ein Dichter, wenn er nur die Beschaffenheit der dramatischen Handlung überhaupt wol studirt, und die Gattung des Trauerspiehls gewählt hat, nicht bald den Weg finden sollte, dasselbe ordentlich und gründlich zu behandeln.
Es verdienet hier besonders angemerkt zu werden, auf wie vielerley Art das Trauerspiehl nüzlich seyn könne. Bey den beyden ersten Gattungen ist dieses offenbar genug. Der Dichter hat unmittelbare Gelegenheit dabey, das Gute in den Charakteren und Leidenschaften der Verehrung und Bewundrung der Zuschauer, das Böse der Verabscheuung und dem Haß derselben, darzustellen. Hier ist also der Nuzen unmittelbar und der Dichter kann leicht vermeiden, daß der Einwurf, den Plato überhaupt gegen das Trauerspiehl macht, daß es durch Nachahmung böser Sitten das Gemüth nach und nach an dieselben gewöhne, und den billigen Abscheu dafür schwäche, ihn nicht treffe. Er muß sich hüten, Mitleiden für böse Menschen zu erweken; das Laster muß er mit Abscheu, heftige Leidenschaften aber mit Furcht und Schreken zu begleiten suchen. Dieser Philosoph hält überhaupt die heftigen Leidenschaften für unanständig, und es scheinet, als wenn er auch blos deswegen das Trauerspiehl verwerfe, weil man den Menschen nicht zu heftigen Leidenschaften reizen soll.
Etwas gründliches ist ohne Zweifel in seiner Bedenklichkeit. Es giebt Leidenschaften, die, wenn man sie oft und stark fühlt, das Gemüth erniedrigen, und die Nerven des Geistes schwächen. Von dieser Art sind die Zärtlichkeit und die Traurigkeit. Sie haben aber in den zwey ersten Gattungen selten statt; wir werden gleich davon sprechen. Allein Abscheu vor großen Lastern, Furcht und Schreken, als Folgen von übertriebener Leidenschaft, können nicht zu weit getrieben werden. Man muß nur das Weichliche, Weibische oder gar Kindische vermeiden.
Nur vor einer Art des Uebertriebenen muß der Dichter gewarnet werden. Die alten Dichter scheinen in Behandlung der Charaktere und Leidenschaften sich näher an der Natur gehalten zu haben, als die meisten Neuern. Diese übertreiben die Sachen gar zu oft. Mancher Dichter scheint nur den Menschen für grausam zu halten, der alles um sich herum ermordet; nur den für zaghaft, der die Luft mit Heulen und Jammern erfüllt, nur den für standhaft, der wie jene abentheuerliche Ritter in tausend Gefahren sich mit der größten Unbesonnenheit stürzet, und ganze Heere erlegen will. In diesen Fehler ist der große Corneille gar oft gefallen. Man sieht leicht, daß eine solche Behandlung der Leidenschaften und der Charaktere nicht nur von keinem Nuzen, sondern gar schädlich sey. Eine prahlerische Größe erwekt keine Bewundrung mehr, und alles Uebertriebene in den Leidenschaften, die man uns vorbildet, wird kalt und ohne Kraft.
Liebe, Bewundrung, Haß und Abscheu, sind die Leidenschaften, welche die zwey ersteren Arten des Trauerspiehls in dem Zuschauer erweken sollen. Sie müssen aber nicht erzwungen, nicht durch übernatürliche Gegenstände mit Gewalt, nicht durch Ueberlistung, wie bey Kindern, sondern auf eine natürliche Weise, auf eine Art, die auf nachdenkende männliche Gemüther würkt, nach und nach erzeuget werden. Man muß uns das Innere der Charaktere und Leidenschaften, nicht nur das Aeußere derselben sehen lassen.
Die dritte Art, oder das Trauerspiehl der Begebenheiten, kann auf eine ihm eigene Art nüzlich werden. Der verehrungswürdige Marcus Aurelius sagt in seinen moralischen Gedanken, das Trauerspiehl sey zuerst erfunden worden, um die Menschen zu erinnern, daß die Zufälle des Lebens unvermeidlich seyen, und sie zu lehren, dieselben mit Geduld zu ertragen1, dieses ist ein Nuzen, den man aus dem Trauerspiehl ziehen kann. Man erhält ihn dadurch gewisser als durch die Geschichte, die uns alles von weitem zeiget, da das Schauspiehl, weil wir die Sachen vor uns sehen, ungleich stärker auf uns würket. Unglüksfälle, die zu unsren Zeiten in entlegenen Ländern geschehen, rühren uns wenig, noch weniger die, welche durch Raum und Zeit zugleich entfernt sind. Man hat deswegen den wichtigsten Begebenheiten oft die Kraft der Dichtkunst leihen müssen, welche uns die Gegenstände näher für das Gesicht bringt. Dieses ist die Absicht der Epopee, aber das Schauspiehl bringt sie uns würklich vor Augen und hat deswegen die größte Kraft.
Was demnach wichtige Unglüksfälle lehrreiches an sich haben, sowol durch sich selbst, als durch das verschiedene Betragen der Menschen, dabey kann dieses Trauerspiehl uns auf die vollkommenste Art [1170] verschaffen. Die Ungewißheit und Unzuverläßigkeit aller menschlichen Veranstaltungen; der Heldenmuth, womit einige Menschen das Unglük ertragen, die Schwachheit die andre dabey äußern; was Vernunft, Tugend und Religion auf der einen Seite, was Leidenschaften und bloße Sinnlichkeit auf der andern Seite, bey ernsthaften Vorfällen in dem Betragen des Menschen würken; was ein Mensch vor dem andern, ein Stand vor dem andern, eine Lebensart vor der andern zuvor oder zurük hat, wird uns in diesem Trauerspiehl - - nicht gelehrt, sondern unauslöschlich in die Empfindung eingegraben.
Aristoteles hat gesagt, daß das Trauerspiehl durch Erwekung des Mitleidens und Schrekens, das Gemüth von diesen Leidenschaften reinige, und seine Ausleger haben sich auf alle mögliche Seiten gewendet, um dieser Anmerkung einen begreiflichen Sinn zu geben. Die Art des Trauerspiehls, wovon izt die Rede ist, macht uns mit Unglüksfällen bekannt und vertraut, erwekt Mitleiden und Schreken, aber eben dadurch, daß es uns Erfahrung in solchen Sachen giebt, macht es uns stark sie zu ertragen. Wer viel in Gefahr gewesen, der wird standhaft, und wer durch viel Fatalitäten gegangen ist, ist im Unglük weniger kleinmüthig als andre.
Sollen aber diese Vortheile durch das Trauerspiehl würklich erhalten werden, so muß der Dichter die Leidenschaften mit Verstand behandeln, so wie die Griechen es unstreitig gethan haben, deren Personen überhaupt gesezter und männlicher sind, als man sie auf der heutigen, besonders der deutschen Schaubühne sieht. Wer mit weichlichten, zaghaften, durch Unglüksfälle außer sich gesezten Menschen lebt, der verliehrt alle Stärke der Seele, und diese Würkung könnte auch das Trauerspiehl haben, dessen Personen zaghaft, weinerlich und jammernd sind. Man kann den Schmerz, die Furcht, die Bangigkeit, das Schreken, als ein Mann und auch als ein Kind fühlen. Auf die erste Art muß der tragische Dichter seine Personen fühlen lassen. Diejenigen irren sehr, welche in dem Trauerspiehl den Zuschauer durch übertriebene Empfindlichkeit, durch Heulen und Klagen, zu rühren suchen, da die Großmuth und Gelassenheit bey dem Unglük edler ist, als die große Empfindlichkeit. Durch Heulen und Klagen wird nur der Pöbel gerührt, und Plutarchus merkt sehr wol an, daß diejenigen, welche die Cornelia, die Mutter der Grachen für wahnwizig gehalten, weil sie den Mord ihrer Söhne mit Standhaftigkeit ertragen, selbst wahnwizig und für das Große der Tugend unempfindlich gewesen. Wenn der Trauerspiehldichter nicht blos das Volk ergözen, sondern ihm nüzlich seyn will, so sehe er auf große Tugenden, und lasse seine Helden im Unglük edel und standhaft, nicht aber zaghaft seyn.
Es kann sehr nüzlich seyn, wenn der Dichter untersucht, woher es doch kommt, daß die Neuern so gerne Unglüksfälle der Verliebten auf die tragische Bühne bringen, wovon man kaum wenige Spuhren bey den Alten findet. Ohne Zweifel waren sie den Alten nicht wichtig, nicht ernsthaft, nicht männlich genug; ohne Zweifel urtheilten sie von diesem Tragischen, daß es das Gemüth zu weichlich mache, und daher läßt sich abnehmen, was für eine Art und was für ein Maaß der Rührung sie zu erreichen gesucht haben.
Das Trauerspiehl der Begebenheiten kann auf zweyerley Weise behandelt werden; entweder kann das volle Unglük, das den Inhalt der Handlung ausmacht, schon von Anfang vorhanden seyn; oder es entsteht erst durch die Handlung. Im ersten Fall muß die Handlung so geführt werden, daß sie mit dem Ausgang den das Unglük hat, mit dem, was dadurch in dem Zustand der handelnden Personen hervorgebracht wird, ihr End erreicht; so wie in dem Oedipus zu Theben des Sophokles, und im Hippolithus des Euripides, dem Ajax des Sophokles. Im andern Fall entsteht das Unglük aus der Handlung, welche sich eigentlich damit endiget. Diese Art scheint von geringern Werth zu seyn, als die erstere.
Endlich haben wir noch die vierte Gattung zu betrachten; das Trauerspiehl der Unternehmungen. Die Handlung desselben, besteht in einer wichtigen Unternehmung, wie z.B. die in der Elektra, in der Iphigenia in Tauris und tausend andern. Es ist leicht die Wichtigkeit dieser Gattung einzusehen. Das Gemüth ist gleich von Anfang in einer großen Spannung, und von Seite der handelnden Personen, werden die wichtigsten Gemüthskräfte angestrengt. Bald ist die höchste Klugheit, bald großer Verstand, bald Verschlagenheit, bald ausnehmender Muth, bald Verläugnung seiner selbst, bald eine andere große Eigenschaft des Geistes oder des Herzens, oft mehrere zugleich, durch die ganze Handlung in beständiger Würksamkeit. Dazu kommen [1171] denn die dagegen arbeitenden Kräfte, die zu überwinden sind, wenn der Ausgang dem Unternehmen gemäß, oder die überwunden werden, wenn das Unternehmen fehl schlägt. Kurz, was in dem Bestreben der Menschen groß und wichtig seyn kann, was Zufall und gute oder schlechte Aufführung bewürken oder veranlassen, kann in dieser Gattung vorgestellt werden.
Dieses Trauerspiehl kann zur Schule jeder heroischen Tugend werden; zugleich aber kann es jede Gefahr, womit große Unternehmungen verbunden sind, jeden Zufall, der sie befördert, oder zernichtet, jede befördernde oder hindernde Ursache großer Begebenheiten vor Augen legen. An der Wichtigkeit dieser Gattung kann niemand zweifeln; so wenig, als an der Schwierigkeit, die sie hat. Denn keine Gattung erfodert mehr Verstand und Ueberlegung, als diese, mehr Kenntniß der menschlichen Geschäfte und Kräfte.
Aus allen diesen Anmerkungen erhellet hinlänglich, auf wie vielerley Art das Trauerspiehl nüzlich werden könne, wenn es nur gehörig behandelt wird. Man sieht aber auch zugleich, daß die glükliche Ausführung desselben nur von Männern zu erwarten sey, die über das gemeine Maaß der Denkungsart erhaben sind. Niemand bilde sich ein, daß eine interessante Begebenheit, die ernsthafte Empfindung erwekt, ins kurze gezogen, und auf der Schaubühne vorgestellt, eine gute Tragödie ausmache. Es wird dienlich seyn, die Haupteigenschaften eines guten Trauerspiehls hier in Betrachtung zu ziehen. Aristoteles hat sechs Punkte im Trauerspiehl angemerkt, deren jeder eine besondere Betrachtung verdienet. Die Fabel, die Sitten, die Schreibart, die Sittensprüche, die Veranstaltungen der Schaubühne, die Musik. Wir wollen von jedem besonders sprechen.
Von der Beschaffenheit des Inhalts, oder dem tragischen Stoff, ist bereits gesprochen worden. Wir merken darüber nur noch dies einzige an, daß es ein großer Vortheil für den Dichter sey, wenn er einen bekannten Inhalt wählt. Er hat alsdenn nicht nöthig, die handelnden Personen so vieles, das der Handlung vorhergegangen, erzählen zu lassen; weil die Sachen dem Zuhörer schon bekannt sind. Bey etwas verwikelten Begebenheiten, ist es höchst schweer den Zuschauer, dem die Handlung noch ganz unbekannt ist, auf eine natürliche Weise in dem rechten Gesichtspunkt zu sezen. So sind in Corneilles Rodogüne die Erzählungen der Laodice, die diesen Endzwek haben, fast unausstehlich. Also kommt hier zuerst die Behandlung der Fabel in Betrachtung. Aristoteles verlangt zuerst davon, daß sie vollständig, ganz und von einer anständigen Größe sey.
Im Trauerspiehl muß also eine Handlung zum Grund gelegt werden, das ist, es muß ein wichtiger Gegenstand da seyn, der die Thätigkeit der handelnden Personen in einem hohen Grad reizt, Glük oder Unglük, großer Vortheil oder großer Schaden, oder wie man sich mit einem Worte ausdrukt, ein wichtiges Interesse, an dem die handelnden Personen Antheil nehmen. Sie müssen nicht auf die Bühne kommen, um sich über geschehene oder zukünftige Dinge zu unterreden; denn dieses macht kein Schauspiehl aus, sondern sie müssen etwas unternehmen, etwas, das sie wünschen, zu erhalten suchen, oder etwas, das sie fürchten, zu hintertreiben. Denn dadurch werden nicht nur alle Seelenkräfte der handelnden Personen gereizt, sondern auch die Zuschauer werden in Aufmerksamkeit und Erwartung gesezt.
Es muß nur ein solches Interesse zum Grunde liegen, das die Aufmerksamkeit beständig in der gehörigen Spannung unterhalte, und der Zuschauer nur mit einem einzigen Gegenstand, der ihn ganz beschäftiget, zu thun habe. Es könnte nicht anders als schädlich seyn, wenn der Zuschauer zwey wichtige Handlungen zugleich überdenken, und jeder in ihrer Entwiklung folgen müßte. Eine einzige beschäftiget ihn ganz, daher sind die Trauerspiehle von doppelter Handlung als fehlerhaft in der Anlage zu verwerfen. Sie können große einzele Schönheiten haben, aber einzele Scenen machen kein Trauerspiehl aus.
Die Handlung muß vollständig und ganz seyn, das ist, man muß ihren Anfang und ihr Ende sehen. Wenn der Anfang mangelt, so ist der Zuschauer unruhig und ungeduldig zu wissen, warum die handelnden Personen in so großer Würksamkeit sind. Kein Mensch kann sich enthalten, wenn er einen Zusammenlauf von Leuten sieht, die ein wichtiger Gegenstand beschäftiger, zu fragen, was die Ursache davon sey. So lang er diese nicht weiß, kann er das, was er sieht, nicht gehörig beurtheilen. Die Begierde zu erfahren, wie dieser Handel angefangen habe, macht daß er weniger, auf das was geschieht, Achtung giebt. Erst alsdenn, wenn man die Ursache [1172] oder Veranlassung einer wichtigen Handlung weiß, hat man die Aufmerksamkeit völlig auf das gerichtet, was nun vorgeht.
Dieses ist nicht so zu verstehen, daß das Trauerspiehl nothwendig bey der ersten Veranlassung zur Handlung anfangen müsse. Denn dieses wäre vielmehr ein Fehler. Die Veranlassung gehört noch nicht zur Handlung selbst. Aber man muß sie dem Zuschauer zu wissen thun; zwar kann dieses geschehen wenn die Handlung schon angegangen, aber es muß bald geschehen. So fängt Sophokles seinen Ajax nicht damit an, daß er uns sehen läßt, aus welcher Ursache und wie er rasend wird, er ist es schon. Aber wir erfahren gleich, warum er es geworden, und dieses ist der wahre Anfang der Handlung. Der Dichter, der seine Kunst versteht, eröffnet die Handlung gleich damit, daß er uns Personen sehen läßt, die eine große Angelegenheit beschäftiget. Dies fängt an, unsre Aufmerksamkeit zu reizen; denn unterrichtet er uns bald, welche Angelegenheit dieses ist, und woher sie kommt, damit wir desto richtiger beurtheilen können, was geschieht. Der Unterricht von der Veranlassung und den Ursachen der Handlung, den wir durch die handelnden Personen bekommen, wird die Ankündigung genennt, wobey verschiedenes zu bedenken ist, das wir in dem besondern Artikel darüber näher bestimmt haben. So sehen wir in dem Oedipus in Theben des Sophokles, daß das ganze Volk mit großer Feyerlichkeit und Trauer sich vor dem Pallast ihres Königs versammelt. Dies ist der Anfang des Trauerspiehls, aber nicht der Handlung. Wir erfahren aber bald aus dem Antrag des Priesters an den König, daß eine schrekliche Pest seit einiger Zeit in Theben herrscht, daß dieses verderbliche Uebel eine Strafe der Götter sey, wegen des ungerochen gebliebenen Mordes des vorigen Königs, und daß das Volk kommt, wo möglich die Entdekung des Mörders und seine Bestrafung zu bewürken, dieses ist der Anfang der Handlung.
Die Handlung muß ihr Ende haben; das ist so viel, es muß etwas geschehen, was auf einmal die Thätigkeit aller handelnden Personen hemmt oder überflüßig macht; etwas woraus klar erhellet, warum izt die Personen, die wir so beschäftiget gesehen, aufhören zu handeln. Dieses geschieht entweder, wenn sie ihren Endzwek erreicht haben, oder in die Unmöglichkeit gesezt worden, ihre Würksamkeit in Absicht auf das Interesse der Handlung fortzusezen. Dieses ist nothwendig, weil sonst der Zuschauer in Ungewißheit über den Ausgang der Sache bleibt, welche ihm Nachdenken verursachet, und seine Aufmerksamkeit von den Hauptgegenständen abzieht; weil er sonst einen großen Theil des Nuzens, den das Schauspiehl ihm geben soll, vermißt, da er nicht sieht, was für einen Ausgang die Unternehmungen der handelnden Personen gehabt haben. Wenn man das Verhalten der Menschen bey Unternehmungen beurtheilen soll, so muß man der Sache bis zum Ende nachgehen. Dieser Theil des Trauerspiehls, in welchem die Handlung ihr Ende erreicht, heißt der Ausgang, und wir haben, das was dabey zu merken ist, in einen besondern Artikel vorgetragen.
Endlich gehört auch zur Vollständigkeit der Handlung, daß man den ganzen Verlauf der Sachen erfahre, und über keinen Umstand in Ungewißheit bleibe, woher er gekommen, oder was er in der Sache verändert habe; daß man den völligen Zusammenhang der Sachen erkenne, und daß keine Würkung vorkomme, deren Ursache verborgen geblieben. Denn sonst würde unser Urtheil über die Sachen ungewiß, und wir würden in zerstreuende Zweifel gerathen.
Und hieraus läßt sich sehen, daß der Philosoph dessen Regeln wir hier erläutern, sie nicht ohne wichtige Gründe vorgeschrieben habe. Eben so verhält sichs auch mit dem, was er von der Größe sagt, die er nicht ausmißt, sondern blos durch einen Fingerzeig angiebt, indem er sagt, die Handlung müsse eine anständige Größe haben. In der That wird ein verständiger Dichter hierüber nicht lange in Ungewißheit seyn. Eine Handlung die in wenig Minuten ihr Ende erreicht, schikt sich zu keinem Schauspiehl, weil in so kurzer Zeit die Charaktere und Leidenschaften der handelnden Personen sich nicht sehr entwikeln können, und weil es überhaupt angenhemer ist, einen interessanten Gegenstand so lange zu verfolgen, daß man einigermaaßen gesätiget wird. Die Dauer der Handlung, nämlich des bloßen Zuschauens derselben muß wenigstens eine Stunde einnehmen, weil sie sonst die Begierde mehr reizen, als befriedigen würde.
Auf der andern Seite aber muß sie auch nicht von einer ermüdenden Länge seyn. Das beste Schauspiehl, das unsre Aufmerksamkeit in beständiger [1173] Spannung hält, und das muß das Trauerspiehl thun, dürfte nicht über drey Stunden währen, so würde es uns gewiß ermüden; auch die Schauspiehler könnten es schweerlich mit dem nöthigen Feuer länger aushalten.
Aus diesen Schranken, die wir aus guten Gründen der Dauer des Schauspiehls sezen, läßt sich nun die Größe der Handlung abnehmen. Wenn alles natürlich und ungezwungen seyn soll, welches in allen Werken der Kunst eine Haupteigenschaft ist, so kann die Handlung keine größere Ausdähnung in der Zeit haben, als ohne Zwang in der Dauer des Spiehls vorgestellt werden kann. Allein eine Handlung von irgend einer Wichtigkeit, ist selten so kurz. Man nimmt es deswegen auch nicht so sehr genau, und sezt zum voraus, daß der Zuschauer, der mit dem beschäftiget ist, was er vor sich sieht, den, was außer der Scene geschieht, die Zeit eben nicht genau vorrechne. Man findet sich eben nicht sehr beleidiget, daß eine Person, die etliche Minuten lang von der Scene weggewesen, und nun wieder kommt, inzwischen etwas verrichtet habe, wozu eine drey oder viermal längere Zeit, als ihre Abwesenheit gedauert hat, erfodert wird. Daher kommt es, daß ofte Handlungen vorgestellt werden, die natürlicher Weise einen ganzen Tag wegnehmen müßten. Die Alten sind aber in diesem Stük genauer gewesen, als wir sind. Viele von ihren Trauerspiehlen sind so, daß die ganze Handlung auch in der Natur währender Zeit der Vorstellung hätte geschehen können, wiewol sie doch auch nicht ohne alle Ueberschreitung des Maaßes sind. Daß sich die Neuern hierin mehr Freyheit erlaubt haben, mag meistentheils daher kommen, daß sie sich nicht getrauen, ohne viel Verwiklung und Mannigfaltigkeit der Zufälle unterhaltend genug zu seyn. Dieses trauten sich die Griechen zu, und konnten es auch. Es giebt bey ihnen Trauerspiehle, die höchst einfach, und doch höchst unterhaltend sind, wo die Handlung durch viele Scenen sehr wenig fortrükt, der Zuschauer aber in beständig lebhafter Würksamkeit ist.
Daß Shakespear, der größte tragische Dichter unter den Neuern, sowol diese, als manche andre Regel übertreten, und doch gewußt hat, zu gefallen, beweißt nichts dagegen. Wenn er zu dem großen Verdienst, das er würklich hat, noch die Beobachtung der Regeln auch hinzugethan hätte, so wär er noch größer, und würde noch mehr gefallen. Ein gothisches Gebäude kann einige sehr gute Parthien haben, deswegen ist es doch ein Werk, daß im Ganzen ohne Geschmak ist. Viel Gemählde von Rembrand sind in einigen Stüken bewundrungswürdig, sonst aber jedem Menschen von Geschmak unausstehlich. Indessen wollen wir gar nicht behaupten, daß nur das Trauerspiehl gut sey, das nach den Regeln der Alten behandelt wird: aber diese Behandlung halten wir überhaupt für die Beste. So viel von der Beschaffenheit der Handlung.
Der zweyte wesentliche Punkt, worauf es beym Trauerspiehl ankommt, betrift nach dem Aristoteles die Sitten, und darunter scheint er alles zu begreifen, was zum Charakter, der Denkungsart, und den Quellen der Handlungen der Personen gehört. Wenn der Philosoph, wie es scheint, die Fabel würklich für das wichtigste Stük des Trauerspiehls gehalten hat, so können wir nicht seiner Meinung seyn, weil es uns außer Zweifel scheint, daß die Sitten ein wichtigerer Theil seyen. Eine der vornehmsten und wichtigsten Fabeln, die jemals auf die tragische Bühne gekommen, ist die vom Oedipus in Theben. Eine wütende Pest droht der ganzen Stadt den Untergang; die Priester geben vor, sie werde nicht eher nachlassen, bis der Mörder des vorigen Königs entdekt, und bestraft sey. Oedipus, der wegen seiner fürtreflichen Regierung angebetet wird, sezt sich vor alles mögliche zu thun, um den Mörder zu entdeken und zu strafen. Es ergiebt sich aus der Untersuchung, daß er selbst, ohne es gewußt zu haben, dieser Mörder ist, daß der ermordete König sein Vater gewesen; daß die Königinn, die er geheyrathet hatte, seine leibliche Mutter ist; daß seinen Aeltern vorhergesagt worden, ihr Sohn würde seinen Vater umbringen, und seine Mutter zur Gemahlin nehmen; daß zur Vereitelung dieser Prophezeyung der Vater gleich nach seiner Geburth ihn in eine Wildnis den Thieren auszusezen befohlen habe; daß alles dessen ungeachtet er am Leben geblieben, und durch die seltsameste Fatalität alles würklich begangen habe, was vorher gesagt worden. Nach dieser Entdekung sticht er sich selbst die Augen aus, verläßt den Thron und die Stadt und besänftiget dadurch den Zorn der Götter. Dies ist die Fabel. Wunderbar, höchst seltsam und sehr tragisch. Man kann daraus sehen, daß der Mensch seinem Schiksal nicht entgehen kann, daß auch dem [1174] rechtschaffensten Menschen schrekliche Unglüksfälle betreffen können. Aber alles dieses scheint doch weniger wichtig zu seyn, als die Empfindungen, und die Aeußerung der Leidenschaften und des Betragens der intereßirten Personen bey solchen Umständen. Wir wollen den Oedipus, die Königin, seine Freunde, das Volk hiebey näher kennen lernen, ihre Gedanken, ihre Leidenschaften, ihr Betragen nach den kleinsten Umständen wissen, und dieses scheinet uns bey dieser Sache das Wichtigste zu seyn. Wenn man uns erzählt, daß ein Schiff durch Sturm so lang in der See gehalten worden, bis alle Lebensmittel verzehrt worden; daß der Hunger so sehr überhand genommen, daß das Volk einen Menschen geschlachtet, und sich von dessen Fleisch genährt habe, und daß in dem Augenblik, da der zweyte sollte geschlachtet werden, ein Schiff in der Ferne entdekt worden, das den Unglüklichen Rettung gebracht; so erstaunt man zwar über einen solchen Fall; aber die nähern Umstände zu wissen, das Jammern der Leute zu hören, ihren Berathschlagungen beyzuwohnen, die Empfindungen, Leidenschaften, und das Betragen eines jeden zu sehen, scheinet doch das Wichtigste bey der Sache zu seyn.
Das erste, was der Dichter in Ansehung der Sitten zu beobachten hat, ist, ihnen eine gewisse Größe zu geben. Die Menschen die er handeln läßt, müssen Menschen von der ersten oder obersten Gattung seyn. Nicht eben in Ansehung ihres Ranges und Standes, die ihnen nur eine äußerliche Größe geben, die zwar auch etwas zur Würkung beyträgt, aber den Sachen noch nicht den wahren Nachdruk giebt; sondern Menschen, deren Gemüthskräfte das gewöhnliche Maaß überschreiten. Es giebt unter Menschen vom höchsten Rang kleine schwache Seelen, und unter dem gemeinesten Haufen Männer von großem und starkem Gemüthe. Die Größe in den Sitten ist die Größe der Seele, sowol im Guten, als im Bösen. Sie zeiget sich in durchdringendem Verstand, in starkem männlichen Muth, in kühnen Entschließungen, in Absichten und Begierden, die etwas Großes zum Grunde haben, in gefährlichen oder auf wichtige Dinge abziehlenden Leidenschaften. Im Trauerspiehl müssen wenigstens die Hauptpersonen Menschen seyn, deren Kräfte, von welcher Art sie seyen, große Veränderungen in Absicht auf Glük und Unglük hervorzubringen im Stande sind.
Es scheinet, als wenn einige neuere tragische Dichter das Große in der Heftigkeit der Leidenschaften sezen, die es allein nicht ausmacht. Auch ein Kind, ein schlechter Mensch, eine schwache Frauensperson kann in heftige Leidenschaften gerathen. Aber es können vanæ sine viribus iræ seyn. Ein Kind, das sich über eine Kleinigkeit erboßt, ein nichtsbedeutender Mensch, der mit der größten Heftigkeit eine Kleinigkeit zu erhalten sucht, eine schwache Frauensperson, die sonst in der Welt keine wichtige Rolle spiehlt, aber vor Liebe rasend worden, sind keine tragische Gegenstände. Es ist nicht diese Größe, die wir in den Sitten verlangen.
Man muß uns Menschen zeigen, deren Denkungsart, deren Absichten, deren Triebfedern der Handlungen uns wichtig scheinen, und die im Stand sind, Dinge zu bewürken, die auch in männlichen Gemüthern Furcht oder Bewundrung erweken. Es ist also ganz natürlich, wie wol nicht schlechterdings nothwendig, daß man zum Trauerspiehl Personen vom höchsten Range nimmt. Denn diese haben natürlicher Weise größere Absichten, als geringe Menschen; ihnen sind gemeiniglich keine Kleinigkeiten mehr wichtig; die größern Geschäfte, deren sie gewohnt sind, geben ihnen auch eine größere Denkungsart; ihre Tugenden und Laster, ihre Fehler und ihre Klugheit sind von wichtigern Folgen. Da es aber auch unter den Großen kleine Seelen giebt, und auch an Höfen der Monarchen bisweilen Kleinigkeiten durch sehr verwikelte Intriguen betrieben werden, so hat das Trauerspiehl noch deswegen keine Größe, wenn hohe Personen darin aufgeführt werden; denn auch diese können in ihren Sitten ohne alle Größe seyn.
Die Menschen also, die man uns im Trauerspiehl zeiget, müssen Menschen von einer beträchtlichen moralischen Größe seyn. In ihren Reden und Urtheilen muß sich ein großer Verstand, Kenntniß und Erfahrung der Welt zeigen; in ihren Absichten muß nichts kleines seyn, sondern sie müssen auf Dinge gehen, die kein Mensch von Verstand verachten kann; ihr Gemüth muß eine männliche Stärke haben, ihre Leidenschaften müssen wichtige Folgen versprechen. Dieses sind die zur Größe der Sitten gehörigen Punkte, die wir den Dichtern zu ernsthafter und anhaltender Ueberlegung anheim stellen.
Vielleicht fällt hier Jemanden der Zweifel ein, warum eine solche Größe der Sitten im Trauerspiehl[1175] eben nöthig ist; warum man nicht könnte ernsthafte Handlungen, so wie sie etwa unter einem einfältigen, sanftmüthigen Volke, das keine große Angelegenheiten kennt, so wie uns etwa die Dichter die Menschen des goldenen Zeitalters, oder einer Schäferwelt vorstellen, auf die tragische Bühne bringen. Hierauf können wir anmerken, daß dergleichen Sitten in Trauerspiehlen, die in einer Schäferwelt aufzuführen wären, sich allerdings recht gut schiken würden. Aber in großen politischen Gesellschaften, wo der Charakter und die Handlungen eines Menschen, das Schiksal vieler Tausenden bestimmen können; wo man schon gewohnt ist, große Dinge zu sehen, große Dinge zu begehren, sehr verwikelte Gegenstände zu betrachten; wo man Menschen findet, die großer Dinge fähig sind; wo man Fälle erlebt hat, die von erstaunlichen Folgen gewesen, in einer solchen Welt gehören Sitten von der Größe, wie wir sie beschrieben haben, auf die tragische Bühne, um bey dem Zuschauer ernsthaftes Nachdenken, und starke Empfindungen zu erweken. Die Menschen, welche in großen politischen Gesellschaften leben, sind überhaupt von einer höhern Gattung, als jene im Stande der Natur lebenden; sie nehmen in allem, wo sie ihre Thätigkeit zeigen, einen höhern Schwung; das was unter der Größe ihrer Gattung ist, reizt ihre Aufmerksamkeit nicht. Man muß ihnen also Sitten, die nach ihrer Art groß sind, vorstellen.
Freylich muß der Dichter, der für ein besonderes Volk arbeitet, die Größe der Sitten nach der Denkungsart seines Volks abzumessen wissen. Wer in der Tragödie Nationalgegenstände bearbeitete, der müßte dieses nothwendig beobachten. Es wäre ungereimt, einem Staatsmann, einer kleinen Republik Gesinnungen eines großen Monarchen, oder die Größe der Absichten eines römischen Consuls zu geben. Aber die schönen Künste sind in Absicht ihrer Anwendung nicht in der Verfassung, daß sie auf Nationalbedürfnisse angewendet würden. Daher auch die genaue Abmessung der Größe in den Sitten nicht beobachtet wird.
Bey der Größe der Sitten hat der Dichter sich wol in Acht zu nehmen, daß er nicht ins Uebertriebene oder gar ins Abentheuerliche falle; eine falsche Größe, die ins Kleine und so gar ins Abgeschmakte ausartet. Die Gränzen, an denen das Große aufhört und ins Uebertriebene fällt, lassen sich fühlen, aber nicht abzeichnen. Hier helfen keine Regeln; ein gesunder Verstand und eine scharfe Beurtheilungskraft des Dichters, können allein ihn vor diesem Fehler bewahren. Wenn er nicht merkt, wo die Kühnheit an die Tollheit, der Zorn an die Raserey, Zuversichtlichkeit an Großsprecherey, Verstand an Spizfündigkeit, Großmuth an Schwachheit gränzt, so kann ihn niemand vor Ausschweiffungen bewahren. Das Trauerspiehl erfodert einen Mann, der selbst groß in seinen Sitten ist. Für junge, in der Welt unerfahrne, in ihrer Lebensart eingeschränkte, mit bloßer Schulkenntnis versehene Leute, für solche, die mehr Einbildungskraft als Verstand haben, die von Kleinigkeiten großes Aufheben machen, schikt sich der Cothurn nicht, und wenn sie auch alle Regeln der Critik vollkommen inne hätten. Dazu gehören Männer, die groß denken, groß fühlen und selbst groß zu handeln im Stande sind.
Nach der Größe in den Sitten kommt ihre Wahrheit in Betrachtung, nicht eben die historische sondern die poetische. Was jede Person redt und thut, muß in ihrem Charakter und in den Umständen gegründet seyn; man muß die Möglichkeit, daß sie so denken, so empfinden und so handeln einsehen können, sonst fällt die Täuschung und die Theilnehmung, die zum Drama so nöthig sind, ganz weg. Man muß hiebey, wie Aristoteles angemerkt hat, auf zwey Dinge sehen, die zur Wahrheit der Sitten gehören; auf das Nothwendige und auf das Schikliche. Das Nothwendige in den Sitten, ist wie alles andre Nothwendige in den Künsten, davon der besondere Artikel darüber nachzusehen, so wie auch über das Schikliche besonders gehandelt worden.2
Noch eine Hauptanmerkung über die Sitten ist, daß dieselben mannigfaltig und mit guter Wahl gegen einander gestellt oder contrastirt seyn müssen. Die Verschiedenheit in den Sitten bringt Lebhaftigkeit in die Handlung, indem sie Schwierigkeiten und Bestrebungen hervorbringt, und indem Gegeneinanderstellung die Charaktere deutlicher bezeichnet.
Wir kommen nun auf die Betrachtung der tragischen Schreibart, die ohne Zweifel eines der vornehmsten Stüke des Trauerspiehls ist. Denn durch die Fehler derselben kann ein sonst gutes Stük verdorben, und durch ihre Vollkommenheit ein schlechtes Stük erträglich werden. Von der Wichtigkeit der Schreibart oder des Ausdruks überhaupt, ist an einem andern Orte gehandelt worden3. Hier ist [1176] sehr leicht einzusehen, daß der Dichter eine seiner vornehmsten Angelegenheiten aus der wahren tragischen Schreibart machen müßte. Er muß auf zwey Dinge die genaueste Aufmerksamkeit haben. Auf den Charakter der Person, die er reden läßt, und auf den Gemüthszustand, darin sie ist.
Der Charakter bestimmt einen großen Theil dessen, was zum Ausdruk gehört. Ein kalter ruhiger Mensch, der dabey standhaft und unbeweglich ist, spricht in einem ganz andern Ton, und in andern Ausdrüken, als ein hiziger, und unbeständiger Mensch. Der zaghafte schwache Mensch ganz anders, als der kühne und entschlossene. Nichts ist schweerer, als den Ton, der jedem Charakter eigen ist, zu treffen, und hierin wird der Dichter seine Stärke oder Schwäche am deutlichsten an den Tag legen.
Eine gesezte, nachdrükliche und kurze Art zu reden, schikt sich für ernsthafte, offene und redliche Charaktere; eine lebhafte, hinreißende oder etwas gewaltsame, etwas mehr wortreiche, für hizige Temperamente. Durch besondere Regeln läßt sich das Sittliche der Schreibart nicht wol bestimmen. Die beste Gelegenheit diese Materie zu studiren, giebt Homer. Denn bey ihm, vornehmlich in der Ilias, findet man die größte Mannigfaltigkeit der Charaktere, und zugleich die vollkommenste Muster der Uebereinstimmung des Sittlichen im Ausdruk mit dem Charakter. Wir müssen bey allgemeinen Bemerkungen stehen bleiben.
Da im Trauerspiehl ein ernsthaftes Intresse alle Personen beschäftiget, und da allezeit eine gewisse Größe in ihren Sitten seyn muß, so muß auch überhaupt die Schreibart diesen beyden Dingen angemessen seyn. Ueberhaupt muß mehr Verstand, als Einbildungskraft darin herrschen. Wiz und Lieblichkeit in den Bildern und Gleichnisse, schiken sich nicht zum tragischen Ausdruk; denn es muß schlechterdings nichts gesuchtes, nichts was den Dichter sehen läßt, darin seyn. Die handelnden Personen sind allzusehr mit dem Interesse der Handlung beschäftiget, als daß sie den Ausdruk suchen sollten.
Bey dieser weisen Einfalt muß der Ausdruk edel seyn; weil die Sitten so sind; edel aber nicht hochtrabend. Niemand sucht in seinen Reden weniget vornehm zu thun, als würklich vornehme und großdenkende Menschen. Sie verachten den äußerlichen Schimmer überall, und also auch in ihren Reden. Sie sind sowol mit Beywörtern, als mit Bildern sparsamer, als andre Menschen, weil in jeder Sache das Wesentliche ihnen hinlängliches Licht giebt, und weil sie den geraden Ausdruk mehr, als gemeine Menschen in ihrer Gewalt haben. Sie haben nicht nöthig einen Gedanken, aus Furcht sich nicht bestimmt genug auszudrüken, durch mehrere Redensarten zu wiederholen, weil sie ihn gleich das erstemal bestimmt auszudrüken wissen. Bey Kleinigkeiten halten sie sich nicht auf, folglich sind sie in ihren Reden nicht so ausführlich, als geringere Menschen, am allerwenigsten sind sie in ihrem Ausdruk übertrieben. Das Große ist ihnen groß, nicht ungeheuer, in bedenklichen Fällen drüken sie sich ernsthaft, aber nicht zitternd aus, das Schöne ist ihnen nicht gleich fürtreflich, und das Wiedrige nicht gleich zerstöhrend. Alles dieses gehört zu dem edlen tragischen Ausdruk.
In Absicht auf die Leidenschaften hat der tragische Dichter den Einfluß jeder derselben auf die Sprache auf das sorgfältigste zu studiren. Da von der Sprache der Leidenschaften in einen besondern Artikel gehandelt worden, so können wir uns hier darauf beziehen.
Endlich ist auch das Mechanische des Ausdruks zu bedenken. Es scheinet doch, daß die gebundene Schreibart dem Trauerspiehl einen schiklichern Ton gebe, als die ungebundene, wiewol wir diese eben nicht schlechterdings verwerfen wollen. Nur ist dieses gewiß, daß ein guter leichtfließender Vers ungemein viel zur Kraft des Inhalts beyträgt. Jeder gereimte Vers, besonders aber der alexandrinische, scheinet etwas zu kleines für die Hoheit des Trauerspiehls zu haben. Die Alten haben nicht immer einerley Versart gebraucht, und besonders Euripides hat damit öfters abgewechselt. Die Abwechslung des Schnellen und Langsamen scheint insonderheit im Trauerspiehl ganz nothwendig zu seyn.
Von den Sittensprüchen, als dem vierten Hauptpunkt sagen wir hier nichts, weil dieses an einem besondern Orte ausgeführt worden4. Auch von den Veranstaltungen, als dem fünften, ist an seinem Orte gehandelt worden5. Das sechste Stük aber, nämlich die Musik, hat bey unserm Trauerspiehl gar nicht statt, weil unsre Tragödien nicht von Musik begleitet werden. Die griechische Tragödie [1177] aber wurde so wie unsre Oper durchaus in Musik gesezt. Dieses erhellet deutlich aus einer Frage die Aristoteles in seinen Aufgaben aufwirft6. Was aber die Declamation betrift, davon ist an einem andern Orte gesprochen worden.7
Fassen wir nun alles, was zum vollkommen Trauerspiehl gehört, kurz zusammen, so zeiget sich, daß folgende wesentliche Dinge dazu gehören. Die Handlung muß ganz und vollständig seyn von ernsthaftem Inhalte, ein einziges wichtiges Interesse muß darin statt haben und sie muß eine eingeschränkte Größe haben: alles muß darin zusammen hangen, es muß nichts geschehen, das den Haupteindruk nicht vermehrt, nichts davon man den Grund nicht einsieht. Alles muß wolgeschlossen, ohne Mangel und ohne Ueberfluß seyn. Der Dichter muß uns die Hauptperson keinen Augenblik entziehen, es muß nichts geschehen, das die Handlung unvollkommen macht. Die Verwiklungen müssen nicht zu künstlich und die Auflösungen nicht wiedernatürlich, nicht gewaltsam seyn. Die Sitten der Personen müssen groß und edel seyn, und in den Charaktern eine hinlängliche Mannigfaltigkeit seyn. Die Leidenschaften müssen stark aber nicht übertrieben und den großen Sitten anständig seyn.
Die Reden müssen überhaupt den Sitten und den Leidenschaften angemessen seyn. Es muß nichts gesagt werden, was nicht zur Sache gehört, am wenigsten etwas, das den Eindruk schwächt, (ein Fehler darin Shakespear oft verfällt,) Ton und Ausdruk, müssen für jeden Charakter, und für jede Leidenschaft besonders abgepaßt seyn. Die Sittensprüche müssen wichtig seyn, und ohne alle zubemerkende Veranstaltung von selbst aus der Empfindung entstehen.
Ueber den Ursprung des Trauerspiehls ist viel Fabelhaftes von den Alten geschrieben, und von den Neuern ohne Ueberlegung und bis zum Ekel wiederholt worden. Die gewöhnliche Erzählung, da man ihren Anfang von des Thespis Karre macht, und denn so, wie Horaz fortfährt, ist die gewöhnlichste, aber gewiß fabelhaft. Der Mensch hat eine natürliche Begierde Zeuge von großen und ernsthaften Begebenheiten zu seyn, die Menschen bey denselben handeln und leiden zu sehen. Darin liegt der erste Keim vom Ursprung des Trauerspiehls, das aus eben diesen Grund älter, als die Comödie scheint.
Aller Vermuthung nach, hat dieses das tragische Schauspiehl bey mehrern Völkern, ohne daß eines die Sache von dem andern abgesehen habe, veranlasset. Man muß also eben nicht glauben, daß die Griechen es erfunden haben. Aber sehr alt scheinet es bey ihnen zu seyn. Stanley führt in seinen Anmerkungen über den Aeschylus eine Stelle aus einem alten Scholiasten an, welcher sagt, daß zu des Orestes Zeiten ein gewisser Thomis zuerst dramatische Spiehle den Griechen sehen lassen, ὃς πρῶτος ἐξεῦρε τραγῳδικὰς μελῳδἰας Suidas nimmt für ausgemacht an, daß Thespis der sechszehnte in der Zeitfolge gewesen sey; für den ersten giebt er einen gewissen Epigenes aus Sicyon an, der mehr als hundert Jahr vor dem Thespis gestorben.
Obgleich nach der gewöhnlichen Erzählung Aeschylus der erste gute Trauerspiehler gewesen, so nennt Suidas Stüke, die den Phrynichus, einen berühmten Dichter zum Urheber hätten, und auch Eusebius nennt andre vor jenen. Plato sagt ausdrüklich, daß die Tragödie lange vor Thespis im Gebrauch gewesen8. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die feyerliche Begräbnis großer Helden das Trauerspiehl veranlasset haben, da die vornehmsten Thaten des Verstorbenen dabey vorgestellt worden. Wir finden, daß verschiedene Dichter bey dem Grabe des Theseus um den tragischen Preis gestritten haben. Diese Art des Wettstreites hat sich lang unter den Griechen erhalten. Artemisia hat bey dem Begräbnis ihres Gemahls Mausolus Wettstreite zu seinem Lobe halten lassen, die vermuthlich aus Tragödien bestanden haben; denn A. Gellius9 sagt, daß noch zu seiner Zeit eine Tragödie, Mausolus, von dem Theodektes, der einer der Streiter war, vorhanden gewesen sey. Es herrscht also in der Geschichte dieses Gedichts große Ungewißheit. Und wie soll man folgende Stelle des Aristoteles verstehen? »Dieser (Aristarchus) war ein Zeitverwandter des Euripides, welcher zuerst dem Drama, die izige Form gegeben.«10 Doch stimmen die Nachrichten und Muthmaaßungen darin überein, daß die Gesänge des Chors, so wie im Trauerspiehl, also auch in andern Gattungen des Drama ursprünglich der wesentlichste Theil desselben gewesen. Deswegen [1178] wurd die zwischen den Chören vorkommende Handlung Episodium genennt. Aristoteles sagt, daß die ältesten Chöre von Satyren gesungen worden, und Casaubonus11 führt eine Stelle aus dem Didymus an, aus welcher erhellet, daß die Chöre des Trauerspiehls ursprünglich Dithyramben, oder Lieder auf den Bacchus, abgesungen haben. Wenn man sich hiebey erinnert, daß die Alten die Geschichten einiger Götter bey gewissen heiligen Festen, durch allegorische Handlungen unter feyerlichen Gesängen vorgestellt haben, wie in Aegypten die Geschichte des Osiris und der Isis, in Syrien die Geschichte der Venus und des Adonis, in Griechenland die Geschichte der Ceres und Proserpina, imgleichen des Bacchus, und noch dabey bedenkt, daß die Trauerspiehle sowol als die andern dramatischen Spiehle zu den feyerlichen Handlungen einiger heiligen Feste gehört haben; so wird es wahrscheinlich, daß das Drama überhaupt in seinem Ursprung nichts anders gewesen, als die Vorstellung einer geheimen Geschicht aus der Götterhistorie. Nach vielen Veränderungen hat sich hernach, wie Aristoteles ausdrüklich berichtet, seine ursprüngliche Natur verlohren, und ist das geworden, was es zu seiner Zeit gewesen.12 Und hieraus läßt sich auch begreifen, woher die so große Verschiedenheit in den alten Nachrichten über den Ursprung des Trauerspiehls entstanden. Es ist aber der Mühe nicht werth hierüber weitläuftiger zu seyn. Vielleicht läßt sich der anscheinende Wiederspruch der sich in den Nachrichten der Alten findet, auch dadurch heben, daß man annihmt, die Tragödie sey in ihren Ursprung blos ein Gesang von traurigem Inhalt gewesen, dadurch eine Art Rhapsodisten große Unglüksfälle fürs Geld besungen haben. Lucianus13 führt ein altes Sprüchwort an, das dieses zu bestätigen scheint, und aus welchem abzunehmen ist, daß einige trojanische Flüchtlinge, vermuthlich an einem Orte, da sie sich nach Zerstöhrung ihrer Stadt niedergelassen, einen Tragödiensänger gemiethet hatten, um sich die Zeit zu vertreiben, und daß dieser, ohne zu wissen, wer sie sind, die Trauergeschicht von der Zerstöhrung Troja gesungen habe.
Aus den Trauerspiehlen der Griechen, die wir noch haben, läßt sich sehen, daß sie ihre lezte Form erst zu den Zeiten des Sophokles bekommen hoben. Denn die Trauerspiehle des Aeschylus, der kurz vor dem Sophokles gelebt hat, sind gegen das, was seine Nachfolger auf die Bühne gebracht haben, noch rohe, blos aus dem groben gearbeitete Versuche, aber Versuche, an denen bereits die Hand eines großen Meisters zu sehen ist.
Man hält durchgehends dafür, daß das Trauerspiehl, so wie Sophokles es bearbeitet hat, in der höchsten Vollkommenheit, deren es fähig ist, erscheine. Die Neuern haben auch, so weit ihr Genie und der Geschmak es ihnen verstattet haben, diese Form, doch mit Ausschließung der Chöre, beybehalten. Ob durch diese Weglassung das Trauerspiehl gewonnen oder verlohren, wollen wir nicht untersuchen, da man izt durchgehends darin übereinkommt, daß im Trauerspiehl nicht mehr soll gesungen werden, die Chöre aber den Gesang nothwendig machen. Darin bilden sich einige neuere ein, dem Trauerspiehl Vortheile verschaft zu sehen, daß der Raum zwischen den Aufzügen, der ehemals durch die Gesänge des Chors ausgefüllt worden, izt besser dazu angewendet wird, daß die Handlung hinter der Bühne inzwischen fortrüket, welches bey den Alten nicht geschehen. Daß aber dieses eine Verbesserung sey, wird nicht jedermann eingestehen. Vielen kommt es, als ein elendes Hülfsmittel vor, die Mängel in der Anordnung der Fabel zu bedeken. Es wäre zu versuchen, was für eine Würkung es thäte, wenn zwischen den Aufzügen Chöre erschienen, die durch feyerliche Gesänge, einige Eindrüke des vorhergegangenen Aufzuges, noch tiefer einprägten. Freylich sind dergleichen Aufzüge, da wir gar zu sehr alle feyerliche öffentliche Handlungen eingehen lassen, etwas fremde.
Das griechische Trauerspiehl kommt uns in Vergleichung des heutigen, besonders des französischen, vor, wie die griechischen Statuen eines Phidias, gegen die von Pigalen, oder gegen die gemahlten Bilder eines Watteau. Jenes zeiget bey der edelsten Einfalt und in seiner nakenden Gestalt eine Vollkommenheit, eine Größe, die sich der ganzen Seele bemächtiget; diese scheinen durch Lebhaftigkeit der Gebehrden und der Stellungen, und durch redende Minen schön. Aber diese Gebehrden und Reden, druken ganz gemeine und alltägliche Dinge aus, die im Gemüthe nichts, als die Lebhaftigkeit des Ausdruks [1179] zurüke lassen. Daher wir den Verlust so vieler hundert griechischer Trauerspiehle sehr bedauren. Denn die Griechen haben eine große Menge tragischer Dichter gehabt, deren Verzeichniß beym Fabricius14 zu finden. Die Anzahl der Stüke, deren die Alten erwähnen, beläuft sich weit über tausend, davon kaum noch dreyßig übrig sind, welche den Aeschylus, den Sophokles und den Euripides zu Verfassern haben.
Die Römer waren, wie es scheint, auch in diesem Stük weit hinter den Griechen zurük geblieben. Die einzigen römischen Trauerspiehle, die wir unter dem Namen des Seneka noch haben, sind noch weiter hinter der Vollkommenheit der griechischen Stüke zurük, als die guten Stüke der Neuern. Doch scheint es, daß sie auch gute Trauerspiehle gehabt, in deren Vorstellung man sich mit großer Gewalt gedrängt hat. »Suche reich zu werden, sagt Horaz; es sey mit Recht oder Unrecht, damit du nur die Trauerspiehle des Pupius in der Nähe sehen könnest.15« Es scheinet, daß unter den Neuern die Spanier zuerst das Trauerspiehl wieder nach der guten Art der Alten einzuführen gesucht haben. Ein spanischer Schriftsteller16 versichert, daß schon im Jahr 1533 Fernand Peres de Oliva zwey gute Trauerspiele, die Rache des Agamemnon und die betrübte Hekuba geschrieben habe. In Frankreich sind die ersten guten Trauerspiehle von P. Corneille auf die Bühne gebracht worden, und gleich nach ihm hat Racine sie zu der Vollkommenheit gebracht, die sie nachher in diesem Lande nicht scheinen überschritten zu haben; wie wol noch nach ihm viele, besonders aber Crebillon und Voltaire viel gute Stüke geliefert haben, die, wenigstens in einzelen Scenen, selbst gegen die griechischen nicht zu verwerfen sind.
Das größte tragische Genie unter den Neuern, vielleicht auch überhaupt, haben die Engländer an dem bewundrungswürdigen Shakespear gehabt, dem es aber bey diesem großen Genie an gereinigten Geschmak gefehlt hat. In seinen besten Stüken kommen neben Scenen von der höchsten tragischen Vollkommenheit, solche die ins Abentheuerliche fallen. In Deutschland scheinet eine schon ziemlich helle Dämmerung diesem Theile der Kunst bald einen vollen Tag zu versprechen.
1 | S. In dem XI Buch. |
2 | S. ⇒ Nothwendig; ⇒ Schiklich. |
3 | S. ⇒ Schreibart. |
4 | S. ⇒ Denkspruch. |
5 | S. ⇒ Scene, ⇒ Verziehrung der Schaubühne. |
6 | Arist. Problem. XXVII. |
7 | S. ⇒ Vortrag. |
8 | S. Plat. Alcib. II. gegen das Ende. |
9 | L. X. c. 17. |
10 | Οὗτος δε ᾽Αίἰςαχος σύγχρονὀς ἦν Εὔριπιδη, ὅς πρῶτος ἐις τὁ νῦν μῆκος τα δρᾶματα κατἐοσεν. |
11 | De satyrica poesi. |
12 | Πολλἀς μεταβολἀς μεταβαλλοσα ἡ τραγωδἱα ἰωαυσατο, ἐπει ἐσχε τἠν ἐαυτῆς φὐσω. |
13 | Luc. in den Fischen. |
14 | Bibl. Gr. L. II. c. 19. |
15 | Hor. Ep. I. 1, 65. |
16 | Dom Augustin de Montianoy Luyando, dessen Schrift unter dem Titel: Dissertation sur les tragedies espagnoles, ins Französische übersezt worden. |
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