Horātius [2]

[547] Horātius (Horaz), Quintus H. Flaccus, einer der hervorragendsten römischen Dichter, geb. 8. Dez. 65 v. Chr. zu Venusia in Apulien, gest. 27. Nov. 8 v. Chr. in Rom, war der Sohn eines Freigelassenen, der ihm in Rom trotz seiner bescheidenen Mittel eine gute Ausbildung geben ließ. Zur Fortsetzung seiner Studien nach Athen gegangen, schloß sich H., als nach Cäsars Ermordung 44 Brutus dorthin kam, der Sache der Freiheit an. Nach der Niederlage bei Philippi, wo er als Kriegstribun mitfocht, amnestiert, begab er sich nach Rom, wo er sich zu seinem Unterhalt eine Stelle als quästorischer Schreiber kaufte. Durch Gedichte kam er bald in Verkehr mit den angesehenen Dichtern Vergil und Varius, die ihm die Bekanntschaft des Mäcenas verschafften. Dieser gewann H. so lieb, daß er ihn in seinen vertrauten Umgang zog und durch Schenkung eines Landguts im Sabinerland in eine sorgenfreie Lage versetzte, so daß sich H. seinen poetischen Neigungen ungestört widmen konnte. Auch Augustus schätzte ihn hoch und wollte ihn als Privatsekretär in seine Dienste ziehen; doch H. wies den Antrag unter dem Vorwand schwacher Gesundheit ab. Die höchste Ehre ward ihm zuteil, als ihn Augustus im J. 17 mit der Abfassung des Festgedichtes zu den Säkularspielen betraute. – Wir besitzen von H. 4 Bücher Oden (»Carmina«, Lieder) nebst dem sogen. »Carmen saeculare«, ein Buch sogen. Epoden (eigentlicher Titel »Iambi«), 2 Bücher SatirenSermones«) und 2 Bücher BriefeEpistulae«). Davon ist das erste Buch der Satiren um 35 herausgegeben, mm 30 das zweite nebst den Epoden, um 24 die drei ersten Bücher Oden, 20 das erste Buch der Episteln, um 13 das z. T. im Auftrag des Augustus gedichtete vierte Buch Oden, zuletzt das zweite Buch der Episteln. Von diesen wird die letzte, an die Pisonen gerichtete, die in zwangloser Folge eine Reihe ästhetischer Fragen der Literatur, besonders des Dramas, behandelt, als »Ars poetica«, oft als selbständiges Werk angeführt. Die Epoden sind in den Formen und z. T. in dem Ton des Archilochos gedichtet. Mit seinen Oden hat sich H. das Verdienst erworben, die Kunstformen der äolischen Lyrik, namentlich des Alkäos und der Sappho, in der römischen Literatur heimisch gemacht zu haben. Allerdings reicht seine poetische Begabung nicht an seine großen Vorbilder heran; Gefühl und Phantasie werden bei ihm vom Verstand überwogen, und die Vorzüge seiner lyrischen Dichtungen, in denen er sich von Nachbildungen griechischer Vorlagen allmählich zu selbständigern Schöpfungen durcharbeitete, bestehen nicht in der Wärme der Empfindung und Tiefe der Gedanken, sondern in der Klarheit der Anlage, der Feinheit und Gewandtheit des Ausdrucks, der Bestimmtheit, Reinheit und Schönheit der Sprache und der Strenge des Versbaues. Am vollendetsten sind die Lieder, in denen er, seiner Natur folgend, leichte und heitere Stoffe behandelt; wo sich sein Ausdruck zur Erhabenheit steigert, fühlt man stets das Gekünstelte, Berechnete heraus. Am eigenartigsten zeigt sich sein Wesen in den Satiren und in den Episteln, die'sich von erstern eigentlich nur durch die Briefform und größere Milde der Lebensanschauung unterscheiden, sonst im wesentlichen dieselbe Tendenz verfolgen, seine persönlichen Erfahrungen und Meinungen namentlich über soziale und literarische Verhältnisse in ungezwungener, doch keineswegs kunstloser Form, und in einem sich der Sprache des gewöhnlichen Lebens nähernden Stil zu besprechen. War auch sein Vorbild in diesen »Plaudereien«, wie er auch die Episteln gelegentlich nennt, Lucilius, nach dessen Vorgang er auch den Hexameter als metrische Form wählte, so gebührt ihm doch das Verdienst, diese Gattung zur eigentlichen Kunstform ausgebildet zu haben. Schon früh wurden H.' Gedichte zum Gegenstand gelehrter Erklärung gemacht wegen der darin berührten Verhältnisse und Personen. Erhalten sind die Scholien des Porphyrio (s. d.), denen wir wertvolle Nachrichten verdanken; aus später Zeit stammen die Scholien des sogen. Acron. Neben Vergil hat H. unter allen römischen Dichtern den größten Einfluß auf die poetische Literatur der modernen Völker geübt, und in welchem Maß er fort und fort die Gelehrten beschäftigt, bezeugt die unübersehbare Anzahl der Gesamt- und Einzelausgaben sowie Übersetzungen seiner Werke und der ihm gewidmeten Schriften.

Gesamtausgaben: von Bentley (Cambridge 1711 u. ö., zuletzt Berl. 1869); Orelli (4. Aufl. von Hirschfelder-Mewes, Berl. 1886 ff.; kleine Ausg., 6. Aufl. von Hirschfelder, das. 1884); Dillenburger (7. Aufl., Bonn 1881); Keller u. Holder (Leipz. 1870; 2. Ausg. 1899 ff., 2 Bde.); Lehrs (»mit Rücksicht auf die unechten Stellen hrsg.«, das. 1869); Kießling-Heinze (4. Aufl. 1901 ff.). Textausgaben: von Meineke (3. Ausg., Berl. 1875), Haupt (4. Aufl. von Vahlen, Leipz. 1881), L. Müller (3. Aufl., das. 1897), Hertz (Berl. 1892) u. a. Übersetzungen: von Voß (Heidelb. 1816, 2 Bde.; neueste Ausg., Leipz. 1873), Obbarius (3. Ausg., Paderb. 1872), Strodtmann (3. Ausg., Leipz. 1860), Teuffel und Weber (Stuttg. 1869), Binder (neue Ausg., Berl. 1884) u. a. –Sonderausgaben der Satiren: von Heindorf (Bresl. 1815; 3. Aufl. von Döderlein, Leipz. 1859), mit Übersetzung und Kommentar von Kirchner u. Teuffel (das.[547] 1854–57, 2 Bde.); mit Übersetzung von Döderlein (das. 1860), von Peerlkamp (Amsterd. 1863), Krüger (mit den Episteln; 14. Aufl., das. 1899 ff.), L. Müller (mit den Episteln, Wien 1893); Übersetzungen: von Wieland (das. 1786, 2 Bde.; neue Ausg., Bresl. 1881), v. Nordenflycht (Bresl. 1881), Bardt (2. Aufl., Berl. 1900), E. Vogt und F. van Hoffs (2. Aufl., das. 1904);-der Briefe: von Obbarius (Leipz. 1837 bis 1847), Döderlein (mit Übersetzung, das. 1856–58), Ribbeck (Berl. 1869); Übersetzungen: von Wieland (Dess. 1782; neue Ausg., Bresl. 1883), v. Nordenflycht (Bresl. 1874), List (Erlang. 1883) u. a.;-der Oden (und Epoden): Peerlkamp (2. Aufl., Amsterd. 1862), Nauck (14. Aufl., Leipz. 1894), Rosenberg (2. Aufl., Gotha 1883), L. Müller (Petersb. 1900); Übersetzungen: von Ramler (Berl. 1800, 2. Aufl. 1818), Ludwig (3. Aufl., Stuttg. 1885), v. Nordenflycht (Berl. 1866), Geibel (»Klassisches Liederbuch«, 50 Oden, 6. Aufl., das. 1896), Staedler (gereimt, das. 1900) u. a. Vgl. Teuffel, Über H. (Tübing. 1868); Jacob, H. und seine Freunde (2. Aufl., Berl. 1889); Walckenaer, Histoire de la vie et des poésies d'Horace (2. Aufl., Par. 1858); Desvergers, Vie d'Horace (das. 1855); L. Müller, H., eine literarhistorische Biographie (Leipz. 1880); Detto, Horaz und seine Zeit (2. Aufl., Berl. 1891); Aly, H., sein Leben und seine Schriften (Gütersloh 1893); Campaux, Histoire du texte d'Horace (Par. 1891); Cartault, Etudes sur les satires d'Horace (Par. 1899); Kettner, Die Episteln des H. (Berl. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 547-548.
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