[34] Irrtum, jedes falsche Urteil, insofern es durch den Schein für wahr gehalten wird. Der I. ist entweder ein formaler, insofern das Urteil den Gesetzen des Denkens, oder ein realer, materieller, insofern dasselbe der Natur des Gegenstandes widerspricht. Jener wird durch genaue Kenntnis und richtige Anwendung der Denkgesetze, dieser durch besonnene Prüfung und unparteiische Untersuchung vermieden. Auf dem Gebiete des Zivilrechts setzt der I. die Unkenntnis einer Abweichung des Willens von der Erklärung voraus, d. h. die abgegebene Erklärung entspricht, ohne daß der Erklärende es weiß, nicht dem von ihm wirklich Gewollten. Der Grund dieser Divergenz von Wille und Erklärung kann in einem Sichversprechen, Sichverschreiben, Sichvergreifen, in einem Verwechseln von Sachen oder Personen etc. liegen. Rechtlich von Bedeutung, d. h. die Möglichkeit der Anfechtung der irrtümlich vorgenommenen Handlung oder Willenserklärung bietend, sind nachgenannte Arten des Irrtums, sogen. erheblicher I. 1) der I. im Erklärungsakte, d. h. die Fälle, in denen der Erklärende eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte, z. B.: A bietet 1000 Mk., während er nur 100 Mk. sagen wollte; 2) der sogen. Verlautbarungsirrtum, d. h. der Erklärende verbindet mit seiner Erklärung eine falsche Vorstellung, indem er beispielshalber unter Doppelkronen ein Zweimarkstück statt ein Zwanzigmarkstück versteht; 3) der I. über den sachlichen Inhalt der Erklärung, d. h. die Fälle, in denen der Erklärende sich über Gegenstand und Natur des gewollten Geschäfts und über die Identität der Person im I. befindet, z. B.: A will für den vereinbarten Preis die Sache nur vermieten, während B glaubt, sie hierfür zu kaufen, oder A will ausdrücklich nur mit dem B einen Vertrag schließen, schließt ihn aber mit C, den er für den B hält; 4) der I. über Eigenschaften der Person oder Sache und zwar nur über solche, die im Verkehr als wesentlich angesehen werden, z. B.: A dingt den B als Pferdeknecht in der Meinung, er habe bei der Kavallerie gedient, während er bei der Infanterie gewesen, oder A hält die Figur für silbern, während sie nur neusilbern ist. In allen diesen Fällen ist das betreffende Rechtsgeschäft jedoch nur anfechtbar, wenn der Irrende seine Erklärung bei Kenntnis der wirklichen Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde. Der sogen. Rechtsirrtum, d. h. der I. über Bestimmungen des konkreten Rechts, berechtigt nicht zur Anfechtung (ignorantia iuris nocet), wohl aber der I. über ein konkretes Rechtsverhältnis. Gleich gültig ist nach dem Rechte des Bürgerlichen Gesetzbuches, ob der I. entschuldbar ist oder nicht. Unter den gleichen Voraussetzungen wie die obengenannten vier Fälle des Irrtums kann auch eine Willenserklärung angefochten werden, die durch die zur Übermittelung benutzte Person oder Anstalt (Bote, Telegraphenanstalt) unrichtig übermittelt wurde. Die Anfechtung hat unverzüglich, d. h. unter vernünftiger Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse ohne unbegründetes Zögern, zu geschehen. Einem Abwesenden gegenüber ist die Anfechtung nur von Wirkung, wenn sie unverzüglich geschehen und ihm auch zugegangen ist. Gleichviel ob der Anfechtungsberechtigte Kenntnis von dem Anfechtungsgrund hatte oder nicht, ist die Anfechtung ausgeschlossen, wenn seit Abgabe der auf I. beruhenden Willenserklärung 30 Jahre verstrichen sind. Der Erklärende hat, falls die Erklärung einem andern gegenüber abzugeben war, diesem, andernfalls jedem Dritten den Schaden zu ersetzen, den der Andre oder der Dritte dadurch erleidet, daß er auf die Gültigkeit der Erklärung vertraute (sogen. negatives Vertragsinteresse; dieses kann in positivem Schaden [aufgewendeten Kosten] oder entgangenem Gewinn bestehen). Kannte der Geschädigte den Anfechtungsgrund oder hat er ihn nur aus Fahrlässigkeit nicht gekannt, so tritt keine Schadenersatzpflicht ein. Im Erbrecht ist der I. von besonderer Bedeutung, 1) wenn der Erbe die Erbschaft angenommen hat, weil er über den Berufungsgrund sich im I. befand; in diesem Falle gilt die Annahme einfach nicht als erfolgt (§ 1949), und 2) wenn der Erblasser über den Inhalt seiner Erklärung im I. war oder eine Erklärung dieses Inhalts überhaupt nicht abgeben wollte und bei Kenntnis der Sache auch nicht abgegeben hätte, in welchem Falle die Verfügung angefochten werden kann (§ 2078). Über I. bei der Eheschließung s. Eherecht, S. 405. Auf dem Gebiete des Strafrechts schließt ein I. in tatsächlicher Beziehung die Zurechnung zum Vorsatz aus (Deutsches Strafgesetzbuch, § 59; Österreichisches Strafgesetzbuch, Nr. 2 e), mag er sich auf ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes beziehen (z. B. der Täter wußte nicht, daß die weggenommene Sache einem andern gehörte), mag er einen die Strafbarkeit erhöhenden Umstand betreffen (z. B. der Täter wußte nicht, daß der Erschlagene sein Vater war). Derselbe Satz findet Anwendung, wenn der tatsächliche I. auf einem Rechtsirrtum beruht (z. B. der Täter hielt die weggenommene Sache für seine eigne, weil er die privatrechtlichen Grundsätze über den Eigentumsübergang beim Kauf mißverständlich angewendet hat). Bei Bestrafung fahrlässig begangener Handlungen gilt diese Bestimmung nur insoweit, als die Unkenntnis selbst nicht durch Fahrlässigkeit[34] verschuldet ist (wer fahrlässig annimmt, das von ihm auf einen andern abgedrückte Gewehr sei nicht geladen, kann, wenn dieser tödlich getroffen wird, nicht wegen vorsätzlicher, wohl aber wegen fahrlässiger Tötung bestraft werden). Einflußlos bleibt dagegen nicht nur der I. über die Strafbarkeit, sondern auch nach der heute überwiegenden, wenn auch nicht unbestrittenen Ansicht der I. über die Rechtswidrigkeit der Handlung; die Strafbarkeit wird also durch Unkenntnis des Verbots nicht ausgeschlossen. Doch gilt dieser Satz nicht ausnahmslos. Vgl. Zitelmann, I. und Rechtsgeschäft (Leipz. 1879); Gradenwitz, Anfechtung und Reurecht beim I. (Berl. 1902); Schloßmann, Der I. über wesentliche Eigenschaften der Person und der Sache nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (Jena 1903); Staudingers »Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch«, 2. Aufl.; allgemeiner Teil von Löwenfeld u. Riezler, S. 345 ff. (Münch. 1904).