Oratōrium [2]

[94] Oratōrium (lat., »Beetsaal«), Name einer halb dramatischen, halb epischen und lyrisch-kontemplativen Kompositionsgattung, deren Name gewöhnlich auf den Ort der Ausführung (1600) des ersten Werkes dieser Art, der »rappresentazione«, d.h. der szenischen Handlung »Anima e corpo« von E. del Cavaliere (s. d.), den Betsaal des Filippo Neri in Rom, zurückgeführt wird. Übrigens waren Stücke ähnlichen moralisierenden Inhalts (Mysterien) viel älter, und nur die Anwendung des »stile rappresentativo« hebt Cavalieris Werk als etwas Neues ab und stellt es als Zwillingsschwester neben die Oper. Gerade darum ist es aber sehr naheliegend, den Namen »Stile oratorio«, der 1636 zuerst bei Heinrich Schütz vorkommt, für eine Nebenform von »Stile recitativo« zu halten,[94] die in der Folge für geistliche Werke bevorzugt wurde. Die ersten Oratorien waren wirklich szenische Aufführungen mit symbolischer Darstellung der Begriffe oder, wo es sich um die Darstellung einer biblischen Geschichte (azione sacra) handelte, mit agierenden Personen, so bei Kapsberger, Landi u.a. Erst bei Carissimi (1604–74) tritt die Partie des Erzählers (historicus) ein, und die szenische Ausführung fällt weg. Ihre Vollendung erhielt die Kunstform des Oratoriums durch Händel, dessen »Trionfo del tempo e del disinganno« beinahe bei Carissimi anknüpft (wenigstens dem Sujet nach) und wirklich eine Allegorie der alten Art ist. So hielten sich vom Anfang bis in die neuere Zeit nebeneinander das biblische O., von dem die Passion (s. d.) nichts andres als eine in Einzelheiten eigenartig fortentwickelte Art ist, und das allegorisierende O., für das als bekanntes Beispiel noch Händels »L'allegro, il pensieroso ed il moderato« genannt sein mag. In der neuesten Zeit ist die letztere Gattung ganz verschwunden; dagegen ist eine neue hinzugekommen in den weltlichen Oratorien. Haydns »Schöpfung« bildet den Übergang zu diesen, die »Jahreszeiten« sind das erste wirkliche Beispiel. Um die Zusammengehörigkeit von Händels »Messias« und Schumanns »Paradies und Peri« und »Bezauberter Roje« zu Einer Kunstgattung zu begreifen, muß man freilich vom Sujet ganz absehen und nur die Form berücksichtigen (Vereinigung der epischen Darstellung mit der dramatischen). Das eigentliche O. vermeidet übrigens Ensemblenummern, die eine Situation voraussetzen, während das weltliche O. oft geradezu dramatisch wird. Von ältern Förderern der Kunstform des Oratoriums sind noch zu nennen: Heinrich Schütz, Sebastiani und J. S. Bach, also die Männer, welche die Passion zur höchsten Ausbildung brachten. Händel aber gab dem eigentlichen O. die seitdem typische Gestalt, indem er auf die alten italienischen Formen zurückgriff und den Erzähler und die Gemeindegesänge wegließ, die nun als Charakteristikum der Passion verblieben; sein Eigentum ist aber die gewaltige Steigerung der Rolle des Chors, den das O. des italienischen Opernkomponisten zu der Zeit ganz aufgegeben hatte. Das Weihnachtsoratorium Bachs gehört der Form nach durchaus zu den Passionen. Von den Komponisten seit Bach und Händel haben außer Haydn nur Fr. Schneider, Klein, Spohr und Mendelssohn, in neuester Zeit F. Hiller, Liszt, Kiel, L. Meinardus, Albert Becker und H. v. Herzogenberg Bedeutendes auf dem Gebiet des biblischen Oratoriums geleistet, während das weltliche Chorwerk in Schumann, Brahms, Bruch, G. Vierling, H. Hofmann seine vorzüglichsten Pfleger fand. Vgl. Wangemann, Geschichte des Oratoriums (3. Aufl., Leipz. 1882); Böhme, Geschichte des Oratoriums (2. Aufl., Gütersloh 1887); Kretzschmar, Führer durch den Konzertsaal, Bd. 2, Abt. 2 (2. Aufl., Leipz. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 94-95.
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