[307] Brahms, Johannes, hervorragender Komponist, geb. 7. Mai 1833 in Hamburg, gest. 3. April 1897 in Wien, war der Sohn eines Musikers und erhielt durch Eduard Marxsen in Altona seine Ausbildung im Klavierspiel und in der Komposition. 1853 unternahm er als Klavierbegleiter eines Violinspielers, E. Remenýi, eine Konzertreise, bei welcher Gelegenheit Joachim auf ihn aufmerksam wurde. Mit dessen Empfehlung versehen, kam B. in demselben Jahr nach Düsseldorf zu R. Schumann und erregte durch den Vortrag seiner ersten Kompositionen (Sonaten für Klavier) die höchste Bewunderung des Meisters, der derselben in einem begeisterten Artikel in der »Neuen Zeitschrift für Musik« (28. Okt. 1853) Ausdruck gab. Nachdem er sich dann kurze Zeit bei Liszt in Weimar aufgehalten, übernahm er die Stelle eines Chordirigenten und Musiklehrers beim Fürsten von Lippe zu Detmold, in der er mehrere Jahre verblieb. In der Folge lebte er anfangs in seiner Vaterstadt, dann seit 1862 in Wien, wo er 1863 Chormeister der Singakademie wurde. 1864 legte er auch diese Stellung nieder und lebte dann eine Reihe von Jahren abwechselnd an verschiedenen Orten (meist in Hamburg, in der Schweiz und in Baden-Baden) in eifriger produktiver Tätigkeit, zugleich auch als Pianist öffentlich auftretend, bis er 1869 seinen Aufenthalt dauernd in Wien nahm. 187174 war er daselbst Dirigent der Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde. Nach erneuten Wanderungen ließ er sich 1878 dauernd in Wien nieder, lediglich der Komposition lebend. Lange hatte B. zu ringen, bis die Welt die Berechtigung der Prophezeiung Schumanns anerkannte. Von dem Stil Schumanns, dessen Einfluß seine ersten Werke verraten, wandte sich B. durch Vertiefung in die Musik älterer Meister, zunächst Mozarts, Haydns, Händels und Bachs, weiterhin auch der polyphonen Musik des 16. Jahrh., immer mehr ab und gelangte damit zu einer Umgestaltung seiner Schreibweise, die dieselbe mehr und mehr als eine würdige Fortsetzung derjenigen Beethovens erscheinen ließ. Der anfangs zu den Neudeutschen gerechnete Komponist kam damit immer mehr in Gegensatz zu der extremen fortschrittlichen Partei der Anhänger von Berlioz, Liszt und Wagner und wurde schließlich von diesen in Acht und Bann getan. Seit Bekanntwerden seines »Deutschen Requiems« (Op. 45, 1867) und des »Triumphliedes« (Op. 55, 1871) stieg sein Ansehen schnell und stetig, so daß er am Ende seiner Laufbahn eine dominierende Stellung auf dem Konzertprogramm errungen hatte und dieselbe dauernd behauptet. 1874 wurde er zum Mitgliede der Akademie der Künste zu Berlin ernannt, die Universitäten Cambridge (1877) und Breslau (1881) verliehen ihm die Doktorwürde honoris causa, 1886 wurde er stimmfähiger Ritter des preußischen Ordens pour le mérite für Kunst und Wissenschaft, 1889 Ehrenbürger der Stadt Hamburg. Der Bühnenkomposition ist B. fern geblieben; seine durchaus auf Verinnerlichung gerichtete Künstlerindividualität widerstrebte durchaus der gegenteiligen Richtung des opernmäßigen Wesens. Selbst seine beiden Ouvertüren (Tragische Ouvertüre, Op. 81, und Akademische Festouvertüre, Op. 80) meiden die Beziehung zur Bühne. Derselben Wurzel entspringt B.' Abneigung gegen alles aufdringliche pomphafte Wesen in der Instrumentierung wie auch seine Zurückhaltung in der Melodieführung. Seine Tonsprache ist stets gewählt und birgt ihre ergreifendsten Wirkungen nicht selten hinter einer rauhen Schale, die sich erst längerer liebevoller Beschäftigung mit seiner Musik willig erschließt. Nächst den bereits genannten größern Chorwerken mit Orchester, zu denen noch als gleichstehende das »Schicksalslied«, Op. 54, die »Nänie«, Op. 82, und der »Gesang der Parzen«, Op. 89, kommen, sowie der einen Männerchor heranziehende »Rinaldo« (dramatische Kantate, Op. 50), »Rhapsodie aus Goethes Harzreise« (für Altsolo, Op. 53), drang B. in weitern Kreisen besonders mit seinen Liedern und Chorliedern früh durch, obgleich auch auf diesem Gebiete die Kompliziertheit seiner Faktur leichten Genuß erschwert. Das Brahmssche Lied erscheint bezüglich der Abtönung des Ausdrucks in der Deklamation und der Emanzipation der Singstimme von der Begleitung als starke Steigerung gegenüber demjenigen Schumanns. Ein geläuterter Geschmack offenbart sich in der Wahl der Texte der Lieder B.', der manche übersehene Perle deutscher Lyrik aus Licht gezogen und durch seine Musik kostbar gefaßt hat, von den 32 Liederwerken (Op. 3, 6, 7, 14, 19, 32, 33, 43, 46, 47, 48, 49, 57, 58, 59, 63, 69, 70, 71, 72, 84, 85, 86, 91, 94, 95, 96, 97, 105, 106, 107, 109) enthält beinahe jedes einige Nummern, die sich allgemeiner Wertschätzung erfreuen. Im Liede, noch mehr aber im Chorliede B.' hält die unvergängliche Kraft volksmäßiger Empfindungsweise dem gesteigerten Raffinement kunstmäßiger Gestaltung die Wage, so besonders in den Liebesliederwalzern für Gesangsquartett mit Klavier zu vier Händen (Op. 52 und 65), den »Zigeunerliedern« (Op. 103 und 112, vierstimmig mit Klavier), den »Balladen und Romanzen« (Op. 75, zweistimmig mit Klavier), den »Magellonenromanzen« (Op. 33), Volksliedern (vierstimmig) und Volkskinderliedern. Einen hohen Rang nehmen auch seine geistlichen Chorgesänge ein, unter denen die »Deutschen Fest- und Gedenksprüche« (Op. 109, achtstimmig) obenan stehen. Von B.' Instrumentalkompositionen wurden zuerst die »Ungarischen Tänze« (1865 und 1880 zu zwei Heften) für Klavier zu vier Händen populär. Seine Klavierwerke sind mit wenigen Ausnahmen (Balladen, Op. 10; Rhapsodien, Op. 79) besonders spröde und werden erst eingehendem Studium ihrem reichen Gehalte nach verständlich; in die schumannisch gefärbte erste Periode gehören die drei Sonaten Op. 1, 2 und 5 und das Scherzo Op. 4; in die letzten Jahre gehören die seine Eigenart und volle Entwickelung zeigende Phantasien, Op. 116, Intermezzi, Op. 117, und Klavierstücke, Op. 118 und 119. Aus der Reihe seiner die Beethovensche Technik fortsetzenden[307] Variationenwerke ragt Op. 24 (Thema von Händel) hervor. Reiche Schätze birgt B.' Kammermusik (vier Trios: Op. 8 [1891 umgearbeitet], 40, 87, 101; drei Klavierquartette: Op. 25, 26, 60; ein Klavierquintett: Op. 34; ein Klaviertrio mit Klarinette und Cello: Op. 114; zwei Cellosonaten: Op. 38, 99; drei Violinsonaten: Op. 78, 100, 108; zwei Klarinettensonaten: Op. 120; drei Streichquartette: Op. 51 [I und II], 67; zwei Streichsextette: Op. 18, 36; zwei Streichquintette: Op. 88, 111, und ein Quintett für Streichquartett mit Klarinette: Op. 115). Schwer und nicht im gemeinen Sinn dankbar sind B.' Konzerte: zwei Klavierkonzerte (Dmoll, Op. 15; B-dur, Op. 83), das Violinkonzert, Op. 77, und das Doppelkonzert für Violine und Cello, Op. 102. Von B.' Orchesterwerken bedeuten die ersten, die beiden Serenaden: Op. 11, D-dur, und Op. 16, A-dur, die Rückwendung des Meisters zur Kunst Haydns und Mozarts. Den voll entwickelten B., den Meister der durchbrochenen Arbeit zeigen seine vier Symphonien (Op. 68, Cmoll; Op. 73, D-dur; Op. 90, F-dur; Op. 98, E-moll) und die Variationen über ein Thema von Haydn, Op. 56. Sowohl die Kammermusik- als die Orchesterwerke B.' haben sich langsam, aber stetig wachsend einen festen Platz auf den gewähltesten Programmen errungen und stehen in gleicher Linie mit denen der großen Klassiker. Der heilige Ernst, der B.' gesamtes Kunstschaffen erfüllt, die Hochhaltung der Selbstherrlichkeit der Musik als Mittel der Offenbarung der Wunder des Seelenlebens sichern denselben einen dauernden Ehrenplatz. Eine billige Partiturausgabe der Orchesterwerke (N. Simrock in Berlin) kommt einer weitern Popularisierung derselben entgegen. Die Stadt Wien ehrte B. durch ein Ehrengrab in der Nähe der Gräber Beethovens und Schuberts auf dem Zentralfriedhof. Als erstes Brahmsdenkmal wurde 1899 in Meiningen eine Bronzebüste von Hildebrand enthüllt. Ein »Thematisches Verzeichnis« seiner im Druck erschienenen Werke veröffentlichte N. Simrock in Berlin (neue Ausg. 1901). Vgl. Deiters, Johannes B. (Leipz. 1881, 2. Teil 1898); Reimann, Johannes B. (Berl. 1897); Alb. Dietrich, Erinnerungen an J. B. und Briefe aus seiner Jugendzeit (Leipz. 1898); J. B. Widmann, J. B. in Erinnerungen (Berl. 1898).