[166] Ossĭan (gäl. Oisian, irisch Oissin oder Oisein), keltischer Barde des 3. Jahrh., Sohn eines Königs Fingal (Finnghal) von Alba (Hochschottland), in seinem Alter erblindet: so erscheint er in den Gedichten, die seinen Namen tragen. Diese sind in den Jahrhunderten bis um 1760, wo Macpherson seine Ossianepen machte, vielfach und gründlich umgeformt worden. Das »Buch von Leinster«, eine Handschrift des 12. Jahrh., schreibt zuerst einige Verse dem O. zu. Einen gälischen Dichter O. erwähnt der mit keltischer Sitte und Literatur gründlich bekannte Giraldus Cambrensis (gest. 1220). Der Human ist Johnston (um 1520) spricht von größern epischen Gedichten der Gälen, und Buchanan (1582) redet ebenfalls von der Existenz solcher Gedichte. Seit der jakobitischen Erhebung gegen das Haus Hannover waren die keltischen Hochschotten für das Englisch redende Publikum ein Gegenstand des Argwohns, fast der Verachtung geworden, ein heruntergekommenes Geschlecht; ihre Literatur war unbekannt. Erst der Rektor Hieronymus Scone (1756) wurde auf die Schönheit gälischer Bardenpoesie aufmerksam und veröffentlichte einige Proben. Durch die Dichter John Home und Hugh Blair angeregt, sammelte dann James Macpherson (s. d.) eine Anzahl gälischer, den Namen Ossians tragender Gesänge und gab davon zunächst eine Probe in englischer Prosa u. d. T.: »Remains of ancient poetry, collected in the Highlands of Scotland and translated from the Galic or Erse language« (Edinb. 1760) heraus; 1762 ließ er das Epos »Fingal«, 1763 das Epos »Tighmora« (engl. »Temora«) und 1765 die Gesamtausgabe der »Works of O.« folgen. Diese Gedichte erregten durch ihre eigentümliche Schönheit das größte Aufsehen. Als 1764 das »Journal des Savants« die später von Shaw und Laing wiederholte Behauptung aufstellte, diese Gedichte seien von Macpherson gemacht und gälisch gar nicht vorhanden, sprach Macpherson seine Verachtung solcher Afterkritik aus, trat aber nicht öffentlich dagegen auf, weil es ihm schmeichelte, daß die Welt ihm ein solches Dichtergenie zutraute. Dafür lieferte er an die inzwischen gegründete Highland Society in Edinburg seine niedergeschriebenen gälischen Urtexte, soweit er sie noch besaß (manche waren verloren gegangen), und diese sind dann von der genannten Gesellschaft in zwei Großoktavbänden herausgegeben worden (»Dana Oisein mhic Finn«, Lond. 1807). Die Meinung, als habe Macpherson diese Epopöen[166] rein fabriziert, ist unhaltbar. Er hat durchaus den Stil überkommen und nur die Fabel dazu ersonnen. Lange vor Macpherson waren Ossiangedichte schon ausgezeichnet worden, namentlich im Buch des Dekans von Lismore (16. Jahrh.). Andre sind im Volksmund bezeugt, durch einen Peter Macdonald (um 1670) und durch John Macdonald, der eidlich vor der Highland Society erklärte, er selbst habe als 15jähriger Knabe mehrere auswendig gewußt (1740) und Macpherson habe sich viele dieser Gedichte von ihm diktieren lassen. Und noch um 1800 fanden die Mitglieder der Highland Society ganze Stücke dieser Gedichte im Munde der Hebridenbewohner lebend. In merkwürdiger Weise hat sich in diesen Rhapsodien die Art der irischen Heldenzeit erhalten. Die Sitten, Gebräuche und Rechtsordnungen in Ossians Gedichten entsprechen bis ins einzelnste dem, was neuere Forschungen über die Sitten der alten Gälen in der ältesten Normannenzeit zutage gefördert haben, als ganz Schottland (Alba und das Piktenreich nebst Strathclyde, Bernicia und Galloway), unter Einem Herrscherhaus vereinigt, in Frieden und Glanz und gälischer Freiheit existierte. Während das Nibelungenlied alte Sagen in das ritterliche Kostüm des 12. Jahrh. umgekleidet hat, sind in Ossians Gedichten Kostüm und Kolorit der uralten Heidenzeit unberührt erhalten. Von Ackerbau kommt nicht die geringste Spur vor, nur Jagd und Viehzucht; in offener Halle hält der König Hof, sein Mahl auf offener Heide; Fürstentöchtern dienen Grotten zur Wohnung; das eheliche Band ist noch sehr locker und lösbar; die im Mittelalter so beliebte Sackpfeife ist noch nicht erfunden. Diese poetische Welt hat Macpherson in der letzten Stunde vor dem Vergessen gerettet und zu breitester Wirkung gebracht. Seine Bearbeitung, die manchmal fehlerhaft, oft sentimental und durchaus emporgeschraubt ist, liegt vielen Tochterübersetzungen zugrunde (deutsch von Denis, Harald, Petersen, Rohde, Stolberg u.a., ital. von Cesarotti, franz. von Le Torneur, niederländ. von Bilderdijk, span. von Ortin, poln. von v. Krasicki). Sinclairs lateinische Interlinearversion hat Ahlwardt (Leipz. 1811) ins Deutsche übersetzt, direkt aus dem gälischen Urtext A. Ebrard den »Finnghal« (das. 1868). Weitere Literatur s. bei Macpherson. In neuester Zeit ist die Sage nochmals zum Gegenstand dichterischer Behandlung gemacht worden durch Yeats (»Usheen«, in den »Poems«, Lond. 1895). Über die keltischen Fassungen vgl. J. Abercromby, The pre- and protohistoric Finns both Eastern and Western (Lond. 1898), und den Artikel »Gälisch«.