[757] Schießbaumwolle (Schießwolle, Pyroxylin, Nitrozellulose, Hexanitrozellulose, Zellulosenitrat) entsteht bei Einwirkung starker Salpetersäure HNO3 auf Zellulose (Baumwolle) C12H20O10 nach der Gleichung: C12H20O10+6HNO3 = C12H14(NO2)6O10+6H2O. Das bei dieser Reaktion entstehende Wasser würde die Wirkung der Salpetersäure sehr bald schwächen, und man setzt deshalb konzentrierte Schwefelsäure zu, die das Wasser bindet. Zur Darstellung wird durch Sodalauge gereinigte Baumwolle (besonders Spinnereiabfälle) ausgelesen und auf Maschinen (Öffnern, Schlag- und Reismaschinen) gelockert, bei 100° scharf getrocknet und in verschließbare Blechbüchsen gefüllt. Zum Nitrieren taucht man 1 Teil Baumwolle 56 Minuten in 50 Teile eines Gemisches von 1 Teil Salpetersäure (mit mindestens 93 Proz. HNO3) und 3 Teilen Schwefelsäure (mit 9596 Proz. H2SO4) und benutzt dabei von außen zu kühlende Gefäße von 1213 Lit. Inhalt. Dann bringt man die Baumwolle oft noch[757] in verschließbare Steintöpfe, die in Kühlbassins stehen, und schleudert nach 24 Stunden (Nachnitrierung) die Säure auf Zentrifugen ab. Man wendet auch Zentrifugen an, die zunächst als Nitriergefäß dienen und nach Vollendung des Prozesses unmittelbar das Abschleudern der Säure ermöglichen. Die S. muß nun sehr schnell mit großen Mengen Wasser behandelt werden und wird dann in Waschmaschinen gewaschen, bis sie Lackmuspapier nicht mehr rötet, und zu weiterer Entsäuerung mit 2proz. Sodalösung, zuletzt mit reinem Wasser gekocht. Solche S. enthält oft noch Säure in den hohlen Baumwollenfasern und verfällt bisweilen einer gefährlichen Selbstzersetzung. Die S. wird daher jetzt auf Holländern zerkleinert, dabei mit Wasser gewaschen und dann anhaltend mit Wasser gekocht (Stabilisierung), im Waschholländer gewaschen und auf Zentrifugen entwässert, um mit etwa 30 Proz. Wasser in mit Zink ausgeschlagenen, dicht schließenden Kisten aufbewahrt zu werden. In solchen verlöteten Kisten wird die feuchte S. stark zusammengepreßt auch versendet. Für manche Zwecke wird die S. auch in Vakuumtrockenapparaten getrocknet. Höheres spezifisches Gewicht, regelmäßigere Fortpflanzung der Explosion innerhalb der Ladung, größere Wirkung im gegebenen Raum und leichtere Handhabung erreicht man dadurch, daß man die nasse S. durch Druck in eine pappartige Masse verwandelt und aus dieser durch stärkern Druck regelmäßig geformte Körper mit 20 Proz. Feuchtigkeitsgehalt bildet. Die gepreßten Körper sind für manche Zwecke (Ingenieur- und Bergwerkspatronen) gebrauchsfertig, für andre Zwecke wird ihre Form durch Hobeln, Schaben, Sägen, Bohren verändert, wobei die zu bearbeitende Fläche beständig mit Wasser bespült werden muß. Für manche Zwecke werden die gepreßten Körper vorsichtig getrocknet und dann in geschmolzenes Paraffin getaucht, auch behandelt man die Schießwollkörper mit Lösungsmitteln (Essigäther, Nitrobenzol etc.), um ihnen eine schützende Hülle zu geben. Für die meisten Zwecke muß ein bestimmter Wassergehalt der S. zum Teil aus Sicherheitsrücksichten dauernd erhalten werden. S. mit einem Feuchtigkeitsgehalt von 30 Proz. ist nämlich durch Flamme oder glühenden Körper unentzündlich und gefahrlos in der Aufbewahrung, bei der sie nicht an Güte verliert. Dagegen explodiert diese S. durch kräftige explosive Zündmittel oder bei Einschaltung einer geringern Menge trockener S. zwischen der feuchten S. und dem Zündmittel ebenso leicht wie diese. Da auch die nasse S. nicht unempfindlich gegen Schlag und Stoß ist, so ist ihre Anwendung in Geschossen nur unbedenklich bei Geschützen, die mit kleinen Ladungen feuern (Mörsern) oder solchen, bei denen langsam verbrennliche Pulversorten angewendet werden und ein sanfter Eintritt des Geschosses in die Züge stattfindet. In neuerer Zeit ist die S. in ihrer Anwendung, namentlich bei Sprengladung der Geschosse, durch die neuen Pikrinsäure-Sprengstoffe, wie Melinit etc., teilweise verdrängt worden.
Lösliche S. oder Kollodiumwolle, ein Gemisch von Di-, Tri-, Tetra- und Pentanitrozellulose, wird in derselben Weise wie S. dargestellt, aber mit einem Säuregemisch aus gleichen Teilen Salpetersäure (mit 75 Proz. HNO3) und Schwefelsäure (mit 96 Proz. H2SO4), das bei 40° etwa 111/2 Stunde auf die Baumwolle einwirken muß. Zur Herstellung detonierender Zündschnur stellt man auch Nitrohydrozellulose dar und gewinnt die Hydrozellulose C12H22O14, indem man Baumwolle einige Minuten in Wasser mit 3 Proz. Schwefelsäure oder Salzsäure taucht, ausschleudert, an freier Luft trocknet, dann 10 Stunden auf 40° erwärmt und auswäscht.
S. gleicht selbst unter dem Mikroskop der unveränderten Baumwolle, sie fühlt sich aber rauher an, knirscht beim Zusammendrücken, ist nicht elastisch und wird beim Reiben elektrisch. Sie ist geruch- und geschmacklos, vom spez. Gew. 1,634, unlöslich in Wasser, Alkohol und Äther, löslich in Aceton, Essigäther, Benzol, Nitrobenzol, auch in Nitroglyzerin bei Gegenwart von Aceton. Kollodiumwolle löst sich in einer Mischung aus 2 Teilen Äther und 1 Teil Alkohol, in Aceton, Essigäther, Benzol, Nitrobenzol und in Nitroglyzerin bei mehr als 50°. Alkalien zersetzen S. besonders bei Gegenwart von Alkohol unter Bildung von Nitraten und Zellulose. Schwefelsäure scheidet die Salpetersäure aus der S. ab unter Bildung von Zelluloseschwefelsäure. Zinnoxydulnatron, Kaliumsulfhydrat etc. regenerieren Zellulose, und auch andre Reaktionen sprechen dafür, daß die S. als Salpetersäureester der Zellulose aufzufassen ist. Unreine S. unterliegt einer baldigen Selbstzersetzung, während reine S. auch durch Sonnenlicht nicht zersetzt wird, wohl aber in wenigen Stunden beim Erhitzen auf 90°. Temperaturen von 4550° werden nur von der besten S. monatelang ertragen. Zum Schutz vor Zersetzung hat man 2 Proz. kohlensauren Kalk, auch Anilin, zugesetzt, am sichersten ist die Aufbewahrung der S. im feuchten Zustand. Im freien Raume verbrennt S. mit großer gelber Flamme so schnell, daß sie Schießpulver nicht entzündet. Gute S. explodiert bei raschem Erhitzen bei 180184°, auch durch kräftigen Schlag zwischen harten Körpern explodiert sie, aber meist nur die direkt getroffenen Teilchen. 1 g S. liefert bei der Verbrennung 588 (483) ccm Gas, bei Explosion unter hohem Druck 755 ccm. Die Gase bestehen bei Explosion unter hohem Druck aus: 28,95 Kohlenoxyd, 20,82 Kohlensäure, 7,24 Methan, 12,67 Stickstoff, 25,34 Wasserdampf und 3,16 Wasserstoff. Der Rückstand von etwa 2 Proz. besteht aus Kohlenstoff. Die Verbrennungsgase sind brennbar und durch Gehalt von Kohlenoxyd giftig. Die gewöhnliche Explosion der S. im geschlossenen Raum durch Reibung und Stoß ist zu unterscheiden von der detonierenden, die auch ohne feste Einschließung stattfindet, wenn S. durch die Explosion einer kleinen Menge Knallquecksilber oder eines ähnlichen Präparats entzündet wird. Selbst nasse, ja vollständig unter Wasser getauchte S. kann durch ein starkes Zündhütchen und ca. 300 g trockene S. oder durch Nitroglyzerin, resp. Dynamit zur Explosion gebracht werden. Dagegen ist die nasse S. absolut unentzündlich und unexplodierbar durch Berührung mit Flamme oder glühenden Körpern. Auf glühende Platten geworfen, zersetzt sie sich langsam. Schießbaumwollmagazine mit nasser S., in Brand gesteckt, brennen langsam unter ruhiger Zersetzung der S. ab.
Man benutzt S. in der Sprengtechnik, zur Füllung von Sprenggeschossen, Seeminen und Torpedos, zur Herstellung detonierender Zündschnüre, zu Feuerwerkszwecken, wobei man sie mit Salzen tränkt, welche die Flamme färben, zum Filtrieren von Säuren, Alkalien, übermangansaurem Kali, als Isolierungsmaterial bei elektrischen Versuchen und, mit Kaliumpermanganat getränkt, als Verbandmaterial für übelriechende Wunden. Di- und Trinitrozellulose dienen zur Herstellung von rauchschwachem Pulver, Zelluloid, Kollodium, künstlicher Seide. Nachdem Braconnot 1832, später auch Pelouze und Dumas explosive Substanzen aus Stärkemehl, Holzfaser, Papier[758] etc. erhalten hatten, stellte Schönbein 1845 und Böttger 1846 die S. dar, an die sich alsbald weitgehende Erwartungen hinsichtlich der Verwendbarkeit für Kriegszwecke knüpften. Aber obwohl die Darstellung der S. wesentlich verbessert wurde, erhielt man doch kein haltbares Präparat. Erst Lenk erzielte bessere Resultate, in Hirtenberg bei Wien wurde 1853 eine Schießbaumwollfabrik angelegt, aber nach zwei Explosionen von Magazinen wurden 1865 die österreichischen Versuche wieder aufgegeben. Praktische Verwertbarkeit erlangte die S. erst durch den englischen Chemiker Abel, der in der Zerkleinerung der S. das Mittel zu ihrer vollständigen Reinigung, welche die Haltbarkeit bedingt, entdeckte, und 1874 wurde das englische Verfahren auf Anlaß der deutschen Regierung durch Hertz, der in Oberschlesien eine Fabrik errichtete, in Deutschland eingeführt. Vgl. v. Förster, Versuche mit komprimierter Schießwolle (Berl. 1883), Komprimierte Schießwolle für militärischen Gebrauch (das. 1886) und Schießwolle in ihrer militärischen Verwendung unter besonderer Berücksichtigung der Schießwollgranaten (das. 1888); Abel, Untersuchungen über S. (deutsch, Berl. 1907); Plach, Die gepreßte Schießwolle (Pola 1891); Will, Mitteilungen aus der Zentralstelle für wissenschaftlichtechnische Untersuchungen, Heft 2,3,4 (1900, 1902, 1904), und Literatur bei Artikel »Schießpulver«.
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