Mißgeburt

[312] Mißgeburt (Monstrum, Monstrosität), der höchste Grad der organischen Mißbildungen, begründet in fehlerhafter Entwicklung des Keimes. Unbedeutendere Abweichungen, die keine weiteren Functionsstörungen begründen, nennt man Naturspiele, Bildungsfehler; höhere Grade, für das Individuum nachtheiligere Mißbildungen heißen Verunstaltungen (Deformitates), ohne jedoch eine scharfe Grenze zwischen diesen drei Graden zu finden. Veranlassung können sein abnorme, den Keim während seiner Entwickelung treffende Einflüsse od. auch ursprüngliche Abnormität des Keimes (wofür die Erblichkeit mancher Mißbildungen zu sprechen scheint). Das sogenannte Versehen (in den ersten Schwangerschaftsmonaten) kann nicht ganz in Abrede gestellt werden, wenn man den Einfluß der Gemüthsbewegungen u. phantastischen Aufregungen der Mutter überhaupt nicht auch läugnen will, obschon die Entstehung der meisten dem sogenannten Versehen der Mutter zugeschriebenen M. auch andere Erklärungen zulassen. Die abnormen Einflüsse können auch mechanische sein u. erregen entweder Krankheiten im Fötus, welche den nach der Geburt auftretenden ganz entsprechend sind, od. rufen Bildungshemmungen hervor, bei denen die Organe auf einer gewissen Stufe der Entwickelung stehen bleiben u. Mißbildungen erzeugen, die man Hemmungsbildungen nennt.

I. M-en, bei denen mehr od. weniger Theile ganz fehlen od. zu klein sind: A) mit gänzlichem Fehlen von Körpertheilen (Monstra deficientia); a) vollkommen ungestaltete M-en (M. amorpha, M. anidea), aus Haut, Fett, Knochenpartikeln, seröser Flüssigkeit u. Gefäßzweigen bestehend; nicht lebensfähig; b) Rumpfmonstra (M. mylacephala), nur mit Spuren von Eingeweiden, ohne Kopf u. Extremitäten; c) kopflose M-en (M. acepha la), mit mehr od. weniger unvollkommener Entwickelung des Rumpfes u. der Gliedmaßen; nicht lebensfähig; d) M-en mit mangelhaftem Kopfe (M. perocephala); es sind: aa) Pseudocephalus s. Paracephalus, mit einem Kopfrudiment u. mehr od. weniger mangelhaftem übrigen Körper; nicht lebensfähig; Acormus, rudimentärer Kopf auf regelmäßigen Zwillingen; bb) hirnlose M-en (Hemi-, Micro-, Anencepha1us), häufig mit Spina bifida u. Mißbildungen des Rumpfes od. der Extremitäten; die M-en werden bisweilen lebend geboren u. leben selbst kurz Zeit; cc) M-en mit mangelhaftem Gesichte (Aprosopus, Microprosopus), es fehlen Theile des Gesichts, z.B. die Augen, die Ohren, u. der Schädel ist klein u. unvollständig, der Unterkiefer ist zu kurz; e) M-en mit Verunstaltungen des ganzen Körpers (M. perosoma), durch Fehlen od. Unförmlichkeit u. Mangel einzelner Theile; nicht lebensfähig u. mehr bei Thieren als bei Menschen vorkommend; f) M-en mit defectem Rumpfe (M. perocorma), bes. mangelhafter Wirbelsäule, aber regelmäßigem Kopfe u. Gliedmaßen od. es fehlen einige Wirbel, Schwanzwirbel, od. die Geschlechtsorgane, alle od. die äußern; g) rumpflose M-en (M. acorma), bei denen die untere Körperhälfte fehlt u. nur mehr od. weniger Theile der obern Körperhälfte, namentlich der Kopf, vorhanden sind; h) M-en mit defecten Gliedmaßen (M. peromela, M. micromela, M. phocomela);[312] es fehlen entweder alle Glieder, od. mehrere, od. nur eines u. das andere, od. nur einzelne Theile derselben; Kopf u. Rumpf ist dabei entweder regelmäßig od. unregelmäßig; sie sind lebensfähig. B) M-en mit regelwidriger Kleinheit der Theile (Zwergbildung); es sind alle Körperorgane vorhanden, aber einige od. eins u. das andere sind zu klein, z.B. Zwergleib, Zwergkopf, Zwergrumpf, Zwergglieder. C) M-en durch Verschmelzung von Organen (Coalitio partium, Symphysis); Theile, welche eigentlich getrennt neben. einander liegen, sind, meist in der Mittellinie des Körpers, durch Verkümmerung od. Fehlen zwischenliegenoer Theile einander näher gerückt od. mit einander verschmolzen: a) Mißbildung mit einem od. mit verschmolzenen Augen an der Stirn (Cyclopia, Monophthalmus); oft findet sich anstattder Nase ein Rüssel über den Augen, u. der Mund fehlt; nicht lebensfähig, aber lebend geboren; am häufigsten beim Schweine; b) Verschmelzung der unteren Gesichtshälfte (Monotia, Agnathus, Otocephalus), der Unterkiefer fehlt ganz, der Oberkiefer zum Theil, der Mund ist sehr klein od. fehlt auch, die Ohren rücken unter dem Gesichte einander näher od. verschmelzen; c) Verschmelzung der untern Extremitäten, Sirenenbildung (Monopodia); das Becken u. seine Organe sind mangelhaft, die Beine mit einander verschmolzen u. dabei mehr od. weniger verkümmert. D) M-en, bei welchen normale Öffnungen (Auge, Mund, Scheide, After etc.) verschlossen sind; entstehen meist aus Bildungshemmungen. E) Spaltbildungen: Mißbildungen (aus Bildungshemmung), bei denen im Normalzustande verwachsene Theile von einander getrennt sind. Hierher gehören: die Spaltungen am Schädel, Gesichte, Gaumen, Oberlippe, Zunge, Brust, Bauch, Rückgrath (Spina bifida), Becken u. Harnblase, Penis (Epispadia, Hypospadia).

II. M-en, welche zu viel haben (Monstra abundantia). Hier findet man eine ganz allmälige Steigerung, von der Überzahl eines Nagelgliedes bis zur Ausbildung zweier vollständiger, nur an einem Punkte vereinigter Embryonen. A) M-en mit überzähligen Theilen bei einfachem Kopfe u. Rumpfe (doppelte Zunge, überzählige Finger u. Glieder). B) Zwillingsmißgeburten mit doppeltem Kopf u. Rumpf, mit zwei Gesichtern u. einem Schädel, mit doppeltem Schädel u. einfachem Gesicht, mit zwei Köpfen, Zwillinge an Brust od. Bauch od. Kreuz vereinigt od. Zwillinge, oben einfach unten doppelt od. umgekehrt. Die siamesischen Zwillingsbrüder u. die sardinischen Zwillingsschwestern waren zwei nur in der Gegend des Schwertknorpels verbundene Körper. C) Parasitische Doppelmißgeburt, wobei der eine vollkommen entwickelte Körper äußerlich sichtbar od. unter der Haut od. in einer Körperhöhle verborgen einen mehr od. weniger verkümmerten Fötus trägt. D) Drillingsmißgeburten (Monstra triplicia), wo Körpertheile dreifach vorhanden sind, sehr selten.

III. M-en bei denen etwas fehlt od. auch zuviel ist (Monstra deformia); hierher gehören Abweichungen in der Lageder Organe (Herz u. Leber in der Mitte od. Herz rechts, Blinddarm links), der Form derselben (Verkrümmungen der Wirbelsäule u. der Gliedmaßen) im Ursprung u. Verlaufe der Blutgefäßstämme; ferner die Zwitterbildungen (Hermaphroditismus), wodurch das Geschlecht zweifelhaft werden kann, niemals aber wirklich männlich u. weiblich zugleich ist, s. Zwitter. Die den M-en zuzugestehenden Menschenrechte, vom physiologischen Standpunkte zu entscheiden, ist schwierig. M-en, die einfach ihr Leben fortzusetzen u. auch dabei zur Verstandesentwickelung zu gelangen fähig sind, bieten keinen Zweifel dar, schon aber diejenigen, die zusammengewachsen, also Doppelmißgeburten sind u. dann, bei Ausbildung zweier Köpfe, auch in jedem ein selbständiges eignes Leben führen. Es werden diese auch in der Regel als zwei Individuen betrachtet, indem sie, als Christenkinder, beide die Taufe u. eigne Namen erhalten. Bei gehirnlosen, od. auch selbst kopflosen M-en ist die naturrechtliche Entscheidung schon schwieriger. Nach den bestehenden positiven Gesetzen werden ihnen aber keine Menschenrechte zugestanden. Die ältern Gesetze machen überhaupt unter M-en einen Unterschied zwischen einem Ostentum, bei welchem nämlich die Bildung nur auf eine auffallende Art abweicht, u. einem Monstrum, bei dem bes. die Kopfbildung keine menschliche ist, daher auch nach ältern Gesetzen ein solches sofort getödtet werden sollte; auch werden nach kirchlichen Anordnungen dergleichen M-en der Taufe nicht für bedürftig od. empfänglich erachtet. In wiefern dergleichen Akephalen, bes. die nicht nach ganz strengen Begriffen dafür zu erkennenden M-en, in Fällen, wo die Geburt eines todten od. kurz nach der Geburt gestorbenen Kindes Rechte, eines Überlebenden zu einer Erbschaft begründet, normal geborenen Kindern gleich zu stellen sind, ist unter den Rechtslehrern eine Controvers. In physiologischer Hinsicht müssen menschliche M-en als mehr od. weniger regelrecht entwickelte Menschenkeime betrachtet werden, die zu tödten nicht erlaubt sein kann, indem die Übergänge u. Grade so verschieden sind, daß man keine Grenze mehr finden würde.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 312-313.
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