Ostindien

[426] Ostindien, bezeichnet gewöhnlich Vorderindien, Hinterindien u. den indischen Archipel, im engern Sinne jedoch nu Indien diesseits des Ganges, das eigentliche Land der Hindu. (Ueber Hinterindien s. Anam, Aracan, Ava, Birma, Malacca, Pegu, Siam). Das eigentliche O. besteht aus Hindostan u. Dekan (s. d.) u. wird auf 67000 QM. berechnet, von welchen über 40000 auf Hindostan kommen. Es gränzt an den bengal. Meerbusen, Hinterindien, den Himalaja, an den Indus u. an das indische Meer und wird von dem Ganges, Brahmaputra u. dem Indus als Hauptströmen bewässert. In dem Tieflande entfaltet sich unter dem Einflusse der tropischen Wärme und der Feuchtigkeit, die von den Flüssen u. der vom Ocean kommenden Luftströmung herrührt, die Pflanzenwelt in der üppigsten Fülle, sowohl was die Zahl der Gattungen, Arten u. Individuen, als die Größe, Farbenpracht, Geruch, Geschmack der Blüten u. Früchte etc. der Pflanzen betrifft. Die Familie der Palmen ist nirgends so zahlreich vertreten; von kostbaren Holzarten ist das Sandel- und Ebenholz am häufigsten, der Teakbaum liefert das trefflichste Schiffsbauholz, an Gewürzpflanzen ist Ueberfluß, Reis, Mais und andere Cerealien gedeihen vortrefflich u. das Röhricht erreicht im Bambus Baumgröße. Noch entwickelter ist die Thierwelt; Elephanten, Nashörner, Büffel, Königstiger, Affen, Papageien, Krokodile, Riesenschlangen, unzählige Insekten, Würmer, Schalthiere etc. beleben Wälder, Sümpfe, Flüsse, Luft und die obere Bodenschichte; in O. kostet es den Menschen den härtesten Kampf, um die Herrschaft über die Thierwelt zu erringen u. wilden Stämmen gelingt dies gar nicht. Dagegen ändert sich mit der Erhebung des Landes die Temperatur und damit auch die Pflanzen- u. Thierwelt,[426] so daß der Europäer 6000' über dem Meere die edelsten Gewächse seiner Heimath fröhlich gedeihen sieht und in der kühleren Atmosphäre sich selbst von der Erschöpfung im unteren Lande erholt. An mannigfaltiger Nahrung ist in O. überall Ueberfluß u. alles Land, wohin das befruchtende Wasser geleitet werden kann, bringt reichliche Cerealienärnten. Am meisten wird der Reis angebaut und mißräth derselbe in Folge außerordentlicher Naturereignisse, so rafft der Hunger in den dichtbevölkerten Niederungen Hunderttausende von Menschen weg u. setzt der Uebervölkerung wieder für einige Decennien Schranken. Daß O. auch an edeln u. unedeln Metallen, an Diamanten, Rubinen, Topasen und andern kostbaren Steinen reich ist, war schon den Alten bekannt und ist sprichwörtlich. Die Zahl der Einw. wird auf 150 Mill. berechnet, von denen die feingebauten, fähigen, dem kaukas. Stamme, zunächst dem arischen oder iranischen, angehörigen Hindu die Hauptmasse bilden, indem sie das Tiefland am Ganges u. einen großen Theil des Gebiets des Indus einnehmen. In den Gebirgen u. in den schwer zugänglichen Waldgegenden hausen wilde Stämme (Ramusis, Puharris, Santals, Pulindas, Pindarries, Chonds etc.), wahrscheinlich die Reste der Urbewohner O.s, die indessen an Sprache u. Körperbildung sehr verschieden sind u. einen rohen, zum Theil blutigen Göttercult haben. Von eingewanderten Völkern besitzt O. eine ziemliche Anzahl: Araber, Mongolen, Afghanen (Rohillas), Parsen, Juden, Europäer (besonders Portugiesen u. Engländer). Von den Religionen ist die heidnische die vorherrschende; die eigentlichen Hindu huldigen der brahmanischen Religion, auf Ceylon u. am Himalaja der buddhistischen; die Parsen dem Parsismus, die Araber, Mongolen, Afghanen, auch viele Hindu dem Islam; Christen sind die Armenier und Europäer, von den bekehrten Hindu stammen die meisten aus der Zeit der portugies. Herrschaft, indem die engl. Bekehrungsanstalten sehr geringen Erfolg haben. Die geistige Bildung der Bewohner O.s ist sehr verschieden; vgl. darüber: Indische Sprache u. Literatur, Brahma, Brahmanen, Buddhaismus etc. Der Anbau des Bodens wird seit uralter Zeit mit großer Kunst und Sorgfalt betrieben, nicht minder sind die Künste des Handwerks ausgebildet. In Seide-, Baumwolle- und Wolleweberei sind die Hindu unübertroffen und verstehen den Geweben Farben u. Zeichnungen zu geben, die der europ. Kunst spotten; ausgezeichnet sind auch ihre Metallarbeiten, namentlich Waffen u. Geschmeide; die meisten Gewerbe in O. sind aber bereits durch die viel wohlfeileren Maschinenarbeiten der Engländer ruinirt. Deßwegen verarmt auch O. nach dem eigenen Geständnisse der Engländer zusehends, weil es nur Naturproducte ausführt u. dagegen so viele Fabrikate empfängt, daß die Bezahlung derselben den Betrag der Ausfuhr und des aus dem Boden fortwährend geförderten Metalls erschöpft. Vorderindien steht unter britischer Herrschaft, jedoch in verschiedenem Verhältnisse. Die unmittelbaren Besitzungen der ostind. Compagnie sind in die Präsidentschaften von Bengalen, Agra, Madras und Bombai eingetheilt; der engl. Krone unmittelbar unterworfen ist die Insel Ceylon. Die Schutzstaaten, mit einer Bevölkerung von 53 Mill., sind dem Generalgouverneur unmittelbar untergeordnet, wenn dieselben noch von einiger Bedeutung sind (Audh, Nizam, Gwalior, Mysore, die Staaten der Radschputen etc.), die weniger bedeutenden den Regierungen von Bengalen, Agra, Madras u. Bombai. Die Präsidentschaften zerfallen in Bezirke mit einer Seelenzahl, die der von deutschen Großherzogthümern gleich od. überlegen ist; die Beamten derselben sind immer Europäer. Eigene Gerichtshöfe, aus Eingebornen bestellt, aber von Europäern controlirt, handhaben die Justizpflege; sowohl in der Administration als Justiz ist aber den einheimischen untergeordneten Beamten ein weiter, viel mißbrauchter Spielraum offen gelassen, obwohl die Preßfreiheit eingeführt ist. Im Jahr 1851–52 beliefen sich die Einkünfte der ostind. Compagnie auf 19927039 Pfd. Sterl., die Ausgaben auf 17901666 Pfd. Sterl., die Schuld auf 47999827 Pfd. Sterl. Die [427] Landmacht besteht aus den: 1) europ. königl. Truppen, 25 Infanterie-, 5 Cavallerieregimentern, 31100 Mann; 2) europ. Truppen der ostind. Compagnie, 6100 M. Infanterie, 6823 M. Artillerie, 280 M. Ingenieurs; 3) den eingebornen Truppen der Compagnie 202800 M. verschiedener Waffengattungen, doch nicht Artillerie; irreguläre Truppen 48500 M.; mehren Polizeibataillonen zu 12500 M. Die Seemacht zählt 36 Schiffe, die Mehrzahl Dampfer. In neuester Zeit ist der Telegraphendienst eingerichtet worden, auch ist für Eisenbahnbau und Bewässerungskanäle ein Anfang gemacht. – Die älteste Geschichte von O. ist völlig mythisch; soviel ist gewiß, daß ein Volk arischen Stammes aus Baktra an den Indus u. Ganges wanderte, das sich in der Folge zu dem brahmanischen Hinduvolke umgestaltete, was um 600 v. Chr. vollendet sein mochte. Die Religionskriege, welche der Buddhaismus veranlaßte, sind nicht geschichtlich aufgezeichnet; ebenso wissen wir sehr wenig über die Geschichte der einzelnen indischen Reiche, denn O. war niemals vereinigt; die Kämpfe zwischen der Priester- und Kriegerkaste um die Herrschaft sind ebenfalls in den Büchern der Brahmanen nur angedeutet. Die Angriffe von Außen erfolgten in der alten Zeit immer vom Norden her; so fügte Darius Hystaspis die nördl. Gränzländer zum pers. Reiche; Alexander d. Gr. rückte bis an den Hyphasis vor, befuhr den Indus bis zu dessen Mündung, gründete griech. Colonien, und Seleukus Nikator, der griech.-syr. König, machte einen Heereszug bis an den Ganges. In Baktra und dem Pendschab entstand ein griech.-indisches Königreich, das aber durch die Parther von Griechenland abgeschnitten um 146 v. Chr. durch die Scythen unterworfen wurde (Indoscythen). Indessen dauerte immer ein lebhafter Verkehr zwischen dem cultivirten Europa u. O. fort, der durch Alexandrien zur See vermittelt wurde, während eine andere Handelsstraße durch Persien an das schwarze Meer führte, wo die Griechenstädte die Waaren empfingen u. weiter verführten. Beide Handelswege, in die sich im Mittelalter Genua und Venedig theilten, blieben offen, bis sich die Türken des schwarzen Meeres und Aegyptens bemächtigten. Bald nach der Ausbreitung des Islams über das vordere und mittlere Asien begannen auch die Angriffe auf Ostindien (712); von bleibender Bedeutung war aber erst das Reich der aus Turkomanien stammenden Gasneviden, das sich während seiner größten Macht (1028) von Afghanistan und Baktra bis Dekan erstreckte, den Islam und die arab. Kunst und Wissenschaft ausbreitete. Darauf folgten die pers. Ghuriden (1182), der mongol. Sturm, der Zug Timurs, bis Babur Khan, aus Timurs Geschlecht, 1526 den Fürsten von Delhi besiegte, den größten Theil Vorderindiens eroberte und dadurch das Reich des Großmoguls gründete, das Akbar I. (1553–1604) vollendete und Selim I. (1625) sowie Aureng Zeb (1660–1707) nach Art der altpers. Monarchie organisirten. Diese Herrscher ließen die Hindus bei ihrem Götterdienste gewähren, hielten einen gewissen gesetzlichen Zustand aufrecht, beschützten Handel, Gewerbe und Künste, so daß O. ungeheuer (durch die ungehinderte Ausfuhr namentlich) reich war u. in Delhi eine fabelhafte Pracht herrschte. Nach Aurengzeb begann die Serailregierung u. bald machten sich die mohammedan. Statthalter sowie die tributären Hindufürsten unabhängig; Nadir Schah von Persien brach 1739 die Macht des Großmoguls vollständig, so daß die Herrschaft desselben nur mehr ein Schatten, das Reich thatsächlich in eine große Anzahl kleiner Staaten aufgelöst war. Diese Zerrüttung kam den Europäern zu gute; bekanntlich hatte Vasco de Gama den Seeweg von Europa nach O.1498 aufgefunden; die Portugiesen wurden Herren des einträglichen Handels zwischen Europa u. O. u. die damals noch kühne u. hochstrebende Nation hatte bis 1542 ihre Herrschaft über die Küste vom pers. Meerbusen bis Cap Comorin, über einen Theil von Koromandel, Ceylon, Malacca, über einzelne Punkte auf den Sundainseln ausgedehnt u. mit Japan Verbindungen angeknüpft. Die Portugiesen, behaupteten die Alleinherrschaft [428] in den ostind. Gewässern bis die Holländer glücklich gegen Spanien rebellirten u. seit dem Schlusse des 16. Jahrh. die Portugiesen in O. selbst angriffen; 1602 wurde die holländ.-ostind. Compagnie gegründet, welche allen späteren Unternehmungen dieser Art zum Muster diente. Von 1605–1665 nahmen sie den Portugiesen alle Hauptplätze bis auf Goa weg, zogen anfangs ungeheuren Gewinn, verfuhren aber unter allen europ. Nationen am habsüchtigsten und grausamsten gegen die Eingebornen. Mit ihnen concurrirten seit der Errichtung der engl.-ostind. Compagnie, 1600, die Engländer. Anfangs traten diese ziemlich schüchtern auf, wurden von den Holländern aus den Factoreien auf den Inseln verdrängt, erwarben jedoch Madras u. blieben in gutem Einvernehmen mit dem Großmogul, der deßwegen ihren Handel begünstigte. Unter Karl II. erhielt die engl. Compagnie Bombai und fast alle Privilegien, wie sie die holländ. besaß; 1708 vereinigte sie sich mit der rivalisirenden 2. Compagnie, gerieth aber seit 1740 durch den Gouverneur Dupleix der frz. Besitzungen (1665 gründete Colbert eine ostind. Handelsgesellschaft, die im Besitze von Pondichery weite Ausdehnung erlangte) in große Gefahr, und sie hatte ihre Rettung allein der damaligen frz. Regierung u. dem Genie Clives (s. d.) zu verdanken. Clive vernichtete die frz. Macht in Ostindien und eroberte Bengalen; Hyder Ali von Mysore, der die engl. Macht noch einmal in Gefahr brachte, wurde zuletzt doch zum Frieden genöthigt und sein Sohn Tippo Sahib verlor bei einem neuen Kriege zuerst die Hälfte seines Reichs, 1799 das Leben (vgl. Hastings, Hyder Ali, Mysore). Wellesley setzte das von Clive, Hastings und Cornwallis begonnene System, die einheimischen Fürsten zu entwaffnen u. eine engl. Militärmacht auf deren Kosten u. in ihren Ländern zu unterhalten, im großen Maßstabe fort, zertrümmerte von 1803–12 die Macht der Maratten, demüthigte 1813 Nepal u. 1818 die Maratten so vollständig, daß Lord Ellenborough 1843 nur den Scindia (Gwalior) nachzuholen brauchte. 1817 wurde Nepal abermals gezüchtigt, 1821–25 Birma für den Friedensbruch mit ansehnlichen Abtretungen bestraft und es folgte nun eine ziemlich lange Periode der Ruhe. Diese unterbrach 1836 der Feldzug der Perser gegen Herat (s. Afghanistan), der zur Occupation Afghanistans durch ein engl. Heer (1839) u. zu dem wechselvollen Kampfe bis 1842 führte. Der Scindia wurde 1843 unterworfen und im gleichen Jahre das Gebiet der Amirs von Sindh den britischen Besitzungen einverleibt; 1846 begannen die Sikhs ungereizt den Krieg gegen die Engländer, unterlagen aber in blutigen Schlachten (1846) und als sie 1849 sich aufs neue erhoben u. niedergeschmettert wurden, zogen die Engländer ihr Reich zu ihren indischen Besitzungen (s. Sikhs). Die Birmanen nöthigten 1852 die Engländer abermals zum Kriege u. verloren Pegu. So hat sich das engl.-ostind. Reich bereits auch in Hinterindien eine breite Standlinie geschaffen; denn es ist kaum denkbar, daß die halbcivilisirten Nachbarn die engl. Besitzungen in Ruhe lassen werden und eben dadurch nöthigen sie England zu neuen Kriegen und Eroberungen, obwohl dasselbe schwerlich nach andern Ländern in jener Weltgegend Gelüsten hat. (Mill: history of British India, London 1842–45; Fortsetzung von Wilson, London 1816–48.)

Quelle:
Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 426-429.
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