Bibliothekgebäude

[823] Bibliothekgebäude (hierzu die Tafeln »Bibliothekgebäude I-IV«). Die Gesamtplangestaltung eines Bibliothekgebäudes ist abhängig von der Art und Betriebseinrichtung der Bibliothek, die in ihm untergebracht werden soll (s. Bibliothek und Bibliothekwissenschaft). Bei Anlage der wenigen eigens zur Aufnahme und Ausnutzung größerer Büchersammlungen in älterer Zeit errichteten Gebäude, wie z. B. der Bibliothek von San Marco in Venedig, der (ehemaligen) herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel, der königlichen Bibliothek in Berlin, waren ein so stetig immer rascheres Anschwellen der Büchersammlungen und eine dementsprechend immer allgemeinere Benutzung in breitesten Volksschichten nicht zu ahnen, wie sie seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrh. eingetreten sind. Die Bücherräume waren Säle, anderen Wänden die Bücher auf Gerüsten und in Schränken aufgestellt wurden. Zu den obern Bücherreihen gelangte man mit Leitern, die man später durch schmale Galerien ersetzte. Inmitten der Säle standen vereinzelt niedrige, als Auslage- oder Lesetische benutzte Schränke. Hieraus entwickelten sich dann zunächst die Saalbibliotheken. Als hervorragendstes Beispiel einer solchen gilt die Bibliothek Ste. – Geneviève in Paris, durch Labrouste 1849–50 erbaut. Das zweigeschossige Gebäude enthält unten außer den Vor- und Nebenräumen die Magazine für Dubletten, Zeitschriften, Kupferstiche und Handschriften. im Obergeschoß (Tafel III, Fig. 1) den 11 m hohen, auf Eisen überwölbten Bibliotheksaal. Dem Eingange gegenüber sitzen auf einem Katheder die aufsichtführenden Kustoden. Zwischen den Mittelstützen des Raumes sind Büchergerüste eingebaut, umzogen von Brüstungen, die den Zutritt Unbefugter verhindern. In rund 2,5 m Höhe umzieht den Saal an den Außenwänden eine durch kleine Ecktreppen zugängliche Galerie, die ebenfalls mit Büchergerüsten (in Doppelstellung) besetzt ist. In dem verbleibenden Saalraum stehen die Lesetische.

Eine namentlich in England verbreitete Abart der Saalbibliotheken ist der nach dem Alkovensystem eingerichtete Saal, das Saalmagazin. Ein Beispiel gibt die Bibliothek der London-Institution in London (Tafel II, Fig. 5). Die quer gegen die Außenwände gestellten, bis zur Decke reichenden Büchergerüste bilden Kojen (Alkoven), zur Erreichung der obern Bücherreihen dienen Trittleitern; eine in 3,5 m Höhe angeordnete Galerie ist von den kleinen Treppchen außerhalb zugänglich. Die Kabinette in den Ecken dienen zu Sondersammlungen und stillen Studien. In der Mitte der Schmalseiten befinden sich [823] Kamine; vor dem einen sitzt der Aufsichtführende auf einem Katheder, das auch zu Vorlesungen dient (die Lesetische kommen dann in die Alkoven, die Galerie dient den Gästen). Nächste Verwandtschaft mit den Saalbibliotheken zeigen die nur seltenen sogen. Galeriebibliotheken, so genannt nach der gang- (galerie-) artigen Gestalt der Räume, wovon Tafel II, Fig. 3 (Bibliothek des Trinity-College in Cambridge), eins der schönsten Beispiele gibt. Die Saalbibliotheken sind baulich unwirtschaftlich, in der Regel nicht ausdehnungsfähig, lassen sich schwer rein halten, leiden unter der Menschenansammlung im Bücherraum und sind heute dieser Übelstände wegen ganz verdrängt durch die Magazinbibliotheken. Neben dem Lesesaale, der in seiner Anordnung dem Typus der Saalbibliotheken zu folgen pflegt, sowie neben den Räumen für die Verwaltung, den Sälen für Musikalien, Handschriften, Kupfer- und Kartenwerke, besondere Schmuckstücke (Kleinodien) etc. bildet den Hauptbestandteil dieser neuern B. der eigentliche Bücherraum, das Magazin. Dieser durch alle Stockwerke durchgehende Raum wird in Halbgeschosse geteilt, die durch Treppen miteinander verbunden werden. Die Geschoßteilung erfolgt entweder durch bloße, in Abständen von 2,50 m übereinander angebrachte eiserne, zur Durchlassung des Lichtes rostartig durchbrochene, eventuell auch gläserne Galerien oder, besonders in neuerer Zeit, durch vollständige eiserne oder massive Zwischendecken, durch die das ganze Magazin in eine Anzahl niedriger, durch große Seitenfenster zweiseitig erleuchteten Säle zerlegt wird. Durch diese Magazinierung vermeidet man die lästigen und gefährlichen Bücherleitern, da in jedem Halbgeschoß die Bücher vom Fußboden aus in den obersten Reihen mit Hilfe von Auftrittstangen erreicht werden können. Die hölzernen oder eisernen Büchergestelle, mit verstellbaren Brettern versehen, werden senkrecht zu den Längswänden einander parallel und in Abständen von 1 m aufgestellt und müssen die nötige Tiefe haben, um unten in jedem Halbgeschoß die Folianten aufzunehmen.

1. Stellstift. 2. System Roth. 3. Buchhalter.
1. Stellstift. 2. System Roth. 3. Buchhalter.

Die Verstellung der Buchbretter erfolgt mittels Stellstifte verschiedener Form, für die der Stellstift des Britischen Museums (Fig. 1) ein zweckmäßiges Beispiel bietet. Um 180° nach oben drehbar, läßt er eine Verstellung um 1,50 cm zu, die Mittelentfernung der Lochreihen kann also größer sein als sonst (3 cm). Neuerdings sind vielfach Vorrichtungen eingeführt, bei denen das mit Büchern bepackte Brett nach Bedarf höher oder niedriger verlegt werden kann. Eine der meistverbreiteten ist das System Roth (Fig. 2). Um das Umfallen der Bücher in nicht ganz vollgepackten Reihen zu vermeiden, verwendet man Buchhalter aus gestanztem Blech (Fig. 3). Der Transport von einem Geschoß zum andern wird durch Bücherauszüge erleichtert. Die Einrichtung der Magazine wird durch die Innenansichten der Magazine der Universitätsbibliothek in Leiden und der Bibliothek des Britischen Museums in London (Tafel II, Fig. 1 u. 2) veranschaulicht. Beide Magazine sind nur durch Oberlicht erhellt. Leiden ist ein Beispiel für die häufige Anordnung, bei welcher die aus eisernen Schlitzplatten bestehenden Zwischenfußböden an den hölzernen Büchergerüsten einen rund 25 cm breiten ungedeckten Zwischenraum (Kluft) freilassen, durch den der Lichteinfall auf die Bücherrücken äußerst begünstigt wird, und der die Bequemlichkeit bietet, bei Neueinordnungen Bücher durchzulangen. – Zur Bestimmung des Raumbedarfs für die Bücheraufstellung rechnet man 1 qm Gerüstansichtsfläche im Durchschnitt für 100 Bände. Das Durchschnittsgewicht einer laufenden Bücherreihe beträgt 20–25 kg, das Büchergewicht eines 2,5 m hohen, 1 m langen einseitigen Standes im Durchschnitt 200 kg. Auf 1 qm Grundrißfläche der in Abständen von 2,5 m übereinander angeordneten Geschosse müssen bei vollständiger Ausnutzung (unter Abzug der Treppenöffnungen, Lichtschächte, Nebenräume u.) 150 Bände untergebracht werden können.

Als Beispiele baulich hervorragender, nach dem Magazinsystem erbauter B. seien hier angeführt die Universitätsbibliotheken in Kiel, Greifswald, Graz und Leipzig, die Stadt- und Kreisbibliothek in Augsburg, die Landesbibliothek in Stuttgart, die bereits erwähnte Bibliothek des Britischen Museums in London, die Kongreßbibliothek in Washington und die öffentlichen Bibliotheken in Chicago und Boston.

Bei der Kieler Bibliothek (Tafel II, Fig. 4) enthält das Magazin fünf Bücherstockwerke und geht bis ins Dachgeschoß; im Erdgeschoß liegen links neben dem Eingange das Archiv und Räume für Dubletten sowie für Karten und Kupferstiche, im Untergeschoß Heiz- und Nebenräume. Der 1881–84 durch Gropius und Schmieden errichtete Bau faßt 375,000 Bände und genügt dem Anwuchs des Bestandes bis etwa 1930. Seine äußere Ausbildung ist ähnlich der von denselben Architekten erbauten, etwas kleinern Bibliothek in Greifswald (Tafel I, Fig. 2). Die Universitätsbibliothek in Graz (Tafel IV, Fig. 6), 1893–94 durch v. Rezori erbaut, ist über dem hellen Untergeschoß, in das die fünfgeschossigen Magazine hinabreichen, eingeschossig; der Lesesaal ist höher geführt als seine Nebenräume und hat hohes Seitenlicht, daneben wie die Magazine Obert icht. Der Dachraum kann noch als sechstes Bücherstockwerk dienen. Die Universitätsbibliothek in Leipzig (Tafel III, Fig. 2), 1888–91 durch Arw. Roßbach errichtet (s. auch Tafel »Leipziger Bauten«, Fig. 2) und 800,000 Bände fassend, ist eine der wenigen, deren durch gewölbte Betonzwischendecken getrennte, im Lichten 2,4 m hohe Bücherstockwerke äußerlich nicht als Magazine gekennzeichnet sind. Das Erdgeschoß enthält an der Front die Wohnungen der Hausbeamten, im Mittelbau Druckerei, Packräume und Kleiderablagen, unter dem Lesesaal die Heizung, in dem Eckbau links den Münzsaal, in den Seitenflügeln Ausstellungsräume, in den Hinterflügeln und im äußern Rundbau Bücherspeicher. Das Hauptgeschoß ist in den seitlichen und hintern Teilen in zwei Bücherstockwerke zerlegt, das oberste Geschoß dient ganz als Bücherspeicher. Die Stadt- und Kreisbibliothek in Augsburg (Tafel I, Fig. 4; Tafel IV, Fig. 4), 1892–93 durch Steinhäuser und Dülfer erbaut, enthält im Erdgeschoß links Lesesaal und Verwaltung, rechts das Stadt- und Kreisarchiv. Die Seitenflügel bergen je sechs Büchergeschosse. Der Dachraum kann auch als Bücherspeicher dienen. Die Landesbibliothek in Stuttgart (Taf. 1, Fig. 6; Taf. III, Fig. 3), 1882–1884 durch v. Landauer erbaut, zeigt das Magazin und den Verwaltungsbau getrennt; beide sind nur im Obergeschoß (durch die Bücherausgabe) verbunden.[824] Der Hauptbau enthält in dem später eventuell auch der sechsgeschossigen Bücherei zuzuweisenden Erdgeschoß jetzt die Sammlungen vaterländischer Altertümer und Münzen. Durch Flügelbauten kann die Aufnahmefähigkeit auf das Fünffache gesteigert werden. Lesesaal und Magazine haben außer dem Seitenlicht auch Oberlicht. Zur Zeit des Baues enthielt die Bibliothek 428,000 Bände, resp. Nummern, einschließlich Handschriften und Dissertationen. Im Verwaltungsbau sind im Untergeschoß Heizung, Kastellan und Druckerei untergebracht, im Erdgeschoß die Wohnung des Direktors. Die Bibliothek des Britischen Museums in London (Tafel IV, Fig. 5; Tafel III, Fig. 5; Tafel II, Fig. 2) ist von Rob. Smirke 1869 im Hofe des alten Gebäudes in Eisenfachwerk errichtet worden und hat, bis auf den Lesesaal, nur Oberlicht. Beim Eingang liegen einige mit Galerien umgebene Säle für Sondersammlungen. Bemerkenswert ist der schöne Lesesaal mit seinen sternförmig geordneten Lesetischen und seinen beiden ringsumlaufenden Galerien. Die Bibliothek enthielt 1869 ungefähr 750,000 Bände, wovon, ohne die Kataloge, 80,000 im Lesesaal stehen. Die Besucherzahl belief sich 1896 auf 552,000. Der Anwuchs betrug in demselben Jahre rund 76,500 neue Nummern. Der Lesesaal hat einen Durchmesser von 42,7 m und enthält 304 Leseplätze. Die Kongreßbibliothek in Washington (Tafel I, Fig. 5; Tafel IV, Fig. 1–3), das bedeutendste aller derartigen Gebäude, durch P. I. Pelz erbaut, wurde 1898 eröffnet. Der Bau zeigt weitestgehende Ausnutzung. Die an den Lesesaal anschließenden drei Magazinflügel fassen in neun Bücherstockwerken 1,895,400, die Saalnischen in drei Stockwerken 130,000, das Ganze also 2,025,400 Bände. In den nach Alkovensystem mit Galerien nach Bedarf auszubauenden Sälen der äußern Flügel finden weitere 2 Mill. Bände Platz. In ihnen sind besondere Lesesäle eingerichtet für Sonderfachstudien, für die Senatoren, die Abgeordneten und für Blinde. Der große, in reichstem Marmorschmuck prangende Lesesaal bietet Platz für 250 Leser. Der Bibliothekarsitz ist in der Mittel,5 m erhöht, von Schranken umgeben, welche die Laden für die Zettelkataloge enthalten. Im innern Ringe sind die Sprachrohre, gepaart mit Luftdruck- (Rohrpost-) Rohren für die nach den einzelnen Magazinabteilungen zu sendenden Bücherbestellzettel. Hinter dem Aufsichtspult steht die Maschine, die selbsttätig die im Magazin ausgelieferten Bücher heranbringt und sie später wieder dahinschafft. Unmittelbar darunter ist eine zweite derartige Maschine, welche die im schräg gegenüberliegenden Kapitol bestellten Bücher durch einen Tunnel nach dem dortigen Lesesaal schafft. In den Magazinen ist, außer zu den Sitzen, kein Holz verwendet, als Bücherbretter dienen rostförmige Tafeln aus seinem Stahlguß. Die Zwischenböden in den innern Magazinen bestehen aus 6 cm starken weißen polierten Marmorplatten. In den Fensternischen sind Sitze eingerichtet, unter denen das Seitenlicht sehr steil einfällt. In drei Stockwerken sind äußerlich Steingalerien mit Bronzegeländern angelegt, die zur äußern Fensterreinigung, als Feuergänge und zum periodischen Reinigen der Bücher dienen. Zahlreiche große Fahrstühle machen das Gebäude bis in die Dachaufbauten zugänglich, von denen der eine als Restaurant und Café, die andern zur Erweiterung der Sammlungen etc. dienen. Die öffentlichen Bibliotheken in Chicago (Tafel I, Fig. 3) und in Boston (Tafel I, Fig. 1) sind ihrer Innengestaltung nach Volksbibliotheken. Die Fassadenbildung der erstern ist eigenartig, die der zweit genannten ist eine fast getreue Nachbildung von der Bibliothek Ste. – Géneviève in Paris (s. oben, S. 823).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 823-825.
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823 | 824 | 825
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