[903] Chaucer (spr. tschaoß'r), Geoffrey, »der Vater der neuenglischen Dichtkunst«, geb. um 1340 in London als Sohn eines Weinhändlers, gest. 25. Okt. 1400, erhielt eine gute klassische Bildung, konnte höfisches Wesen im Haushalte des Prinzen Lionel lernen, in dem er 1357 als Page bezeugt ist, machte 1359 einen Feldzug gegen Frankreich mit, wobei er in Gefangenschaft geriet, und kam dann als Kammerjunker (valet) zu König Eduard III., der ihm für seine Dienste 1367 eine Pension von 30 Mk. verlieh. In diese Jugendperiode fällt vielleicht eine Übersetzung des »Roman de la rose«, einer allegorischen Schilderung der Liebe, halb pathetisch und halb satirisch, die seine frühesten eignen Dichtungen stark beeinflußt hat. Sein erstes Werk, dessen Entstehungszeit wir genau kennen, ist das »Buch von der Herzogin«, geschrieben, um den Herzog John von Lancaster über den Verlust seiner ersten Gemahlin (1369) zu trösten. Als Muster schwebten ihm eine Elegie von Machault und Ovids »Verwandlungen« vor, in Einzelheiten auch der Rosenroman. Epoche machte dann in seinem Leben und Dichten eine Reise nach Genua, die er 1372 in diplomatischer Sendung unternahm. Die Werke von Dante, Petrarca und Boccaccio wurden ihm jetzt bekannt. Der Gedankenschwung und die Kunst der italienischen Frührenaissance strömten durch seine Vermittelung zuerst in die englische Literatur. Das zeigte sich nach seiner Rückkehr in der »Legende von der heil. Cäcilia«, in deren Einleitung der Lobgesang Dantes auf die Mutter Gottes z. T. aufgenommen ist; in dem Roman »Troilus und Chriseide«, der auf Boccaccios »Filostrato« beruht, die pathetische Liebesgeschichte des Italieners aber ins Humoristische wendet und den hilfreichen Pandarus zum faunischen Kuppler entwickelt; und in dem »Parlament der Vögel«, einem Huldigungsgedicht auf die Hochzeit des jungen Königs Richard II. und der deutschen Kaiserstochter Anna von Böhmen 1382. Daneben entstanden Übersetzungen ernster Betrachtungswerke sowie der »Consolatio philosophiae« von Boëthius. Aber auch launigen Humor entwickelte er in der »Klage des Mars«, worin er einen Skandal im Hause des Herzogs von Lancaster 1379 zu dessen Spaß besang. Deutlich wechselten zwei Stimmungen in ihm: eine mittelalterlich fromme und eine antik freie. Persönlich befand er sich in dieser Zeit in günstigen Verhältnissen; 1374 war er verheiratet mit einer frühern Hofdame im Haus Lancaster, die vom Herzog Johann eine Pension bezog; ihm wurden Vertrauensämter als Vormund und als Gesandter in wichtigen Sendungen (1378 nochmals nach Italien) zugewiesen; überdies fungierte er seit 1374 als Zolleinnehmer im Hafen von London, wobei er freilich mehr zu schreiben hatte, als sich mit seiner Natur- und Bücherliebhaberei vertrug. Das klagte er 1383/84 der Königin in der tiefsinnigen Allegorie »Haus der Fama«, die den Einfluß der »Divina Commedia« am meisten verrät und noch im 18. Jahrh. durch Pope eine Modernisierung erfuhr. In der Tat ward ihm 1385 erlaubt, sich im Amt einen Vertreter zu halten, und hiermit begann seine dritte Periode, in der sich sein Schaffensdrang an große Rahmenerzählungen wagte, die leider unvollendet blieben. Die eine ist die »Legende von guten Frauen«, d. h. von Märtyrerinnen der Liebe aus dem Altertum, die er mit Rücksicht auf seine königliche Gönnerin 1385 zu dichten begann, weil sie es übel vermerkte, daß er namentlich im »Troilus« und in seiner Übersetzung des »Roman de la rose« von den Frauen respektlos geschrieben hatte. Die andre sind die »Canterbury-Geschichten«, sein Hauptwerk. Sie sind ungefähr 30 Pilgern der verschiedensten Stände und Temperamente in den Mund gelegt, die sich auf einer Pilgerfahrt nach Canterbury treffen und auf[903] gute Art die Zeit kürzen. Ein Prolog schildert die Eigenart dieser Pilger mit einer köstlichen Beobachtungsgabe, mit einer echt englischen Mischung von Realismus und Humor, die bis Shakespeare unübertroffen blieb, um dann im neuenglischen Roman wieder eine Auferstehung zu feiern. Die Geschichten selbst sind Erzählern verschiedener Stände und Charaktere in den Mund gelegt: das gestattete gegenüber dem »Decamerone«, dessen fiktive Erzähler gleichförmig sind, einen großen Fortschritt der Charakteristik. Die Stoffe hat C. mit einer reichen Kenntnis der romanischen Novellen- und Schwankliteratur zusammengetragen, z. B. die Griseldisgeschichte aus Petrarca, die schwärmerische Liebe des Palamon und Arcitas für eine und dieselbe Dame aus der »Teseide« des Boccaccio, mehrere derbe Rüpelgeschichten aus französischen Fabliaux. Die Reformbewegung Wiclifs macht sich fühlbar in der sarkastischen Ausmalung des Bettelmönchs, Ablaßkrämers, Nonnenpriesters und Büttels vom geistlichen Gericht, sowie auch in den warm ausgeführten Bildern eines edlen Pfarrers und wahrhaft frommen Ackersmannes. Daß er dies Werk nicht vollendete, hängt wohl mit allerlei trüben Erlebnissen in spätern Jahren zusammen. Nachdem er 1386 als Abgeordneter für Kent ins Parlament eingetreten war, schwankte sein Schifflein im Sturm der Parteien. Er verlor Stellung und Einkünfte, gewann neue, kam in noch schlimmere Verlegenheiten. Einmal sandte er dem König ein Gedicht über seine »Leere Börse«. Er nahm lebhaften Anteil am Niedergang Richards II. und warnte ihn mit dem Gedicht »Beständigkeit«. Als sich 1399 endlich der Sohn des Herzogs Johann als Heinrich IV. auf den Thron schwang, huldigte ihm C. in begreiflicher Weise, und sofort wies ihm der neue König eine Pension von 20 Pfd. Sterl. an. Der Dichter kaufte ein Haus hinter der Westminsterabtei, starb aber bald darauf und fand seine Ruhestätte in der Kirche, die seitdem das Pantheon der englischen Geistesgrößen geworden ist. Eine große Schule eiferte ihm nach, nahm die von ihm eingeführten fünffüßigen Verse an sowie den damit zusammenhängenden Stil, der einen reflektierenden Zug bald mit Erhabenheit, bald mit einem seinen double entendre verbindet, und pflanzte seine Kunst emsig fort bis zur Zeit Spensers und Shakespeares. Auch auf die Entwickelung der neuenglischen Schriftsprache hat er wesentlich mit eingewirkt.
Chaucers Werke sind in vielen Handschriften erhalten. Schon der erste Buchdrucker Englands, Caxton, hat eine Ausgabe der »Canterbury-Geschichten« veranstaltet. Gesamtausgaben besorgten zuerst Thynne 1532, Stowe 1561, Speght 1598 (revidiert 1602). Im 18. Jahrh. lieferte Tyrwhitt einen verhältnismäßig vorzüglichen Text der »Canterbury-Geschichten« samt gelehrten Forschungen über Chaucers Leben, seine Sprache, Metrik und Quellen (1) 75 bis 1778). In den 60er Jahren des 19. Jahrh. wandte sich das öffentliche Interesse in England lebhafter auf ihn; der Abdruck, den Morris von sämtlichen Dichtungen Chaucers 1866 veranstaltete, erfuhr wiederholte Auflagen; namentlich aber schuf Frederick Furnivall in der Chaucer Society 1867 ein Zentrum dieser Studien, begann die Mitteilung aller wertvollen Handschriften und alten Drucke und nahm auch Beiträge von kontinentalen Gelehrten in die Schriften der Gesellschaft auf. Die Ergebnisse solcher Arbeit sind in Skeats großer Ausgabe für die »Clarendon Press« (Oxford 1894, 6 Bde.; dazu ein 7. Bd. mit Dichtungen aus Chaucers Schule, das. 1897) zusammengetragen. Bequeme Handausgaben in 1 Band boten Skeat, The student's C. (Oxford 1895), und Pollard in der »Globe edition« (Lond. 1898). Zu nennen ist noch eine recht lesbare Biographie des Dichters v. Ward in der Sammlung »English men of letters« (Lond. 1879). In Deutschland erschienen zuerst Teilübersetzungen von Kannegießer (Zwickau 1827) und Fiedler (Dessau 1844). Dann gab R. Pauli eine vortreffliche Skizze in seinen »Bildern aus Altengland« (Gotha 1860), Hertzberg eine vortreffliche Übersetzung der »Canterbury-Geschichten« (Hildburghausen 1866), Kißner eine Schilderung seiner Beziehung zur italienischen Literatur (Bonn 1867). Am meisten aber hat bei uns ten Brink für C. getan: er übertrug in den »Chaucer-Studien« (Münster 1870) auf ihn die strenge Methode literarhistorischer Kritik; er schrieb »Chaucers Sprache und Verskunst« (Straßb. 1884) und widmete ihm im zweiten Bande seiner »Geschichte der englischen Literatur« (das. 1889, 2. Aufl. 1899) eine ausführliche und gediegene Darstellung. Ten Brink, John Koch und Zupitza haben auch begonnen, seine Dichtungen in kritisch gereinigter Form nach alten Handschriften herauszugeben. Kleinere Schriften über ihn findet man in Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, Bd. 2, S. 672683 (Straßb. 1892) und jedes Jahr im »Jahresbericht für germanische Philologie« zusammengestellt. Neuere Übersetzungen sind vorhanden von John Koch: »Ausgewählte kleinere Dichtungen Chaucers« (Leipz. 1880), und von A. v. Düring: »Chaucers Werke« (Straßb. 188386, 3 Bde., enthaltend »Das Haus der Fama«, »Die Legende von guten Frauen«, »Das Parlament der Vögel« und die »Canterbury-Geschichten«).
Buchempfehlung
Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?
58 Seiten, 4.80 Euro