Chorāl

[93] Chorāl (Cantus choralis, lat.), der beim christlichen Gottesdienst übliche »Chorgesang«. Er besteht in der katholischen Kirche ursprünglich in dem aus den ersten Jahrhunderten des Christentums stammenden sogen. Gregorianischen Gesang (s.d.) und wird als Concentus unterschieden von dem mehr bloß rezitierenden Accentus (s. Accentus ecclesiastici) der von einem einzelnen Priester vorgetragenen Lektionen etc.

Die ältesten Bestandteile des katholischen Choralgesanges sind der von den Juden übernommene Halleluja- und Psalmengesang, sodann kam zuerst in der griechischen Kirche der Antiphonengesang, der von Ambrosius (gest. 397) in die abendländische Kirche eingeführt wurde; eine Abart desselben, der Gradualgesang, entwickelte sich in der römischen Kirche wohl nur wenig später. Der Hymnengesang ist wahrscheinlich heidnischen Ursprungs und wurde besonders von Ambrosius kultiviert, die Sequenzen brachte das 9. Jahrh. Soweit ist der Kirchengesang durchaus einstimmig, und nur dieser einstimmige ältere, liturgische Gesang wird in der katholischen Kirche C. genannt. Derselbe ist im Laufe der Jahrhunderte leider seiner frühern rhythmischen Beweglichkeit fast ganz verlustig gegangen. Vgl. Neumen. Der neuere Kirchengesang bewahrt denselben C. im Gesange der Priester, während der Chor mehrstimmig gesetzte, ausgeführte Kompositionen derselben Texte mit oder ohne Zugrundelegung alter Choralmotive vorträgt. Wie der reichverzierte Gesang der ältern Zeit, so forderte der seit dem 10. Jahrh. allmählich sich entwickelnde kunstvolle mehrstimmige Satz (vgl. Musik [Geschichte]) wohlgeschulte Sänger, und die Kirche hat es sich daher stets zur Aufgabe gemacht, gute Sänger auszubilden. Bereits Papst Hilarius (5. Jahrh.) soll zu Rom eine Sängerschule gegründet haben, aus der die Kapellsänger der Sixtina hervorgingen; nach ihrem Muster wurden die Gesangschulen zu St. Gallen, Metz, Fulda, Korvei, Mainz, Trier und Hersfeld eingerichtet. Das[93] Volk blieb nach wie vor beim Kirchengesang untätig, um so mehr, damit den Gregorianischen Gesängen auch die lateinische Sprache in den Kirchen des Abendlandes Eingang fand. Bloß das »Kyrie eleïson« und »Christe eleïson« wurden vom Volk mitgesungen. Erst seit dem 12. Jahrh. begann sich in Deutschland aus den Wallfahrts-, Marien-, Oster-, Pfingst- und Bußgesängen ein Gemeindegesang zu entwickeln, der in der Folge durch die Zulassung der Landessprache beim Gottesdienst seine weitere Ausbildung fand.

Der protestantische C. hat eine ganz ähnliche Geschichte wieder katholische. Als es galt, für die junge reformierte Kirche auch frische, nicht an die Erstarrung des römischen Dogmas erinnernde Gesänge zu schaffen, griff Luther zum Volkslied und der damals in hoher Blüte stehenden Komposition mehrstimmiger volksmäßigen Gesänge und nahm dieselben direkt herüber, indem er ihnen geistlichen Text unterlegte. Manche Choräle sind freilich damals gleich für die Kirche komponiert worden, aber doch in derselben Form und auch die Dichtung an das einfache Strophenlied von zwei Stollen und Abgesang anlehnend. Auch wurden einzelne katholische Hymnen ähnlichen Charakters mit herübergenommen. Alle diese Choräle waren von einer prägnanten Rhythmik, sind aber wieder Gregorianische Gesang mit der Zeit zu einer Folge gleichlanger Töne erstarrt. Die Versuche, den ursprünglichen rhythmischen C. wieder aufleben zu lassen, sind bis jetzt gescheitert. Der Umstand, daß noch im Laufe des 16. Jahrh. die Gemeinde anfing, den C. mitzusingen, mag wesentlich mit darauf hingedrängt haben, die Melodie so zu gestalten, daß sie sich für den gemeinschaftlichen Gesang einer großen Menge eignete. Dabei ist es zur Gewohnheit geworden, nach jeder Verszeile einen Halt (Fermate) zu machen und eine längere Pause eintreten zu lassen, die die Organisten durch Zwischenspiele ausfüllen. Die starke Lebenskraft der Melodie der protestantischen Choräle hat späterhin in kunstvollen kontrapunktischen Bearbeitungen (vgl. Choralbearbeitung) der Musik neuen wertvollen Besitz gebracht.

Die geschichtliche Entwickelung des protestantischen Chorals war eine verhältnismäßig schnelle. Luther, selbst Kenner der Tonsetzkunst, verdeutschte und verbesserte mit Hilfe seiner Freunde Walther und Senfl alte lateinische und deutsche Gesänge und dichtete selbst neue. Diese Lieder wurden zuerst nur von Gesangskundigen in der Kirche vorgetragen; nach und nach aber lernte auch das Volk in den Kirchengesang einstimmen. Schon 1524 erschien zu Wittenberg eine Sammlung von Kirchenliedern im Druck. Der Vorrat von Chorälen wurde namentlich durch das »Cantional der Böhmischen und Mährischen Brüder« (hrsg. von Wylmschweerer, Jungbunzlau 1531 und Ulm 1538 u. 1539, enthaltend 136 Lieder mit 111 beigedruckten Melodien) sowie durch die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. von A. Lobwasser in Königsberg nachgedichteten französischen Psalmen Clément Marots und Theodor Bezas, die ebenfalls meist nach Volksweisen gesungen wurden, bereichert. Die eigentliche Blüte des evangelischen Choralgesangs datiert von der zweiten Hälfte des 16. Jahrh. und dauert bis in die ersten Jahrzehnte des 17., wo der französische Geschmack und die Opernmusik einigermaßen Einfluß auf denselben gewannen und ihn eines Teiles seiner alten kirchlichen Würde entkleideten. Zur neuen, wenn auch nur vorübergehenden Hebung desselben hat Seb. Bach wesentlich beigetragen. Als Tonsetzer und Förderer des Choralgesangs seit der Reformation sind besonders zu nennen: Georg Rhaw (Kantor in Leipzig); Martin Agricola (Kantor in Magdeburg); Joh. Kugelmann (Kapellmeister des Herzogs Albrecht von Preußen, 1536); Nikol. Herrmann (Kantor zu Joachimsthal in Böhmen); Nik. Selneccer (Superintendent in Leipzig); Joh. Eccard (Kapellmeister zu Königsberg i. Pr.); Ehrh. Bodenschatz (Pastor in Osterhausen, gest. 1636); Moritz, Landgraf von Hessen; Melchior Frank (Kapellmeister in Koburg); Mich. Altenburg (Pfarrer in Erfurt); Heinrich Albert (Organist in Königsberg); Joh. Krüger (Kantor in Berlin); Johann Georg Ebeling (Musikdirektor in Berlin); Joh. Herm. Schein (Kantor der Thomasschule in Leipzig); Joh. Rosenmüller (Kapellmeister in Wolfenbüttel); Andr. Hammerschmidt (Organist in Zittau); Georg Neumark; Joh. Rud. Ahle (Bürgermeister in Mühlhausen); Joh. Schop (um 1550 Kapellmeister in Hamburg); Jak. Prätorius oder Schulz (1651 in Hamburg); Thom. Selle (1651); Joh. Ulich (1674); Adam Drese (1698). Die Bedeutung Seb. Bachs für den C. wurde bereits hervorgehoben. Nach ihm machten sich sein Sohn Emanuel Bach, Friedr. Doles, Quantz und Adam Hiller sowie J. G. Schicht, namentlich durch Kompositionen Gellertscher Lieder, um Förderung des Choralgesangs verdient. Über Sammlungen protestantischer Choräle s. Choralbuch. – In der reformierten Kirche war Zwingli ohne alles Interesse für Kirchengesang. Dieser kam in der schweizerisch-reformierten Kirche erst zu Calvins Zeit auf, besonders infolge der trefflichen Leistungen Claude Goudimels, der die Psalmen, vierstimmig und motettenartig nach Volksmelodien komponiert, herausgab (1562). In der deutsch-reformierten Kirche ward der Choralgesang von Andr. Lobwasser eingeführt und zwar durch Herübernahme französischer Psalmodien, zu denen später auch Lieder aus der lutherischen Kirche hinzukamen. In der reformierten Kirche Frankreichs erlitten Goudimels Psalmen durch Courart und La Bastide 1679 eine Umarbeitung und fanden in derselben, von Dathen (1566) übersetzt, auch in der niederländisch-reformierten Kirche Eingang. Die englische Hochkirche führte zum Zweck des Gemeindegesangs Psalmen ein, die versifiziert und mit einfachen, aber etwas arienmäßigen Melodien ausgestattet wurden.

Für die katholische Kirche veranstalteten Sammlungen von Liedern der alten Kirche Vehse (Leipz. 1537), Leisentritt (Budissin 1557 u. ö.), später Corner (Wien 1631), G. Kopp (Passau 1659) u. a. Im 18. Jahrh. fand der deutsche Gemeindegesang auch im katholischen Gottesdienst bis zu dem Grade Förderung, daß selbst zur Messe deutsche Lieder gesungen wurden. Auch wurden für die katholischen Gesangbücher teils neue Lieder gedichtet und komponiert, teils viele evangelische, namentlich aus dem Gellertschen Dichterkreis, mehr oder weniger verändert aufgenommen. Deutsche Gesangbücher für die katholische Kirche lieferten namentlich Riedel (Wien 1773), Kohl brenner (Münch. 1777), Werkmeister (Stuttg. 1784, Münch. 1810), v. Wessenberg (Konstanz 1828), Brosig, Haberl, Kienle u. a. In der griechisch-katholischen Kirche Rußlands suchte Jaroslaw 1051 den Kirchengesang durch griechische Sänger zu verbessern. Von dem 1040 gegründeten Höhlenkloster zu Kiew erhielt eine neue Sangweise, die sich vor der eintönigen abendländischen durch Mehrstimmigkeit auszeichnete, den Namen der Kiewschen. Zu dieser kamen 1180 noch die bulgarische und griechische Sangweise hinzu, beide von demselben Charakter wie die Kiewsche. Dem späterhin (1605) durch den tatarischen[94] Usurpator Grischka Otrepiew gemachten Versuch der Einführung des abendländischen Kirchengesangs in die russische Kirche stellte (1656) der Metropolit Nikon von Nowgorod den alten Partiturgesang für sieben Stimmen entgegen, der, durch die Einwirkung italienischer Meister geläutert, noch jetzt in Rußland vorherrschend ist.

[Literatur.] v. Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang (Leipz 1843–47, 3 Bde.); Häuser, Geschichte des christlichen Kirchengesangs und der Kirchenmusik (Quedlinb. 1834); Tucher, Schatz des evangelischen Kirchengesangs im 1. Jahrhundert der Reformation (Leipz. 1848, 2 Bde.); Koch, Geschichte des Kirchenlieds und Kirchengesangs (3. Aufl., Stuttg. 1866–76, 8 Bde.); Wetzstein, Das deutsche Kirchenlied im 16., 17. und 18. Jahrhundert (Neustrelitz 1888); Fischer, Kirchenlieder-Lexikon (Gotha 1879, Suppl. 1886); Wolfrum, Die Entstehung und erste Entwickelung des deutschen evangelischen Kirchenliedes in musikalischer Beziehung (Leipz. 1890); Schöberlein, Schatz des liturgischen Chor- und Gemeindegesanges (Götting. 1865–72, 3 Bde.); Kümmerle, Enzyklopädie der evangelischen Kirchenmusik (Gütersl. 1883–93, 3 Bde.); I. Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirche aus den Quellen geschöpft (das. 1887–93). – Über den katholischen Choralgesang: Haberl, Magister choralis (12. Aufl., Regensb. 1899); Kienle, Choralschule (3. Aufl., Freiburg 1899); Pothier, Der gregorianische C. (deutsch von Kienle, Tournai 1881); Schlecht, Geschichte der Kirchenmusik (Regensb. 1871); Katschthaler, Geschichte der Kirchenmusik (das. 1893); Kornmüller, Lexikon der kirchlichen Tonkunst (2. Aufl., das. 1891–95, 2 Tle.). Vgl. ferner Bollens, Der deutsche Choralgesang der katholischen Kirche (Tübing. 1851); Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen (Freiburg 1883–91, 3 Bde.); Kehrein, Kirchen- und religiöse Lieder aus dem 12.–15. Jahrhundert (Paderb. 1853); Derselbe, Katholische Kirchenlieder aus den ältesten Gesang- und Gebetbüchern (Würzb. 1859–63, 3 Bde.); Gärtner, Te Deum laudamus! Katholisches geistliches Liederbuch aus allen christlichen Zeiträumen (Wien 1855–1857, 3 Bde.); G. M. Dreves, Analecta hymnica (Leipz. 1886–1903, Bd. 1–41); P. Wagner, Einführung in die gregorianischen Melodien (Freiburg [Schweiz] 1901ff.); Molitor, Die nach-tridentinische Choralreform zu Rom (Leipz. 1900–1902, 2 Bde.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 93-95.
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